Don Luigi Sturzo: Verkannter Prophet der italienischen Politik
Es war ein Coup: Mit der Gründung der katholischen Volkspartei Partito Popolare Italiano PPI nutzte Luigi Sturzo eine Gunst der Stunde. Seit dem Ende des Kirchenstaats und der Besetzung Roms 1870 hatte der zutiefst verbitterte Papst den Katholiken eine politische Mitwirkung im neuen Staat und die Teilnahme an Wahlen strikt verboten. Diese Normen ("Non expedit") waren inzwischen aber aufgeweicht und für die Wahlen Ende 1919 von Benedikt XV. außer Kraft gesetzt. Sturzos neue Volkspartei gewann aus dem Stand 20,6 Prozent der Stimmen und 100 Parlamentssitze, er selbst wurde Generalsekretär.
Der PPI verstand sich als moderne demokratische Partei auf der Basis der katholischen Soziallehre – aber nicht als politischer Arm der katholischen Kirche und ihrer Hierarchie. Sie wollte autonom und über-konfessionell sein. Sie trat für Familienschutz, Frauenwahlrecht und Dezentralisierung ein, plädierte für Vereinigungsfreiheit und den Ausbau eines Sozialsystems. Die politische Tätigkeit der Katholiken sollte nicht vom gemeinsamen Glauben, sondern von einem gemeinsamen politischen Programm geprägt sein, forderte Sturzo.
Keine Kooperation mit den Faschisten
Doch dann startete Benito Mussolini 1922 seinen "Marsch auf Rom", der König machte ihn zum Ministerpräsidenten – und damit änderte sich in Italien praktisch alles. Der streitbare politische Prälat Sturzo lehnte jede Kooperation mit den Faschisten und erst recht die Beteiligung an einer Regierung des Duce ab. Aber er konnte sich in seiner teilweise kooperationswilligen Partei nicht durchsetzen. Zudem verweigerte sich der Vatikan seinem Veto gegen das neue Regime.
Denn Pius XI. sah unter Mussolini endlich die Chance für eine Beendigung des seit 1870 zerrütteten Staat-Kirche-Verhältnisses – das schließlich 1929 mit den Lateran-Verträgen bereinigt wurde. Sturzo musste 1926 ins Exil gehen, erst nach England und dann in die USA – wohl nicht ganz freiwillig; der PPI wurde im gleichen Jahr von der Regierung offiziell aufgelöst.
Der Priester Sturzo, am 26. November 1871 im sizilianischen Caltagirone geboren, wurde stark von einem Studienaufenthalt an der römischen Elite-Universität Gregoriana und der damals neuen Sozial-Enzyklika "Rerum novarum" geprägt. Nach seiner Rückkehr förderte er als langjähriger Vizebürgermeister seiner Heimatstadt viele soziale und karitative Projekte. Dabei attackierte er auch die Mafia, die ihre "Tentakeln in Justiz, Polizei, Verwaltung und Politik" ausfahre. Er schrieb Zeitungsartikel und auch ein Theaterstück ("Die Mafia") über ihre Mechanismen von Korruption und Einschüchterung.
Was steckte hinter dem Exil?
Über die genauen Motive und Hintergründe für das Exil des politischen Prälaten sind Historiker und Politiker bis heute uneins. Ob es vorrangig um den persönlichen Schutz Sturzos ging, nachdem Oppositionspolitiker wie Giacomo Matteotti von den Faschisten ermordet wurden? Oder ob die Kirchenleitung den kompromisslosen Geistlichen von Mussolinis Radar nehmen wollte? Für beides finden sich Gründe und Belege.
Im Exil entwickelte Sturzo eine rege schriftstellerische Tätigkeit, ganz besonders zur Totalitarismusforschung. Er verglich Faschismus und Bolschewismus: Der Bolschewismus sei letztlich ein Linksfaschismus und der Faschismus ein Rechtsbolschewismus, schrieb er.
„Insgesamt kann man zwischen Rusland und Italien nur einen einzigen Unterschied feststellen, dass nämlich der Bolschewismus eine kommunistische Diktatur oder ein Linksfaschismus ist und der Faschismus eine konservative Diktatur oder ein Rechtsbolschewismus ist.“
1946 kehrte Sturzo nach Italien zurück. Aber in der von seinem früheren Mitstreiter Alcide de Gasperi gegründete PPI-Nachfolgerin, der christdemokratischen Regierungspartei DC, spielte er keine führende Rolle mehr. Zunächst war er in Sizilien Richter des Obersten Gerichtshofs. 1952 wurde er in Rom "Senator auf Lebenszeit", eher ein Ehrenamt. Er starb am 8. August 1959 und fand in der Erlöser-Kirche seiner sizilianischen Heimatstadt die letzte Ruhestätte.
Inzwischen wird der auch in Italien oft vergessene Priester-Politiker wiederentdeckt. Das seit 1997 laufende Seligsprechungsverfahren – das auf einem guten Weg ist – attestiert ihm Gottverbundenheit, heroischen Gehorsam gegenüber der Kirche, tiefen Sinn für Gerechtigkeit und größte Liebe zu den Armen.
Johannes XXIII. bezeichnete ihn als Musterbeispiel priesterlicher Tugenden, ähnlich Johannes Paul II. Kurienkardinal Stanislaw Rylko nannte ihn bei einem offiziellen Besuch an seinem Grab einen "Apostel der politischen Caritas" und einen "großen Propheten". Sturzo habe weiter, tiefer und schneller als andere die Lage von Kirche und Politik erkannt und gehandelt. Aber wie viele Propheten sei er von seinen Zeitgenossen nicht verstanden und oft verkannt worden. – Mit dem weiteren Seligsprechungsprozess soll sein geistliches und politisches Erbe noch gründlicher gehoben werden.