"Priester in Technicolor": Das Kapitel von St. Peter im Vatikan
Vom Bruch mit der Tradition war die Rede. Von Einmischung von außen. Andere schrieben von einem reformwütigen Papst und düpierten Hausherren. Um wen ging es? Um das Kapitel von St. Peter. Um wen? Wer damit erst einmal nichts anfangen kann, ist nicht allein. Denn dieses Priesterkollegium gehört zu den unbekanntesten der römischen Kirche. Nicht, dass es sich um einen innerkirchlichen Geheimbund handeln würde. Im Gegenteil, die Geistlichen versehen ihren Dienst vor aller Augen – trotzdem geben sie selbst Vatikankennern bis heute noch das ein oder andere Rätsel auf.
Wer im kirchlichen Kontext heute "Kapitel" sagt, meint damit meist das Domkapitel eines Bistums. Das sind Priester in diözesanen Führungspositionen, die den Bischof bei seiner Arbeit unterstützen und sich als eigene rechtliche Körperschaft um Erhalt und Liturgie der Bischofskirche kümmern. Doch auch wenn die Bezeichnung "Petersdom" im Deutschen zu einer irrigen Annahme verleiten mag: Die Basilika St. Peter ist keine Kathedrale. Sitz des Bischofs von Rom ist seit alters her die Lateranbasilika – und hier findet sich das Domkapitel der römischen Diözese.
Auch äußerlich unterscheiden sich die Kapitelherren von St. Peter von den Mitgliedern der Domkapitel nördlich der Alpen: Wenn sie in langer Prozession in die Petersbasilika einziehen, tragen sie die Chorkleidung der Apostolischen Protonotare, sagt der Vatikanist Ulrich Nersinger. Diese besteht aus einer fuchsiafarbenen Soutane samt Zingulum, einem weißen Rochett mit engen Ärmeln und der Mantelletta, einem ebenfalls fuchsiafarbenen knielangen und ärmellosen Übergewand. Dazu tragen sie ein schwarzes Birett mit blutroter Quaste. Im Alltag sind sie etwas schwieriger zu erkennen: Die Knöpfe ihrer Soutane sind rubinrot und ihr Zingulum hat einen etwas anderen Violett-Farbton als das der Bischöfe und Domkapitulare.
Überbleibsel einer alten Tradition
Aber wenn sie keine Domherren sind, was sind sie dann? Neben dem Domkapitel an der Lateranbasilika gibt es in Rom noch drei weitere Kapitel. Das an St. Peter, eines an Santa Maria Maggiore und eines an St. Paul vor den Mauern. Früher gab es ähnliche Gemeinschaften von Klerikern an vielen Kirchen in Europa, insbesondere im Heiligen Römischen Reich. Doch nur wenige haben Reformation und Säkularisation überlebt. Nördlich der Alpen zeugen zum Beispiel die Kapitel an St. Rupertus in Altötting und an St. Remigius im münsterländischen Borken von dieser langen Tradition.
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Deren Ursprung liegt in den monastischen Gemeinschaften, die sich im Frühmittelalter an den Kirchen bilden, die über den Gräbern von Märtyrern und wichtigen Heiligen errichtet wurden. Sie verrichten dort – dem Apostelwort "Betet ohne Unterlass" (1. Th 5,17) folgend – das tägliche Chorgebet. Der Historiker Jochen Johrendt zählt in seinem Buch "Die Diener des Apostelfürsten" für Alt-St. Peter gleich vier sogenannte Basilikalklöster, die sich um die Apsis der Peterskirche herumgruppieren. Viele dieser Gemeinschaften werden im Laufe der Zeit durch die kontemplativen Orden abgelöst. So wird die Basilika St. Paul vor den Mauern bis heute von den Benediktinern betreut, die Mönche stellen hier das Kapitel. An St. Peter geschieht diese Transformation nicht so deutlich, hier leben Mönche und Priester lange Zeit nebeneinander.
Das ändert sich erst im Fahrwasser der Reformpäpste im 11. Jahrhundert. Das Mönchtum wird zurückgedrängt, die Gemeinschaften wandeln sich zu Kanonikerkapiteln. Das kirchenlateinische "canonicus" bedeutet "regelmäßig" und wird zur Bezeichnung für Kleriker, die sich dem täglichen Stundengebet verpflichtet haben. Der Unterschied zu den Mönchsorden liegt darin, dass die Kanoniker nicht in Klausur leben und sich auch außerhalb ihres Klosters um die Seelsorge kümmern. Diese Klerikergemeinschaften unterteilt man in zwei Gruppen. Die einen unterwerfen sich der Regel des heiligen Augustinus und leben ohne eigenes Vermögen gemeinschaftlich zusammen. Deshalb nennt man sie regulierte Chorherren oder Regularkanoniker. Ein Beispiel dafür ist sind die regulierten Domkapitulare der Lateranbasilika. Die anderen lösen sich von der klösterlichen Lebensweise und erlauben in ihren Statuten, dass ihre Mitglieder eigenen Besitz behalten dürfen. Die Kapitel von St. Peter und Santa Maria Maggiore fallen in diese Kategorie der sogenannten Kollegiatstifte, ihre Mitglieder sind unregulierte Chorherren oder Säkularkanoniker.
Gefälschte Gründungsurkunde
Die Basilikalklöster um Alt-St. Peter sind sehr alt. Auch das Kapitel von St. Peter ist sehr alt. Doch die Frage, wann genau die vier klösterlichen Gemeinschaften zu einem einzigen Kapitel fusioniert wurden, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Oft wird als erstes fassbares Datum für das Kapitel der 1. April 1053 genannt. Das bezieht sich auf die letzte von drei Urkunden, mit denen Papst Leo IX. bestehende Privilegien der Klöster bestätigt. Hat er in den ersten beiden Dokumenten noch jeweils die einzelnen Klöster adressiert, spricht er im dritten plötzlich von einem einzigen Kapitel. Historiker Johrendt konnte jedoch nachweisen, dass es sich bei diesem letzten Dokument vom 1. April um eine Fälschung späterer Jahrhunderte handeln muss. Der Wandel vollzieht sich seiner Meinung nach also ohne klares Datum im Verlauf des 11. und 12. Jahrhundert. Immerhin, seit 1128 taucht der Titel Kardinalerzpriester auf. Ein Purpurträger mit diesem Titel steht bis heute dem Kapitel von St. Peter vor. In seiner Person vereinigt sich die Leitung des Kapitels, das sich um die liturgischen Abläufe in der Petersbasilika kümmert, und die der Dombauhütte von St. Peter, die für den baulichen Erhalt des Gotteshauses zuständig ist. Seit dem 29. März 2021 hat Kardinal Mauro Gambetti dieses Amt inne.
Ein Amtsvorgänger Gambettis, der die Geschichte des Kapitels entscheidend beeinflusst hat, ist Giangetano Orsini. Er reformiert 1277 als Kardinalerzpriester und 1279 als Papst Nikolaus III. die Statuten des Kapitels. Grund dafür sind die wachsenden Pilgerströme zum Apostelgrab. Orsini will deren sakramentale Versorgung sichern. Außerdem braucht es fähige Theologen für die Predigten, denn deren Bedeutung hat im Laufe des Mittelalters zugenommen. Deshalb legt er genau fest, wie ein Kleriker am Gottesdienst teilnehmen muss – und was ihm für eine Strafe blüht, wenn er seine Pflichten nicht erfüllt. Vor allem vergrößert er das Kapitel stark auf 30 Kapitelherren und 30 Benefizianten. Letztere waren Geistliche, die sich um die täglichen Liturgien kümmerten, ohne als Mitglied des Kapitels stimmberechtigt in dessen Versammlung zu sein. Johrendt spricht deshalb von "Kanonikern 2. Klasse". Bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts wächst das Kapitel noch auf insgesamt 83 Männer an.
So viele Chorherren sind es heute längst nicht mehr. Waren es früher vor allem zweit- oder drittgeborene Söhne des römischen Stadtadels, die Kanonikerposten besetzten, ist das Kapitel heute eine sehr internationale Runde. Bei ihren Mitgliedern handele es sich überwiegend um langgediente Kurienmitarbeiter, die nicht anderweitig in der Kurienhierarchie aufgestiegen sind, sagt Max-Eugen Kemper. Der Deutsche war von 2003 bis 2018 Koadjutor im Peterskapitel. Die Klasse der Benefizianten ist mittlerweile abgeschafft worden, stattdessen gibt es im Kapitel heute zwischen 28 und 34 Kanoniker und 17 Koadjutoren. Kemper beschreibt die Koadjutoren als "Messdiener des Kapitels", dabei sind auch sie Geistliche – und auch ihr Dienst ist eine große Ehre. Denn sowohl Kanoniker als auch Koadjutoren werden direkt vom Papst ernannt.
Die Hausherren der Peterskirche
Seit Orsinis Tagen haben sich die Aufgaben des Kapitels kaum verändert. Sie – und nicht der Papst – sind Hausherren der Petersbasilika und organisieren alle liturgischen Feiern, die in ihr stattfinden. Das sind nicht nur die großen Papstmessen, es geht um jede Rosenkranzandacht. Papst Benedikt XVI. nannte die Kapitelherren von St. Peter in einer Ansprache 2007 "berufliche Beter". Denn die Kanoniker organisieren nicht nur, sie feiern auch einen großen Teil der Gottesdienste über dem Grab des Apostelfürsten. Im Wechsel seien sie für die täglichen Gottesdienste eingeteilt, erzählt Kemper. Täglich gibt es um 9.30 Uhr die Laudes mit anschließender Messe, dann dürfen einige Touristen- oder Pilgergruppen in den verschiedenen Kapellen der Kirche um 11.00 Uhr Gottesdienste feiern, um 16.30 Uhr folgt dann die Vesper. Sonntags müssen alle kommen, die kommen können. Außerdem betreuen die Kanoniker noch einige Kirchen im römischen Stadtteil Borgo, sind für die Seelsorge in Krankenhäusern eingeteilt oder unterstützen diese finanziell.
Der Dienst der Kanoniker ist schon immer ein ehrenvoller und wichtiger. Früher hatte er sogar einige kirchenpolitische Bedeutung. Erzpriester Orsini ist nicht der einzige Pontifex, der aus dem Kapitel stammte. Insgesamt waren es elf Päpste, zuletzt wurde mit Pius XII. 1939 ein Peterskanoniker zum Papst gewählt. Eine wichtige Rolle spielt außerdem ein ganz besonderes Privileg: Historiker Johrendt schreibt, dass es im Mittelalter einzig den Kanonikern zukam, die Pallien vor ihrer Verleihung an neugewählte Erzbischöfe während einer Vigil auf das Petrusgrab zu legen und sie so zu einer Sekundärreliquie zu machen. Dieses Privileg brachte Papst Innozenz II. mächtig in Bedrängnis. Denn während des Innozenzianischen Schismas in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts konnte er durch die Unterstützung des deutschen Königs Lothar III. den Großteil Roms kontrollieren – doch ausgerechnet die Peterskirche blieb fest in der Hand der Partei des Gegenpapstes Anaklet II. Das führte tatsächlich dazu, dass Innozenz die Pallien ausgingen. Erst nach dem Tod Anaklets 1138 und der Vermittlung durch Bernhard von Clairvaux wurde ihm wieder Zugang zu St. Peter und damit zu den Pallien gewährt.
Johrendt schreibt davon, dass die Pallienzeremonie auch heute noch durchgeführt werde. Doch weder Nersinger noch Kemper sind sich so sicher, ob dafür immer noch ausschließlich die Kanoniker zuständig sind. Es sei seit den Reformen des 20. Jahrhunderts häufiger zu Veränderungen bei den liturgischen Aufgaben gekommen, sagt Kemper. Die meisten Privilegien seien abgeschafft worden. Und das ist der Punkt, an dem es – vorsichtig gesagt – unübersichtlich wird. Vatikanist Nersinger sagt: "Nichts in Rom ist einfach oder logisch." Doch auch das, was unter vergangenen Päpsten als sicher galt, sei mit Franziskus' Pontifikat komplizierter geworden.
Die Pallien sind das eine, der traditionelle Segen mit dem Schweißtuch der Veronika das andere. Am Passionssonntag segnen Peterskanoniker die Gläubigen traditionell von der Loggia des Veronikapfeilers im Petersdom aus mit dieser Reliquie, die eins der Herzstücke des vatikanischen Kirchenschatzes ist. Doch in diesem Jahr blieb der Segen zum zweiten Mal in Folge aus. Weil der seit dem Frühmittelalter hier verehrte Stoff in den Wirren des "Sacco di Roma" 1527 verschwunden und danach auf wundersame Weise wieder aufgetaucht sein soll, ist heute fraglich, ob es sich noch um das Original handelt. Bestätigt das Ausbleiben nun die Zweifel an seiner Echtheit?
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Das Peterskapitel im Visier des Papstes?
Dann das kürzlich ausgesprochene Verbot von Privatmessen im Petersdom und die Reduzierung der Messe in der Außerordentlichen Form des Römischen Ritus: Ein Dokument ohne Protokollnummer, nur mit dem Kürzel eines Stellvertreters unterschrieben und dann auch noch aus dem Staatssekretariat – was überhaupt keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Hausherrn, dem Kapitel, hat. So etwas hätte es früher nicht gegeben, sagt Nersinger. Das Dokument halte er für "sehr seltsam". Ob Priester also wirklich daran gehindert werden, frühmorgens allein die Messe zu feiern, ist mehr als fraglich.
Und schließlich die Hausherren, denen der Zutritt zu ihrem eigenen Gotteshaus verweigert wurde: "Heute dürfen die Kanoniker die Basilika nicht betreten. Anweisung von oben." Das soll den Kanonikern gesagt worden sein, als sie Anfang Mai zur Eröffnung des Gebetsmonats mit Papst Franziskus im Petersdom erscheinen wollten. So berichtet es zumindest Franca Giansoldati, die Vatikanjournalistin der italienischen Tageszeitung "Il Messaggero". Ihr zufolge habe sich Papst Franziskus bereits vor einigen Jahren über die Kapitelherren gewundert. Wer seien denn diese "Priester in Technicolor" soll er gefragt haben. Man könnte das damit erklären, dass die fuchsiafarbenen Gewänder außerhalb der römischen Papstbasiliken durchaus ein äußerst rarer Anblick sind. Giansoldati schreibt jedoch davon, dass Franziskus nach der Kurie nun auch im Kapitel "ein wenig Ordnung schaffen" wolle.
Steht die lange Tradition der römischen Kapitel nun also vor ihrem Ende? Dazu lässt sich schwer Genaues sagen. Bei Franziskus sei "alles etwas in der Schwebe", sagt Nersinger. Nur weil der gegenwärtige Pontifex einen bestimmten Brauch nicht praktiziere, bedeute das nicht, dass dieser gleich offiziell abgeschafft sei. Es könne sich auch um eine Unterbrechung handeln. Dem nächsten Nachfolger des Apostelfürsten steht es dann frei, diesen wieder aufzunehmen oder weiter ruhen zu lassen.
Was die "Anweisung von oben" Anfang Mai angeht, kann man mittlerweile beruhigen. Es lag an der wegen der Pandemie streng begrenzten Teilnehmerzahl und missglückter Kommunikation. Die Organisatoren der Andacht hatten schlicht nicht erwartet, dass einige der betagten Kapitelsmitglieder tatsächlich persönlich erscheinen wollten und zu wenig Stühle aufgestellt. Es kam jedenfalls zu keinem Eklat, die Kanoniker haben die Andacht dann digital verfolgt. Wie es um den Rest der offenen Fragen steht, wird die Zeit zeigen. Bis dahin beten die Kanoniker erst einmal weiter. Denn das Wichtigste ist, dass über dem Felsen, auf den Christus seine Kirche bauen wollte, ohne Unterlass und regelmäßig gebetet wird.