Von Liebe und Ferne: Gottesbilder in Christentum und Islam
Wer ist Gott? Ist er der Herr der Welten, der Allerbarmer, der Barmherzige, der Herrscher am Tag des Gerichts? "Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. Leite uns den geraden Weg, den Weg derjenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, nicht derjenigen, die deinen Zorn erregt haben und nicht der Irregehenden!" Viele Christen würden diese Aussagen sicher unterschreiben – es handelt sich um die erste der 114 Suren des Korans, ein Gebet, das im Islam in etwa die Stellung des Vaterunsers innehat. Hier findet sich ein fundamentales Gottesbild, das einerseits grundlegende Eigenschaften wie auch eine gewisse Tonalität formuliert, die den Vergleich der Gottesvorstellungen zwischen Islam und Christentum zusammenfasst. Einerseits stehen dort viele Eigenschaften, die auch Christen Gott zuschreiben, andererseits wird in der gleichen Sure später Gott gebeten, dass man nicht den Weg der "Irregehenden" geht – womit nach Meinung vieler islamischer Theologen die Christen gemeint sind. Es ist also alles nicht immer ganz einfach.
Zunächst die Frage, ohne die sich alle weiteren Erörterungen erübrigen würden: Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? Die Antwort ist kurz: Ja, aber. Die Konstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) spricht von den Muslimen als jenen, "die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird". (LG 16) Für Anhänger beider Religionen gibt es nur einen einzigen Gott. Er ist der allmächtige Schöpfer der Welt, der in der Geschichte immer wieder in der Welt gewirkt und den Menschen von sich erzählt hat. Er ist also als Kraft in der Welt präsent und doch stets der ganz Andere. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind zwei Eigenschaften, die ihn auszeichnen – sowohl in der Bibel als auch im Koran. Die großen Wegmarken sind bei Christen und Muslimen also gleich.
Verschiedene Akzente
Es gibt zwischen beiden auch Unterschiede – wobei sich diese Unterschiede vielleicht treffender als verschiedene Akzente beschreiben lassen. Es hängt vom persönlichen Gottesverständnis und -verhältnis ab, wie man diese gewichtet. Diese verschiedenen Akzente haben ihren Ursprung in der Art und Weise, wie sich Gott aus der Sicht der jeweiligen Religion den Menschen mitgeteilt hat.
Im Islam hat sich Gott im Laufe der Geschichte immer wieder über Propheten und definitiv zuletzt im Koran offenbart – die Mehrheit der Muslime ist zudem der Ansicht, dass der Koran die wörtliche, nicht von Menschenhand interpretierte oder veränderte Aussage Gottes ist. Diskussionen über das Wesen Gottes haben im Islam Seltenheitswert, viel eher herrscht die Auffassung: Was Gott von sich sagen will, steht im Koran, der Rest ist irrelevant.
Für Christen dagegen ist der Mittelpunkt des Glaubens nicht ein Buch, sondern mit Jesus Christus eine Person. Für Christen hat sich Gott durch das Lebenszeugnis Jesu selbst offenbart, er ist ein Mensch unter Menschen geworden, hat sich mit deren Gefühlen, Leiden und Fragen solidarisiert. Das Christentum ist also in anderem Sinne eine Buchreligion als es etwa der Islam und das Judentum sind.
Transzendenz im Vordergrund
Diese Nähe Gottes, die persönliche Verbundenheit zu den Menschen ist dem Islam eher fremd. Hier steht die Transzendenz, die unergründliche Fremdheit Gottes mehr im Vordergrund. Gott ist der immer ganz andere, unergründliche: "Allahu akbar" ("Gott ist stets größer"). Im Islam ist Gott also für den Menschen weniger zugänglich als im Christentum. Das schlägt sich auch in der religiösen Tradition nieder. Große Bedeutung haben im Islam die 99 Namen Gottes – und der 100., der den Menschen unaussprechbar ist und verborgen bleibt. Diese 99 Namen, sämtlich aus dem Koran, rezitieren fromme Muslime anhand einer Tasbih genannten Gebetskette. Diese Namen repräsentieren Bezeichnungen, Beschreibungen und Eigenschaften – und polarisieren: Gott ist der Allwissende, der Sichtbare, der Verborgene (Sure 59, Vers 22). Da Gott im Koran mit insgesamt mehr als 100 Namen bezeichnet wird, ist die Auswahl dieser 99 Namen immer ein wenig anders. Welcher dieser Namen der bedeutendste ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Statistisch gesehen wäre der Allbarmherzige auf der Spitzenposition, er kommt am häufigsten vor – allein schon, weil jede Sure (mit einer Ausnahme) mit der Wendung "Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers" beginnt. Die Bedeutung der 99 Namen verdeutlicht: Gott ist für den Menschen nicht direkt fassbar, befindet sich außerhalb mit Sinnen oder Verstand beschreibbarer Kategorien. Er kann nur mit überlieferten Selbstbezeichnungen bedacht werden. Diese Distanz zeigt sich auch an anderer Stelle: Laut muslimischem Glauben sind die Menschen auch nach dem Tod nicht eins mit Gott, sondern können sich mehr als auf Erden an seinem Glanz erfreuen.
Der Weg dorthin ist im Prinzip einfach: Da alles von Gott als wesentlich erachtete im Koran festgehalten ist, wollen und sollen fromme Muslime dessen Regeln beachten, zum Beispiel die Nahrungs- und Fastengebote. Damit ebnen sie sich den Weg ins Paradies. Das richtige Handeln des einzelnen Gläubigen steht im Vordergrund. Großen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang der Hadith. Hadithe sind Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed sowie Sätze und Taten, mit denen er einverstanden gewesen sein soll. Diese Überlieferungen sind neben dem Koran eine weitere Quelle für das richtige Handeln (Sunna) eines Gläubigen, das ihn gottgefällig macht.
Große Bandbreite an Richtungen
Einschränkend sei gesagt: Der Islam beherbergt eine große Bandbreite an Schulen und Richtungen. In vielen arabischen Ländern sind strenge, karge Formen verbreitet. Dagegen herrscht etwa in den Ländern Nordafrikas, Subsaharaafrikas und Südostasiens ein mystischer Islam vor, der die Liebe Gottes und die innere Beziehung des Einzelnen zu ihm stärker betont. Die Regelbefolgung ist hier nicht so zentral – damit ist diese islamische Spielart dem Christentum näher. Zwischen den islamischen Gruppen gibt es oft Konflikte: Mystiker werden etwa vom wahhabitischen und salafistischen Islam verfolgt. Der moderne Wahhabismus und Salafismus lehnt zudem die interpretatorische Koranauslegung ab, die jedoch im Islam eine reiche Tradition hat.
Anders als im Islam ist die Heilige Schrift im Christentum nicht das unverfälschte Wort Gottes, sondern besteht aus von Gott inspirierten, aber von Menschen verfassten Schriften. Das zeigt sich allein schon in den vier Evangelien, die Geschichten von Jesus aus verschiedenen Quellen zusammenkomponiert haben. Das Erzählen von den Worten und Taten Jesu steht also im Vordergrund. Durch diese personalisierte Gottesvorstellung und die größere Nähe Gottes zum Menschen ist die Frage nach der Natur und Form Gottes im Christentum virulenter – Jesu selbst legt auf den richtigen Glauben großen Wert. "Folge mir nach!", ruft er seinen Jüngern zu. (Joh 21,19) Es geht ihm weniger um Regelbefolgung als um die richtige Haltung im Herzen, die Liebe Gottes, die mit der Liebe zum Nächsten einhergeht. Deshalb wird im Christentum mehr über Glaubens- und Gottesbilder diskutiert, eine jahrhundertelange Auseinandersetzung über Wesen (Dreifaltigkeit), Personalität Gottes in zahlreichen Konzilien und Reform(ation)en zeugt davon. Doch diese unterschiedlichen Akzente haben ihre Grenzen – immerhin gibt es gerade im Katholizismus eine Vielzahl von zu befolgenden Regeln, die die Gläubigen näher zum Herrn bringen sollen. Pauschale Aussagen sind also auch hier wie so oft schwierig.
Zwei Perspektiven auf Jesus
Was sich jedoch sehr pauschal sagen lässt ist die unterschiedliche Stellung des Jesus von Nazareth. Ist er für Christen Mensch gewordenes Wort Gottes, gestorben und wieder auferstanden, sehen ihn Muslime zwar als Prophet und Wunderheiler – aber ausschließlich als (wenn auch sehr bedeutenden) Menschen. So können Anhänger beider Religionen gemeinsam einen Gruß an Maria senden, die auch im Islam verehrt wird, eine gemeinsame Anbetung Jesu gibt es aber nicht.
Das Verhältnis der Gottesbilder von Christen und Muslimen oszilliert also zwischen Nähe und Ferne, Schrift und Mensch. Wie sehr einzelne Gläubige die genannten Unterschiede als grundsätzlich trennend oder als weniger relevante Detailfragen wahrnehmen, hängt auch von Ort und Zeit der Sprecher ab. Für den gegenseitigen Dialog gilt, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede wertzuschätzen. Denn beide Religionen gewinnen den verschiedenen Dimensionen Gottes ihre je eigene Facette ab.