Serie: Ein Gott, zwei Religionen – Christentum und Islam – Teil 2

Das Wort Gottes: Bibel und Koran im Vergleich

Veröffentlicht am 28.05.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Sowohl Christen als auch Muslime haben ein Buch im Zentrum ihres Glaubens. Ein Blick auf Bibel und Koran offenbart dabei überraschende Parallelen. Deshalb kann es für Christen und Muslime sogar bereichernd sein, die heilige Schrift der jeweils anderen Religion kennenzulernen.

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"Wer sich Gott völlig hingibt und dabei Gutes tut, dessen Lohn steht für ihn bei seinem Herrn. Und sie soll keine Furcht überkommen, noch sollen sie traurig sein." Was beinahe wie ein Bibelzitat klingt, ist in Wahrheit ein Vers aus dem Koran (Sure 2, Vers 112). Vergleichbare Stellen finden sich überall in beiden Heiligen Schriften. In der Religionswissenschaft werden Christentum und Islam gemeinsam mit dem Judentum nicht ohne Grund häufig unter dem Begriff "Buchreligion" subsummiert. Bibel und Koran haben große Bedeutung – nicht nur für ihre eigene Religion.

Tatsächlich lassen sich in beiden Büchern überraschend viele inhaltliche Parallelen ausmachen: Es geht um Gott als den Schöpfer und Richter der Welt, um die Begegnung von Menschen mit Gott, aber auch um Sünde, Verfehlung und eine Lebensordnung. "Wenn man sich mit den heiligen Schriften indischer Religionen beschäftigt, fällt auf, dass das gar nicht deren Fragestellungen sind. Das zeigt, wie eng Judentum, Christentum und Islam zusammenhängen", sagt Bertram Schmitz, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Jena. Doch nicht nur die Grundthemen und Fragestellungen sind in Bibel und Koran ähnlich – in beiden Büchern finden sich auch dieselben Figuren wieder, wie beispielsweise Adam, Abraham (Ibrahim), Mose (Musa) aber auch Maria (Maryam) und Jesus (Isa ibn Maryam).

Selbst einzelne Erzählungen ähneln sich teilweise bis ins kleinste Detail. So findet sich beispielsweise die Erzählung über Josef und seine Brüder, die ihn in einem Brunnen ertränken wollen, im Alten Testament (Genesis 37-50) und in Sure 12. Dafür gibt es bei anderen Berichten deutliche und pointierte Unterschiede, etwa bei Jesus, der laut Koran zwar ohne biologischen Vater geboren wird, aber nicht am Kreuz gestorben ist. Diese mal mehr mal weniger ähnlichen Themen und Episoden kommen dabei nicht von ungefähr: "Das deutet darauf hin, dass der Korantext für diejenigen geschrieben oder gesprochen wurde, die auch die biblische Botschaft vor Augen hatten", sagt Schmitz.

Muslime haben ein anderes Bild der Bibel

Unterschiede gibt es derweil vor allem in der Entstehung der Schriften. Das Wort "Bibel" leitet sich vom griechischen "Biblion" ab und bedeutet übersetzt Buch- oder Schriftrolle. Über Jahrhunderte hinweg werden die Geschichten des Alten Testaments mündlich überliefert, bis sie zunächst auf Schriftrollen festgehalten werden. Diese werden im Laufe der Zeit überarbeitet, neu geordnet und schließlich zu einem Buch zusammengefügt, dem Tanach, der Heiligen Schrift des Judentums (das häufig gebrauchte Wort "Tora" bezeichnet nur den ersten Teil des Tanach, die fünf Bücher Mose). Das Christentum übernimmt diese als Altes Testament und ergänzte im Wesentlichen das Neue Testament. Dieses besteht aus den Evangelien, in denen überlieferte Geschichten und Zitate Jesu zu Narrativen komponiert werden. Dazu kommen die Apostelgeschichte, Apostelbriefe sowie die Offenbarung des Johannes. Letztlich wird der nach katholischer Zählweise aus 73 Büchern bestehende Kanon dabei aus ganz unterschiedlichen literarischen Texten zusammengestellt, die im Laufe der Jahrhunderte durch Gott inspiriert und beeinflusst von vielen verschiedenen Menschen geschrieben wurden.

Muslime dagegen haben ein anderes Bild der Bibel: Nach ihrem Verständnis gehen Tora, Bibel und Koran alle auf eine göttliche Ur-Schrift zurück, von der Gott durch ausgewählte Propheten wie Mose, Jesus und Mohammed zu bestimmten Zeiten originalgetreue Kopien an einzelne Völker gesandt hat. Die Bibel hat also durchaus den Stellenwert einer göttlichen Offenbarung – die Christen (im Koran wie Juden "Leute der Schrift" genannt) haben diese nach islamischer Vorstellung allerdings entstellt und sind daher nicht mehr im Besitz der authentischen göttlichen Offenbarung. "Gern möchte euch ein Teil von den Leuten der Schrift in die Irre führen. Aber sie führen nur sich selbst in die Irre, ohne (es) zu merken. O Leute der Schrift! Warum verleugnet ihr Allahs Zeichen, wo ihr doch (selbst) Zeugen seid?" heißt es dazu im Koran (Sure 3, Vers 69-70).

Ein junger Muslim liest im Koran, im Hintergrund sieht man ein Kreuz
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Nach islamischem Verständnis hat der Koran als letzte göttliche Offenbarung die Bibel abgelöst. Beide Bücher sind Teil einer göttlichen Ur-Schrift.

Der Auftrag Gottes an Mohammed ist es daher, die in seinen Augen erfolgte Fehlinterpretation der Bibel zu korrigieren und sie durch eine letzte und ewiggültige Offenbarung abzulösen. Dabei ist Gott nicht zimperlich: Immer wieder zieht sich Mohammed in eine Höhle im Berg Hira in der Nähe von Mekka zurück, um dort zu meditieren. Im Jahre 610 nach Christus hat er während einer solchen Einkehr sein erstes Offenbarungserlebnis. Der Erzengel Gabriel (arabisch: Dschibril) erscheint mit einem beschriebenen Seidentuch, ergreift Mohammed, drückt ihn fest an sich und lässt ihn erst wieder los, als dieser völlig erschöpft ist. Dann fordert der Erzengel ihn auf: "Lies!" Mohammed – dem muslimischen Verständnis nach ein Analphabet – antwortet zögerlich "Ich kann nicht lesen." Gabriel greift ihn erneut, drückt ihn so fest wie beim ersten Mal und wiederholt seinen Befehl: "Lies!".

Nach viermaliger Aufforderung fragt Mohammed schließlich aus Angst: "Was soll ich lesen?" Und der Erzengel fährt fort "Lies im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einem Anhängsel." (Sure 96, Vers 1-2) Der Engel trägt ihm daraufhin die ersten Koranverse vor. Nach dieser für ihn erschreckenden Begegnung hört er wieder die furchteinflößende Stimme des Erzengels, die ihm aufträgt, die göttliche Offenbarung vorzutragen und Mohammed beginnt als Prediger aufzutreten.

Koran hat Wundercharakter

Bis zu seinem Tod 632 erscheint Mohammed immer wieder der Erzengel Gabriel, der ihm den gesamten Koran (übersetzt: Lesung, Vortrag, Rezitation) übergibt. Mohammed lernt jeden dieser Verse auswendig und gibt sie sofort Wort für Wort an seine Anhänger weiter. Nach seinem Tod werden die Aussagen von seinem Sekretär Zaid ibn Thabit niedergeschrieben, kanonisiert und in 114 Suren gefasst, die – mit Ausnahme der ersten Sure – ihrer Länge nach sortiert sind und jeweils mit einer Anrufung Gottes, der sogenannten Basmala, als Beginn versehen sind.

Für Muslime ist der Koran daher die wörtliche und nicht von Menschenhand interpretierte Aussage Gottes. Hierin liegt ein gewichtiger Unterschied zum christlichen Verständnis der Bibel. Das hat auch Konsequenzen für den Umgang mit den Schriften: Während die meisten christlichen Konfessionen ein unproblematisches Verhältnis zur historisch-kritischen Bibelforschung haben, ist das aus der Sicht der meisten muslimischen Gemeinschaften für den Koran kaum denkbar. "Der Koran hat einen sakramentalen Charakter, vergleichbar mit Eucharistie oder Abendmahl im Christentum", sagt Religionswissenschaftler Schmitz. Die Auslegung der Suren hat dagegen in den meisten Glaubensrichtungen eine reiche Tradition. Darüber hinaus ist der Koran die wichtigste (wenn auch nicht größte) Quelle des islamischen Religionsgesetzes, der Scharia. Sie regelt nahezu alle Bereiche des Alltags und macht den Islam zu einer Gesetzesreligion. Im Gegensatz dazu liefert die Bibel lediglich eine Richtschnur für das gottbewusste Verhalten der Menschen.

In der Perfektion und Vollkommenheit der Sprache liegt der Wundercharakter des Koran, denn als Analphabet kann Mohammed nach islamischem Verständnis den Koran nicht selbst verfasst haben, und der Text muss damit aus einer göttlichen Quelle stammen. Ob Mohammed tatsächlich nicht lesen oder schreiben konnte, ist in der Forschung allerdings umstritten. "Als Kaufmann liegt es nahe, dass er es konnte", sagt Schmitz. Gemeint sein könne aber, dass er die Schriften nicht lesen konnte, also kein Griechisch, Aramäisch oder Hebräisch beherrscht hat, erklärt er. "So würde ich das verstehen."

Eine Bibel und ein Kreuz liegen im Sand
Bild: ©KNA/Harald Oppitz (Symbolbild)

"Vereinfacht könnte man sagen: Das Wort Gottes ist im Christentum Mensch, im Islam Buch geworden", fasst Religionswissenschaftler Bertram Schmitz zusammen. Die eigentliche Analogie ist damit nicht zwischen Koran und Bibel, sondern zwischen Koran und Jesus zu ziehen.

Aufgrund des Wundercharakters ist dem einzelnen arabischen Buchexemplar daher mit äußerstem Respekt und Verehrung zu begegnen, während eine einzelne Bibel im Christentum keine besondere Verehrung erfährt. Es geht im Christentum eher um das Wort an sich als seine Verkörperung in Buchform. Zur besonderen Koran-Wertschätzung gehört auch dessen Idiom: Alt-Arabisch als originale Sprache des Koran wird als heilige Sprache Gottes angesehen. Übersetzungen des Korans wurden daher lange Zeit abgelehnt, denn sie stellen ja bereits Interpretationen dar. Wer etwas auf sich hält, zitiert den Koran deshalb auf Arabisch. Das sorgt heute teilweise jedoch für Probleme im Verständnis.

Mit dem Selbstverständnis, eine originalgetreue Kopie der bei Gott bewahrten Ur-Schrift zu sein, steht der Koran im Zentrum des muslimischen Glaubens. Die eigentliche Analogie ist damit nicht zwischen Koran und Bibel zu ziehen, sondern zwischen dem Koran und Jesus, der im Zentrum des christlichen Glaubens steht. "Vereinfacht könnte man sagen: Das Wort Gottes ist im Christentum Mensch, im Islam Buch geworden", fasst Religionswissenschaftler Schmitz zusammen. Das bedeutet: Mohammed ist "nur" der Verkünder des Islam. Die eigentliche Botschaft, das Zentrum des Glaubens, ist der Koran als direkte Offenbarung Gottes und erste Quelle für Theologie, Recht und Glaubensleben der Muslime. Im Christentum dagegen ist Jesus Christus Inhalt der Botschaft und Zentrum des Glaubens. Die Bibel ist im Grunde genommen "nur" ein Zeugnis dafür, wer Jesus war, warum er der Christus ist und welche Bedeutung er für den Glauben der Menschen hat.

Sinnvoll, die Schrift der anderen zu lesen

Das drückt sich auch in der inhaltlichen Form der beiden Bücher aus: Die Bibel besteht aus zahlreichen Geschichten, Anekdoten und Zitaten, die besonders im Falle des Neuen Testaments beinahe ausschließlich dazu diesen, die Botschaft Jesu zu übermitteln und ihn als Erfüllung des Alten Bundes darzustellen. Der Koran dagegen ist keine zusammenhängende Erzählung, sondern eine Reihung von Offenbarungen, die Geschichten einzelner Protagonisten finden sich teilweise verstreut in verschiedenen Suren. Das macht den Koran deutlich schwerer lesbar. Zu seiner Entstehungszeit hatte diese Form allerdings ihre Berechtigung: Denn die Leser der Zeit kannten die Bibel bereits, die Auszüge aus einzelnen Geschichten dienen also nur der Vermittlung einer Botschaft, der Offenbarung Gottes.

Deshalb ist es sowohl für Christen als auch für Muslime sinnvoll, sich ebenfalls mit der Schrift der jeweils anderen Religion auseinanderzusetzen. Das schreibt auch der Schweizer katholische Theologe und Islamwissenschaftler Samuel Behloul in einem Beitrag für das Magazin "Religion lehren und lernen in der Schule" des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog. Durch ein Verständnis der zahlreichen Bezugnahmen und der Beschäftigung des Koran mit der Bibel als Vorgänger lasse sich der Koran nicht als gänzlich fremder Text betrachten, sondern als Zeugnis von Glaubenserfahrungen und Ergebnis der Auseinandersetzung mit den gleichen Fragen der gott-menschlichen Beziehungen, die auch für die Menschen der Bibel zentral waren, so Behloul. Wenn also beispielsweise in Sure 57 von Menschen mit Fackeln die Rede ist, wird die Anspielung auf das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,1-13) nur dann deutlich, wenn man sich mit dem Bibeltext auseinandergesetzt hat. Deshalb ist es auch für Muslime sinnvoll, die biblischen Texte zu kennen und damit auch die feinen Andeutungen zu verstehen, die im Koran stecken, sagt Schmitz. So kann die Lektüre der Heiligen Schrift der anderen Religion für Christen und Muslime auch zu einem tieferen Verständnis der eigenen Heiligen Schrift führen.

Von Christoph Brüwer