"Freund Gottes" und "Vater der Menge": Wem gehört Abraham?
Im Alten Testament verheißt Gott Abraham, dass seine Nachkommen so zahlreich wie die Sterne am Himmel sein werden. Auch wenn dieses Versprechen für den kinderlosen Greis wie Hohn geklungen haben musste, glaubte Abraham seinem Gott. Und das mehr als zu Recht, denn die Anhänger der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam berufen sich bis heute auf Abraham als Stammvater – und stehen zusammen für Milliarden Anhänger weltweit. Die große Bedeutung des biblischen Patriarchen wird durch die verbreitete Bezeichnung "abrahamitische Religionen" besonders hervorgehoben. Doch auch, wenn die Rede von den "Abrahamsreligionen" als eine Art "theologische Klammer" dient, um die Gemeinsamkeiten des jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens zu betonen, hat der hohe Rang des Abraham auch eine andere Seite. Denn in jeder der drei Religionen dient diese Figur dazu, die Bedeutung der jeweils eigenen Glaubensgemeinschaft hervorzuheben – oft verbunden mit der Abwertung der anderen.
Sozusagen von Haus aus gehört Abraham zum Judentum, denn auch die Heiligen Schriften der Christen und Muslime wissen von ihm nur aus der jüdischen Überlieferung. In der Tora wird die Geschichte des Elternpaars Abraham und Sara erzählt, auf das sich das Volk Israel beruft. Die Israeliten verstehen sich als die von Gott verheißene Nachkommenschaft Abrahams, die durch die Geburt seines Sohnes Isaak ins Leben gerufen wurde. Dabei war die Bewahrung der nach damaligem Denken so wichtigen Stammlinie keineswegs eine Selbstverständlichkeit, denn die an dramatischen Episoden reiche Abrahamserzählung berichtet vom beinahen Tod des lange herbeigesehnten Sohnes: Abraham sollte auf Gottes Befehl hin seinen Sohn Isaak opfern und war dazu aus Treue auch bereit. Erst im letzten Moment, Isaak lag schon auf dem Opferaltar, rief ein Engel Abraham zurück und der Stammhalter überlebte.
Die Verheißung des Landes
Das besondere Gottesverhältnis des Abraham, das an der Opferung Isaaks deutlich wird, ist das grundlegende Motiv der biblischen Erzählung. Nur aufgrund seines Glaubensgehorsams und Gottvertrauens wagt er als alter Mann den wahnwitzigen Schritt, sich von seinem gewohnten Umfeld loszusagen und sich auf gefährliche Wanderschaft zu begeben. Gott macht Abraham deutlich, dass er ihn erwählt und zum Segen für die Welt bestimmt hat. Er verheißt ihm "das Land, das ich dir zeigen werde" (Gen 12,1), zu dem sich Abraham aufmacht. Gott gibt ihm sogar einen neuen Namen: aus dem ursprünglich Abram genannten Mann wird Abraham, was die Bibel als "Vater der Menge" (Gen 17,5) deutet. Gott schließt einen "ewigen Bund" mit Abraham und seinen Nachfahren, als die sich das Volk Israel bis heute versteht. Sichtbares Zeichen dafür ist die männliche Beschneidung, die in der damaligen Zeit im Vorderen Orient weit verbreitet war. Abraham ist somit der Stammvater der Israeliten und aufgrund seines Glaubens an den einen Gott der erste Jude. Im Alten Testament wird er deshalb als "Freund Gottes" (Jes 41,8) bezeichnet. Die Zusage Gottes erfüllt sich mit dem Einzug des Volkes Israel in das gelobte Land – ein biblisches Bild, das bis heute politische Sprengkraft besitzt.
Auch wenn die Berufung auf Abraham im Christentum keine derart bedeutende Rolle wie im Judentum und im Islam spielt, wird er in den Schriften des Neuen Testaments mehrfach erwähnt. Jesus ist gläubiger Jude und spricht in den Evangelien selbstverständlich vom "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" (Mk 12,26). Mit ihnen zu Tisch zu sitzen ist etwa im Matthäusevangelium ein Sinnbild für den Himmel. In diesem Kontext wird die Abrahamskindschaft neu definiert: Sie wird ausgeweitet auf Nichtjuden, die zum Glauben an den Gott Jesu kommen. Außerdem spricht das Neue Testament von der Möglichkeit, dass Juden ihren angeborenen Status als Kinder Abrahams verlieren können, wenn sie ihrem Glauben untreu werden.
Im Römerbrief hebt Paulus den Glauben Abrahams besonders hervor und nutzt ihn für seine theologische Argumentation: Das Vertrauen auf die Verheißung der Nachkommenschaft durch Gott sei Abraham als Gerechtigkeit angerechnet worden. Für Paulus ist das Nachdenken über die Erlösung durch Jesus Christus besonders wichtig. Er tritt dafür ein, dass jeder Gläubige aufgrund seines Glaubens gerettet ist und nicht aufgrund von Werken, die in dieser Überzeugung getan werden. Weil er ein Vorbild im Glauben ist und daher von Gott "gerecht" gemacht wurde, nimmt der Patriarch einen bedeutenden Platz in der Lehre des Apostels ein. Paulus sieht in Abraham sogar den christlichen Glauben an die Auferstehung vorweggenommen: Der Erzvater setzte sein Vertrauen auf Gott, das Nichtseiende schaffen zu können, indem er ihm Nachkommen verhieß. Für Paulus ist das ein Ausblick auf die Auferstehung. In seiner Theologie sind schließlich fortan Juden- und Heidenchristen durch ihren Glauben die wahren Kinder Abrahams. Im Galaterbrief kommt Paulus zudem auf die beiden leiblichen Abrahamssöhne Isaak und Ismael zu sprechen: Erster sei der Sohn einer Freien und damit ebenfalls ein freier Mann. Isaak wird mit den Christen gleichgesetzt, die durch ihren Glauben befreit seien. Ismael sei jedoch wegen seiner Geburt durch die Sklavin Hagar ebenfalls ein Sklave. Paulus sieht in ihm die Juden, die durch die Ablehnung des Evangeliums und das Festhalten am jüdischen Gesetz gleichsam versklavt seien.
Der Islam als "Religion Abrahams"
Die hohe Wertschätzung für Ibrahim, wie Abraham von Muslimen genannt wird, zeigt sich im Islam schon allein dadurch, dass die Religion im Koran "Religion Abrahams" (Sure 2,130) genannt wird. In der Heiligen Schrift der Muslime wird der Erzvater als "Prophet" bezeichnet und wegen seines Gottvertrauens gleichsam als Prototyp eines Anhängers des muslimischen Glaubens geschildert. Der Koran bezeichnet Ibrahim als "Hanif", was "fromm" bedeutet. Damit soll ausgesagt werden, dass er nach muslimischer Vorstellung kein Jude oder Christ war, die ihn für sich in Anspruch nehmen. Für Mohammed war ein "Hanif" ein Mensch, der keiner der Buchreligionen angehörte, aber auf der Suche war und sich dem einzigen Gott annäherte. Von dieser Wandlung des Ibrahim erzählt der Koran sehr ausführlich: Er wurde in einen Götzenkult hineingeboren, der die Gestirne als Götter verehrte. Ibrahim wendete sich jedoch von ihnen ab, da er im Aufgehen und Verschwinden von Sonne, Mond und Sternen deren Endlichkeit erkannte. Er wandte sich dem unendlichen Gott zu – ein Schritt, der ihn in einen Konflikt mit seinem Vater stürzte, den er zu bekehren versuchte. Schließlich verließ er ihn jedoch, da er in ihm einen Feind Gottes erkannte. In dieser Abrahamserzählung, die sich nicht auf eine biblische Tradition stützt, scheint wohl Mohammeds eigene Bekehrung durch. Auch der muslimische Prophet bezeichnete sich als "Hanif" und nimmt für sich in Anspruch, "Abraham am nächsten zu stehen" (Sure 3, Vers 68).
Mit seiner Berufung auf Abraham bemühte sich Mohammed auch, sein im Vergleich zum Judentum und Christentum spätes Auftreten zu relativieren. Durch den Bezug zu Abraham wollte er den Islam als eigentlichen Nachfolger und Erneuerer des Ein-Gott-Glaubens Abrahams darstellen. Diese Rückführung auf den Ursprung geschieht im Islam durch die Wiederherstellung des Monotheismus, den Mohammed bei den Christen als nicht mehr gegeben ansah, weshalb die Abrahamsgeschichte unter diesem Blickwinkel erzählt wird. Mohammed zieht Parallelen zwischen Ibrahim und ihm selbst: Er sieht in der Berufung des Erzvaters seinen eigenen Auftrag abgebildet. In die gleiche Richtung werden auch die alttestamentlichen Geschichten von Josef und Mose im Koran erzählt. Beide Male steht die Verkündigung des einen Gottes im Mittelpunkt, die Josef in der ägyptischen Gefangenschaft vollzieht und Mose gegenüber dem uneinsichtigen Pharao.
Eine weitere feste Verwurzelung des Abraham im Islam geschieht durch seinen ersten Sohn Ismael. Als Kind des Patriarchen mit der Magd Hagar soll er als Erstgeborener die Stammeslinie sichern, doch als ihm in Erfüllung der Verheißung Gottes mit Isaak ein Sohn von Sara geboren wird, verbannt Abraham ersteren samt seiner Mutter in die Wüste. Ismael wird jedoch gerettet und zum Begründer des Volkes der Ismaeliten, das die Araber als ihren Ursprung sehen. Für die Araber, die von Mohammed als erste zum Islam bekehrt wurden, ist Ismael daher der wichtigere Sohn Abrahams und eine direkte Verbindung zum Patriarchen. Dazu passt, dass Abraham als Begründer der Wallfahrt nach Mekka gilt, einer der fünf wichtigsten Pflichten frommer Muslime, den sogenannten Säulen des Islam. Im Koran wird berichtet, dass er die Kaaba in Mekka errichtet hat, die "Stätte Abrahams" (Sure 3, Vers 96) genannt wird und Ziel der Pilgerreise ist. Nach koranischer Überlieferung hat Ismael ihm beim Bau des Heiligtums geholfen.
Wenn sich nun jede der drei "Abrahamsreligionen" auf den biblischen Patriarchen beruft und ihn als Begründer und Stammvater des eigenen Glaubens zumeist auf Kosten der jeweils anderen darstellt, dient die Figur Abrahams dann überhaupt noch als einende Klammer, die einen Dialog ermöglicht? In Abraham treffen gemeinsame einende und trennende Elemente aufeinander, deren Ursprünge in den frühen Rivalitäten zwischen den Glaubensgemeinschaften zu suchen sind: Christen nutzten Abraham, um ihn als Vorläufer ihres Glaubens darzustellen und ihn somit gegen Juden zu instrumentalisieren, die nicht zum Glauben an Jesus gekommen sind. Im Islam wird Abraham sogar abgesprochen, Jude oder Christ gewesen zu sein, obwohl diese Religionen in ihrer je eigenen Tradition Anspruch auf ihn erheben.
Noah und Mose: Bessere Identifikationsfiguren?
Andere biblische Gestalten, die ebenfalls in allen drei Religionen geschätzt werden, sind wesentlich eindeutiger. So sind etwa Noah oder Mose herausragende Glaubensgestalten des Alten Testaments, die an besonderen Zeitenwenden in der biblischen Geschichte stehen: Noah überlebt dank der Arche die Sintflut und ist nach Adam gleichsam ein neuer Stammvater der Menschheit. Mose führt das Volk Israel aus der Unterdrückung in Richtung des gelobten Landes und empfängt von Gott die Zehn Gebote. Nicht nur in der Tora und der Bibel, sondern auch im Koran kommen sie vor und werden beide als "Rasul", Gesandte Gottes, bezeichnet – ein Ehrentitel, der im Islam nur einigen der Propheten zuteil wurde.
Trotz aller Schwierigkeiten ist Abraham wohl noch immer die beste Wahl, um die Gemeinsamkeiten der drei großen monotheistischen Religionen auszudrücken. Kein anderer Prophet aus dem Alten Testament besitzt eine ähnliche Strahlkraft. Judentum, Christentum und Islam sind fest in der Person Abrahams verwurzelt – wenn auch mit je eigenen Nuancen. Diese gemeinsame Wurzel hat sich über die Religionen zwar verzweigt und aufgespalten, doch sie besteht fort. So können Juden, Christen und Muslime mit Fug und Recht als Nachkommen Abrahams bezeichnet werden. Der Patriarch macht somit noch heute seinem biblischen Namen alle Ehre: er ist zum "Vater der Menge" geworden.