Serie: Ein Gott, zwei Religionen – Christentum und Islam – Teil 5

Beten, Fasten, Pilgern – Glaubenspraxis von Muslimen und Katholiken

Veröffentlicht am 19.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Ein Glaubensbekenntnis, man soll Almosen geben und die Gemeinde versammelt sich an einem Tag zum gemeinsamen Gebet: Auf den ersten Blick kommt Christen die muslimische Glaubenspraxis durchaus bekannt vor – doch es gibt zentrale Unterschiede.

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Eines Tages sei ein mysteriöser Fremder auf den Propheten zugetreten und habe ihm gesagt: "O Mohammed, berichte mir über den Islam!" Und der Angesprochene soll mit folgendem Satz geantwortet haben: "Islam bedeutet, dass du bekennst, dass es keinen Gott außer Gott gibt und Mohammed der Gesandte Gottes ist, dass du das Gebet verrichtest und Almosen gibst, dass du das Fastengebot hältst und zum Haus deines Gottes pilgerst, wenn Du dazu in der Lage bist." Und auf diesem Satz fußt die gesamte muslimische Glaubenspraxis bis heute.

Der Austausch zwischen Mohammed und dem Fremden ist Teil des Gabriel-Hadith. Hadithe (wörtlich "Erzählung", "Überlieferung") sind Sammlungen von Aussagen oder Handlungen des Propheten. Neben dem Koran, der nach dem Glauben der Muslime wortwörtlich Gottes Offenbarung ist, haben die Hadithe einen hohen Stellenwert im Islam – je nach Strömung wird ihnen normativer Charakter zugestanden und ihr Studium gehört zu den zentralen Betätigungsfeldern muslimischer Theologen.

Der Gabriel-Hadith soll auf die Überlieferung Umar ibn al-Chattabs zurückgehen, eines Schülers Mohammeds und der zweite Kalif des jungen Islamischen Reiches. In Dialogform behandeln der Prophet und der Fremde Kerninhalte des muslimischen Glaubens. Am Ende geht der Fremde seines Weges und Mohammed verrät seinem Schüler al-Chattab, dass es sich um den Erzengel Gabriel gehandelt habe – so kam der Hadith zu seinem Namen. Dieser Text, fast eine Art kleiner Katechismus in Erzählform, definiert erstmalig die muslimische Gebetspraxis. Natürlich werden einige Inhalte bereits im Koran an verschiedenen Stellen angedeutet, doch hier gibt Mohammed eine konkrete Aufzählung ab, die in allen muslimischen Strömungen bis in die Gegenwart Widerhall findet.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Glaubensbekenntnis, fünfmaliges Pflichtgebet, Almosengeben, Fasten und – sofern gesundheitlich und wirtschaftlich möglich – die Wallfahrt nach Mekka: Diese Pflichten werden von allen Strömungen des Islam anerkannt, sie gelten für alle Muslime. Man nennt sie auch die "fünf Säulen" des Islam. Christen, zumal Katholiken dürften die muslimischen Glaubensgebote durchaus bekannt vorkommen. Und in der Tat lassen sich einige Gemeinsamkeiten ausmachen – doch an zentralen Stellen gibt es Unterschiede.

Verglichen mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis, das von den christlichen Kirchen des Westens gebetet wird, ist das "Shahada" genannte muslimische Glaubensbekenntnis recht kurz: "Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist." Die sich auf den Schwiegersohn Mohammeds und seine Nachfolger berufenden Schiiten fügen noch den Zusatz "Ali ist der Freund Gottes" hinzu. Alle Muslime bekennen sich mit dieser Formel zum Monotheismus. Der erste Teil des Glaubensbekenntnisses gilt als "kosmische Wahrheit": Gott ist ein einziges, unteilbares Wesen. Hiermit grenzen sich Muslime auch vom christlichen Verständnis von einem Gott in drei Personen ab.

In Innenraum der römischen Moschee
Bild: ©KNA (Archivbild)

In Innenraum der römischen Moschee.

Nach der "kosmischen Wahrheit" gilt der zweite Teil der Bekenntnisformel als für den Islam spezifische Wahrheit. Der Gläubige erkennt Mohammed als Gesandten Gottes an. Damit legitimiert er das durch den Propheten im Koran offenbarte Wort Gottes. Gleichzeitig bestätigt er Mohammed als Teil und letztes Glied der langen Kette der Propheten des Judentums und Christentums, da Jesus Christus im Islam nicht als Erlöser, sondern ebenfalls als Prophet angesehen wird. Um Muslim zu werden, bedarf es keines Rituals, das der Taufe vergleichbar wäre. Wer das Glaubensbekenntnis aufrichtig rezitiert, gilt als Muslim.

Beim Thema Gebet zeigt sich der zentrale Unterschied zwischen christlicher und muslimischer Auffassung: Im Christentum gibt es keine allen Gläubigen gleichsam vorgeschriebenen Gebetszeiten oder -formen. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich verschiedene Traditionen gebildet, wie das dreimal tägliche Angelusgebet, das Rosenkranzgebet oder das Stundengebet, das Kleriker und geistliche Gemeinschaften verrichten. Generell hat der einzelne Gläubige jedoch einen großen eigenen Ermessensspielraum, sein Glaubensleben zu gestalten – inspiriert und herausgefordert durch das Bibelwort "Betet ohne Unterlass" (1Th 5,19).

Rechte Praxis und rechte Lehre

Während für Christen Inhalte der Lehre, wie etwa die Nächstenliebe, entscheidend sind und die Gebetspraxis eher unter persönliche Frömmigkeit oder Brauchtum fällt, ist das im Islam anders: Hier spielt die richtige Gebetspraxis eine wichtigere Rolle als die rechte Lehre. Natürlich unterschlägt kein gläubiger Muslim die Inhalte der "Shahada", doch geht es ihm sehr viel mehr darum, dass er die Glaubenspraktiken treu befolgt – und dass andere Angehörige der Glaubensgemeinschaft dies mitbekommen. Religiöse Gebote, die auch über die fünf Säulen hinausgehend das Leben der Muslime regulieren, haben große Bedeutung: Wer sich an alle Regeln hält, hat nach dem Tod gute Chancen auf einen sofortigen Einzug ins Paradies.

Das Pflichtgebet ist dementsprechend ein wichtiger Teil dieser regulierten, "richtigen" Glaubenspraxis: Fünfmal sollte ein Muslim am Tag beten. Vor Sonnenaufgang, am frühen Vormittag, am Mittag, vor Sonnenuntergang und vor Mitternacht. In Ausnahmefällen, etwa auf Reisen, ist es dem Gläubigen gestattet, das Mittags- und das Nachmittagsgebet sowie das Abend- und Nachtgebet zusammenzulegen, sodass nur dreimal täglich gebetet werden muss. Muslime verrichten das "Salat" genannte Pflichtgebet in Richtung Mekka, dem Standort der Kaaba. Imam und Gemeinde rezitieren bestimmte Gebete und Koranverse, wobei sie genau festgelegte Bewegungsabfolgen – Stehen, Knien, sich Niederwerfen, sich zum linken und rechten Nachbarn wenden – ausführen.

Die Gebete für die entsprechende Tageszeit laufen jeden Tag exakt gleich ab, nur freitagmittags ist alles ein bisschen anders. Während die restlichen Gebetszeiten der Woche in einer kleinen Moschee oder auch Zuhause verrichtet werden können, sind Männer und Jungen ab der Pubertät verpflichtet, sich am Freitag in einer großen Moschee zu versammeln. Für Frauen ist der Besuch des Freitagsgebetes empfohlen. Der zentrale Unterschied zum Mittagsgebet an anderen Tagen ist die "Chutba" oder Freitagspredigt, die vor dem eigentlichen Gebet gehalten wird. Der Imam oder ein anderer Redner spricht dabei über ein Thema seiner Wahl, oft mit aktuellem Bezug, und gibt den Gläubigen Ratschläge für ein gottgefälliges Leben.

Bild: ©stock.adobe.com/Myvisuals (Symbolbild)

Ein Muslim betet in einer Moschee.

Nach muslimischem Verständnis ist der Freitag kein besonderer Tag an sich, erst das gemeinschaftliche Gebet verleiht ihm einen herausgehobenen Charakter. Deshalb fällt ein Vergleich mit dem Sonntag der Christen schwer. Natürlich versammeln sich im Islam wie im Christentum die Gläubigen zum Gebet. Doch während in einer katholischen Messe Jesus Christus in der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig ist, steht beim Freitagsgebet das Rezitieren der Koranverse durch die Gemeinde im Vordergrund – das Wort "Koran" heißt übersetzt "Lesung", "Rezitation". Der Islam kennt nicht nur keine Sakramente, auch ein Priestertum wird abgelehnt: Der Imam ist zwar besonders ausgebildet, aber Laie wie alle anderen auch, er nimmt bloß die Rolle des Vorbeters ein.

Der Freitag als Sonntag der Muslime?

Zudem ist der Freitag für Muslime traditionell kein arbeitsfreier Tag, im Gegenteil. Im Medina der Zeit Mohammeds war der Freitag der wohl geschäftigste Tag der Woche: Weil dort zwei große jüdische Stämme lebten, war der Tag vor dem Sabbat Markttag, an dem viele Leute in der Stadt und auf den Straßen waren. Diesen Umstand nutzte Mohammed, um am Freitag vor einer größtmöglichen Zahl seiner Anhänger Recht zu sprechen und Anweisungen für ein gottgefälliges Leben zu geben. Daraus entwickelte sich das Freitagsgebet, das diesen gemischten Charakter aus Gebet und Auslegung der religiösen Gesetze auch heute noch besitzt.

Während der Stunde des Freitagsgebets hat der gläubige Muslim alle Arbeit ruhen zu lassen. Ist die Stunde des Betens jedoch vorüber, so heißt es im zehnten Vers der Sure 62, "dann könnt ihr euch nach Lust im Land umher zerstreuen und dürft Reichtum von der Gnade Allahs zu erlangen suchen". Weil der "Tag der Versammlung" eben mit dem Markttag auf den gleichen Tag fiel, mussten das Tagewerk der Menschen und der Handel vor und nach dem Gebet möglich bleiben. Den Charakter eines Ruhetages hat der Freitag erst durch den Einfluss des arbeitsfreien Sonntags der westlichen Gesellschaften erhalten. Der katholische Theologe Hans Zirker schreibt in einem Artikel dazu: "In Anlehnung an ihn und gleichzeitig in der Absicht, sich von ihm abzusetzen, haben die meisten islamischen Staaten den Freitag als einen von öffentlicher Arbeit entlasteten Tag eingeführt."

Unter einer weiteren der fünf Säulen, dem "Zakat", verstehen die Muslime die Abgabe eines bestimmten Teils ihres Besitzes zugunsten anderer Muslime. Empfänger sind hauptsächlich Arme und Bedürftige, aber auch Menschen, die für den Islam gewonnen werden sollen, Verschuldete und Reisende. Die Aufforderung, Almosen zu geben, wird im Koran etwa damit untermalt, dass derjenige, der gibt, sich dadurch läutert und nicht im Höllenfeuer landet. Am Ende des Ramadan gibt es einen besonderen Zakat. Auch im Christentum gibt es den Gedanken, bedürftige Menschen durch Geld- und Sachspenden zu unterstützen – hier gilt er jedoch ungeachtet der Religionszugehörigkeit für alle Menschen. Die Nächstenliebe predigt Jesus in der Bibel sehr prominent, etwa wenn er von den Sieben Werken der Barmherzigkeit spricht, wie Nackte bekleiden, Kranke besuchen und mit Hungernden Essen teilen. Insbesondere während der Fastenzeit und im Advent sind Christen dazu aufgerufen, Almosen zu geben.

Fasten und Spenden gehen zusammen

Auch im Islam hängen Almosengeben und Fastenzeit zusammen. Das Fasten, "Saum" genannt, ist die vierte Säule des Islam und findet während der 30 Tage des neunten Monats des muslimischen Mondkalenders "Ramadan" statt. In dieser Zeit gedenken Muslime der Offenbarung des Korans durch Gott an die Menschen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang darf nicht gegessen, getrunken oder geraucht werden. Erst abends geschieht das sogenannte Fastenbrechen, eine oft opulente Mahlzeit im Kreise der Familie, die besonders zelebriert wird. Vom Fasten ausgenommen sind kleine Kinder, kranke Menschen, stillende Frauen und Reisende. Am Ende des Ramadans steht "Eid al-Fitr" ("Fest des Fastenbrechens", im türkischen Kontext auch "Zuckerfest" genannt), das das höchste muslimische Fest darstellt und an dem ein besonderer "Zakat" entrichtet wird.

Die Kaaba in Mekka ist das zentrale Heiligtum des Islam und Ziel der Pilgerfahrt Haddsch.
Bild: ©adobestock/Mohd

Die Kaaba in Mekka ist das zentrale Heiligtum des Islam und Ziel der Pilgerfahrt Haddsch.

Christen kennen Fastenzeiten vor den kirchlichen Hochfesten Weihnachten und Ostern. In dieser Zeit versuchen sie sich durch Fasten und Gebet auf die Feier der Geburt und Auferstehung Christi vorzubereiten. Früher galten Mittwoch und Freitag noch als Fasttage, da an ihnen dem Verrat und der Kreuzigung gedacht wurde – dieser Brauch wird jedoch von der Mehrheit der Katholiken nicht mehr praktiziert. Fastenimpulse orientieren sich heute auch nicht mehr ausschließlich an Nahrungs- und Genussmitteln. Längst gibt es Aktionen, die Auto-Fasten oder Smartphone-Fasten propagieren.

Beide Religionen teilen die Tradition der Wallfahrt, wenn auch mit je verschiedenem Fokus: Der "Haddsch" ist die Pilgerfahrt nach Mekka, die alle Gläubigen einmal im Leben unternehmen sollen. Sie ist religiöse Pflicht, doch nicht für alle Muslime. Im Vers 97 der dritten Koransure werden Männer und Frauen dazu aufgerufen, "sofern sie dazu Möglichkeit finden". Wer also in Armut lebt oder zu krank ist, muss nicht zur "Kaaba" wallfahrten. Die "Kaaba" (wörtlich "Würfel") ist das zentrale Heiligtum der Muslime. Das "Haus Gottes" soll von Adam errichtet und nach der Zerstörung durch die Sintflut von Abraham und seinem Sohn Ismael wiederaufgebaut worden sein.

Heiligenverehrung – auch im Islam ein Streitthema

Neben dem Haddsch unternehmen die Angehörigen der jeweiligen Strömungen des Islam noch weitere, meist kleinere Wallfahrten. Während strenggläubige wahhabitische Saudis oder Salafisten eine Heiligenverehrung kategorisch ablehnen, wird sie im Sufismus, einer mystischen Strömung des Islam, durchaus praktiziert. Als "Freunde Allahs" werden einige wichtige religiöse Führer oder Gelehrte auch von anderen Muslimen an ihren Gräbern verehrt. Je nach Strömung des Islam pilgern die jeweiligen Angehörigen zu den besonderen Orten ihrer Stifter oder Missionare.

Das ist ganz ähnlich zu dem Heiligenkult der frühen Christen, der sich auf die Grabstätten von Märtyrern konzentrierte. Wie im Christentum gibt und gab es auch im Islam Auseinandersetzungen über die Heiligenverehrung, die schnell in Aberglauben abdriften konnte – statt den Heiligen als Fürsprecher bei Gott zu verehren, wurde nun der Heilige selbst angebetet. In der Kirchengeschichte führte das zu Abspaltungen und Reformation. Da der Islam nicht zentral organisiert ist und somit keine Autorität den Heiligenkult allgemeingültig verbieten oder zulassen konnte, existieren heute (auch durch die teilweise großen Entfernungen zwischen den jeweiligen Gemeinschaften) verschiedene Auffassungen nebeneinander. Doch auch hier kam und kommt es zu teils gewaltvollen Auseinandersetzungen darüber. So zerstörten und schändeten die Anhänger der Terrormiliz IS nicht nur Kulturerbestätten und heilige Orte anderer Religionen, sondern auch ganz gezielt Heiligengräber oder Schreine anderer muslimischer Gruppierungen.

Gott bekennen, Beten, Fasten, Pilgern – Muslime und katholische Christen haben oft ganz ähnliche Glaubenspraktiken. Die können durchaus einen Anknüpfungspunkt für Dialog zwischen den Religionen sein. Damit diese Verständigung gelingt, braucht es auf beiden Seiten allerdings auch ein Bewusstsein für das unterschiedliche Verständnis dieser Begriffe.

Von Cornelius Stiegemann