Strukturfragen als unwichtig abzutun ist unkatholisch
Gemeinschaft und Leitungsamt, gemeinsame Verantwortung und Leitungsverantwortung – keine Frage, das sind zwei Faktoren, die unverzichtbar sind für die katholische Kirche. Doch in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie spielen die gemeinsame Verantwortung des ganzen Gottesvolkes und die Leitungsverantwortung des Bischofs und der Bischöfe zusammen? Auf den Punkt gebracht, ist zu fragen: Wird gemeinsame Verantwortung und Leitungsverantwortung auf der gleichen Ebene angesiedelt oder steht die Leitungsverantwortung über der gemeinsamen Verantwortung?
Das gemeinsame Miteinander von Laien und Klerikern
Legt man zur Beantwortung die ekklesiologische Leitidee des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Miteinander von Laien und Klerikern zugrunde, dann ist es die Gleichrangigkeit. Denn nach der Konzilstheologie sind die Kleriker mit ihrer Berufung und Sendung, die Gemeinschaft der Gläubigen zur Einheit zusammenzuführen, keineswegs den Laien übergeordnet. Ihr Amt der Einheit und damit Leitung ist vielmehr als Dienst an der Gemeinschaft zu verstehen, sie zur Wahrnehmung ihrer Sendung zu ermuntern und zu befähigen. So bilden Laien und Kleriker zusammen das eine Volk Gottes, in dem unter allen Gläubigen eine wahre Gleichheit besteht, was die Würde und das gemeinsame Wirken beim Aufbau des Leibes Christi betrifft, auch wenn sendungsspezifische Unterschiede bestehen. Deshalb gibt es gerade keine Überordnung der einen über die anderen, sondern ein Miteinander, um gemeinsam die Verantwortung für die Sendung der Kirche wahrzunehmen (vgl. Lumen Gentium 10, 12, 32 u. a.; cc. 204; 207; 208; 216; 225 §1; 275 §2; 394; 529 §2 CIC u. a.). Für dieses gemeinsame Miteinander hat Papst Franziskus den Begriff der Synodalität geprägt.
Rechtliche Eckdaten der Synodalität
Klar ist, dass Synodalität als gemeinsame Verantwortung und Leitungsverantwortung von allen Beteiligten ein hohes Maß an gutem Willen und Rücksichtnahme verlangt. Doch wenn dieser gute Wille und diese Rücksichtnahme nicht nur davon abhängen soll, ob der/die Einzelne, sich auf sein bzw. ihr "synodales Gewissen" ansprechen lässt, dann müssen rechtliche Eckdaten vorhanden sein, durch die die jeweilige Gemeinschaft als Ganze berechtigt, aber auch verpflichtet ist, sich an den wesentlichen Entscheidungen ihrer kirchlichen Gemeinschaft in adäquater Form zu beteiligen. Die zentralen rechtlichen Stichpunkte heißen hier: Repräsentative Vertretung aller nach dem Prinzip der Delegation durch Wahl, repräsentative Vertretung der Inhalte durch die Bündelung der vielen Beiträge sowie Beteiligung der Repräsentanten durch Anhörung, Mitsprache und Mitentscheidung einerseits und begründungspflichtiges Veto der Bischöfe, sobald mit einem Beschluss eine kirchliche Lehre oder eine Rechtsnorm verletzt werden sollte, andererseits.
Dadurch wird die Letztentscheidungskompetenz des Leitungsamtes der Bischöfe in den grundlegenden Fragen des Glaubens und des kirchlichen Rechts mitnichten in Frage gestellt, sondern die gemeinsame Verantwortung aller Glieder des Volkes Gottes für die kirchliche Sendung und Identität ernst genommen. Durch transparente Beratungs- und Entscheidungsverfahren, durch das gemeinsame Entscheidungsrecht nach dem Mehrheitsprinzip sowie das begründungspflichtige Vetorecht der Bischöfe, wenn ein Verstoß gegen die offizielle Glaubenslehre und/oder das kirchliche Recht beschlossen werden sollte, kann sowohl die gemeinsame Verantwortung der Gläubigen als auch die Leitungsverantwortung der Bischöfe adäquat – und das heißt: gleichrangig – zum Tragen kommen. Eine konkrete Umsetzung dieser ekklesiologischen Grundlagen ist die Einrichtung eines Synodalen Rates, wie ihn das Forum I des Synodalen Weges vorschlägt.
Doch einige Glieder der Kirche sehen in einem solchen Synodalen Rat den Versuch einer Demokratisierung der katholischen Kirche nach weltlichem Muster am Werk und erheben den Einwand, dass damit Strukturen wichtiger genommen werden als die geistliche Erneuerung und die damit verbundene Grundaufgabe der Evangelisierung. Beides wurde zuletzt vom Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück vorgebracht.
Das Mehr-als des Glaubenssinns
Jan-Heiner Tück ruft wie viele andere Skeptiker gegenüber mehr Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten der Gläubigen in der Kirche das Schreckgespenst eines Umbaus der Kirche in eine Demokratie auf. In diesem Schreckgespenst drückt sich die Sorge aus, dass der Glaubenssinn der Gläubigen, wie ihn das II. Vatikanische Konzil lehrt (vgl. LG 12), nicht mit öffentlicher Meinung oder gar Demokratie gleichgesetzt werden darf, dass der Glaubenssinn nicht einfach dort ist, wo die Mehrheit ist. Nun ist zweifelsohne richtig, dass der Glaubenssinn als die vom Heiligen Geist gewirkte Einsicht nicht einfach das ist, was die Mehrheit sagt, er ist aber auch nicht einfach das, was die Minderheit vertritt, auch nicht das, was das Lehramt verkündet oder die Theologie erforscht.
Der Glaubenssinn ist jeweils mehr als nur einer der eben genannten Faktoren. Er ist das, was alle zusammen und miteinander vertreten – nicht zwangsläufig einstimmig, aber insofern einmütig, dass auch diejenigen den Inhalt mittragen und sich mit ihm identifizieren können, die ihm wegen bestehender Meinungsverschiedenheiten nicht zustimmen können. Einem Inhalt nicht zustimmen, wohl aber ihn mittragen können, braucht die Erfahrung, dass die eigene (abweichende) Auffassung eingebracht werden konnte und ernstgenommen wurde, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt hat. Auf dem II. Vatikanischen Konzil war das die Basis dafür, dass am Ende der Debatten bei der Beschlussfassung fast alle Konzilsväter zustimmen konnten (vgl. dazu beispielhaft die Abstimmungsergebnisse zu den vier Konstitutionen des Konzils: zur Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium: 2147 Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen; zur Kirchenkonstitution Lumen gentium: 2151 Ja-Stimmen, fünf Nein-Stimmen; zur Offenbarungskonstitution Dei verbum: 2244 Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen; zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes: 2309 Ja-Stimmen; 75 Nein-Stimmen).
Weil und vor allem wie dem II. Vatikanischen Konzil diese traumhafte Einmütigkeit gelungen ist, wird es auch gerne als "das Dialogereignis auf weltkirchlicher Ebene" bezeichnet. Denn das II. Vatikanische Konzil hat eindrucksvoll das in die Praxis umgesetzt, was als "ständige Kommunikation" und "regelmäßiger Dialog" bezeichnet werden kann, ohne die der Glaubenssinn der Gläubigen nicht zum Tragen kommen kann.
Größtmögliche Beteiligung für den Willen Gottes
Ständige Kommunikation und regelmäßiger Dialog verlangen aber von allen Beteiligten, dass sich das klassische Kommunikationsmuster von oben nach unten in eine horizontale Kommunikation wandelt, das Kontrollbedürfnis einem Zulassen-Können weicht, und dass die Bereitschaft wächst, erst den Anderen bzw. die Andere verstehen zu wollen, bevor man selbst verstanden werden will. Denn wer sich in und mit seinen Anliegen gehört und verstanden fühlt, ohne dass der/die Andere deshalb auch mit diesen Anliegen einverstanden sein muss, wird alles daran setzen, ebenfalls den Anderen bzw. die Andere zu verstehen. Und das ist der Boden, dass gemeinsam Neues entdeckt und entwickelt werden kann und dass gemeinsam neue Wege beschritten werden können.
Damit ist auch klar, dass der Glaubenssinn nicht so etwas wie die Staatsform der Demokratie auf kirchlich ist. Katholische Kirche und Demokratie sind in dieser Hinsicht keine Synonyme. Wohl aber kann der Glaubenssinn der Gläubigen als demokratisches Element in der Kirche verstanden werden, weil mit ihm die größtmögliche Beteiligung aller Glieder der Kirche in allen Angelegenheiten, auch in Glaubensfragen, verbunden ist – aber eben "nicht um den Willen der Mehrheit durchzusetzen, sondern um im gemeinsamen Bemühen, dem Willen Gottes Raum zu geben, dessen Geist nicht nur den Hirten gegeben ist" (Pottmeyer, H.J., Die Mitsprache der Gläubigen in Glaubenssachen, in: IKaZ 25 (1996), 134-147, 139).
Institutionelle Instrumente als Realtheologie
Größtmögliche Beteiligung aller als Konsequenz aus der Lehre des Glaubenssinnes heißt aber, dass diese Beteiligung in geordneter Weise zu gewährleisten ist und nicht dem Zufall oder dem subjektiven Ermessen überlassen werden darf. Dazu sind rechtlich abgesicherte Strukturen und Institutionen der Beteiligung notwendig. Hier ist das zu beachten und analog anzuwenden, was Joseph Ratzinger einst als theologischer Konzilsberater über die Geschäftsordnung des II. Vatikanischen Konzils ausgeführt hat. Solche Regelungen wie "die Geschäftsordnungen der Konzilien, die zunächst ein rein technisches Instrument für den ordnungsgemäßen Ablauf des Ganzen zu sein scheinen, [enthalten] in Wirklichkeit eine eminent theologische Bedeutung ... Von der Geschäftsordnung hängt ja nicht nur das faktische Funktionieren des Konzils ab, sondern in der Art, wie sie die einzelnen Kräfte ins Spiel bringt, stecken zugleich immer schon tiefgehende theologische Entscheidungen über Wesen und Stellung dieser Kräfte, so dass die Geschäftsordnung insgesamt eine ganze Theologie des Konzils spiegelt und vorwegnimmt. Diese Theologie ist deswegen so besonders wirksam, weil sie Realtheologie, eine ganz praktische Vorentscheidung darüber ist, inwieweit die verschiedenen Kräfte auf dem Konzil zur Geltung kommen können" (Ratzinger, J., Das Konzil auf dem Weg zu sich selbst. Rückblicke auf die zweite Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils, Köln 1964, 13). In diesem Sinne ist die Einrichtung und rechtliche Ausgestaltung eines Synodalen Rates, wie ihn das Forum I des Synodalen Weges vorschlägt, Realtheologie der gemeinsamen Verantwortung der Gläubigen und der Leitungsverantwortung der Bischöfe.
Strukturen als Verleiblichung der Spiritualität
Realtheologie weiß darum, dass kirchliche Erneuerungsprozesse zweifelsohne zuerst und vor allem als geistliche Prozesse der eigenen Bekehrung zu begreifen und zu gestalten sind. Sie weiß aber auch, dass damit keineswegs ausgeschlossen ist, auch die kirchlichen Strukturen in den Blick zu nehmen und zu fragen, ob sie für den Erneuerungsprozess adäquat ausgestaltet sind oder Reformbedarf besteht – im Gegenteil. Geistliche Erneuerung, Spiritualität ermöglicht, aber ersetzt nicht diese Strukturfragen. Doch zu oft ist gerade in unserer Kirche zu beobachten, dass gerne das moralisch Bessere im Mund geführt wird, um das strukturell Schlechtere nicht verändern zu müssen. Heißt: Auch wenn die Strukturfragen allzu oft für zweitrangig erklärt und damit als eher unwichtig abgetan werden.
Das ist unkatholisch – zumindest, wenn die Lehre des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche als Sakrament zugrunde gelegt wird. Denn hiernach muss sich die (unsichtbare) Spiritualität auch in den (sichtbaren) Strukturen verleiblichen. Insofern gilt gerade in der katholischen Kirche, dass die Strukturen alles andere als zweitrangig sind, sondern predigen – Realtheologie predigen. Deshalb ist es ein Widerspruch, von der Synodalität der Kirche zu sprechen, Synodalität als Wesenszug der Kirche zu bezeichnen, das Gemeinsam Kirche-Sein und die Partizipation alle Glieder des Volkes Gottes zu verkünden, dann diese gemeinsame Verantwortung und Partizipation aber strukturell nicht erfahrbar machen zu wollen. Dadurch würde die katholische Kirche weiter massiv an Glaubwürdigkeit verlieren.
Die Autorin
Sabine Demel (*1957) ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Fakultät für katholische Theologie der Universität Regensburg.
Linktipp
Den Beitrag von Jan-Heiner Tück in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" können Sie hier nachlesen.