Moraltheologe Lintner zur Impfpflicht: "Ich bleibe da eher skeptisch"
Beim jüngsten Bund-Länder-Treffen zur Corona-Lage am vergangenen Donnerstag lautetet einer der Beschlüsse, dass der Bundestag "zeitnah" über eine allgemeine Impfpflicht entscheiden soll. Viele Politiker plädieren mittlerweile dafür, auch in der Kirche mehren sich entsprechende Stimmen. Martin M. Lintner, Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen (Südtirol), hat jedoch Bedenken gegen einen solchen Schritt.
Frage: Herr Lintner, in Deutschland wendet sich gerade das Blatt in Richtung Corona-Impfpflicht, Österreich hat sie zum 1. Februar 2022 bereits eingeführt. Viele Moraltheologen begrüßen das aufgrund der sich immer zuspitzenden Lage inzwischen, auch Bischöfe sprechen sich dafür aus. Wie sehen Sie das?
Lintner: Ich persönlich bleibe da eher skeptisch. Ich bin zwar ein großer Befürworter der Impfung, eine generelle Impfpflicht ist aus meiner Sicht aber ein zu schwerwiegender Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte, besonders in das Recht auf körperliche Integrität. Ich sehe natürlich das Dilemma: Bei einer Pandemie in dem Ausmaß, wie wir sie gerade erleben, bräuchte es eigentlich eine viel höhere Impfrate als die, die durch freiwillige Impfungen bislang erreicht worden ist. Aber gerade im medizinethischen Bereich ist das Prinzip der informierten Zustimmung ein Standard geworden, den man nicht unterschreiten sollte.
Frage: Beim Thema Impfen kommen viele ethische Aspekte zusammen. Welche Prinzipien sind da aus moraltheologischer Sicht leitend oder stehen sich gegenüber?
Lintner: Ich würde drei Grundprinzipien nennen: die persönliche Verpflichtung, für die eigene Gesundheit zu sorgen. Die Impfung ist hier ein ganz wichtiges Instrument. Momentan kann man nicht stark genug betonen, dass die Impfung ein medizinischer Fortschritt ist, der sehr viele Menschenleben rettet. Daneben kommt die Verantwortung für die Gesundheit anderer ins Spiel, mit denen man in Kontakt ist. In der aktuellen Pandemie-Situation geht es drittens auch um das Gemeinwohl, das heißt um die Verantwortung, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Zwischen den individuellen Freiheitsrechten, der sozialen Verantwortung und dem Gemeinwohl braucht es immer wieder eine Abwägung.
Frage: Wenn es um die Impfpflicht geht, wird insbesondere das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit angeführt. Hat dieses Recht auch Grenzen?
Lintner: Ich halte die körperliche Unversehrtheit für ein Recht, das ohne die informierte Zustimmung nicht verletzt werden darf. Man kann auch im Sinne der Gewissensfreiheit argumentieren: Wenn jemand der absoluten Überzeugung ist und dafür Gründe hat, die für ihn überzeugend sind, sodass er nicht anders kann, als die Impfung abzulehnen, dann kann er nicht dazu gezwungen werden. Aus meiner Sicht sind viele Argumente der Impfgegner aber nicht stichhaltig und beruhen auf Fehlinformationen. Und ich hoffe tatsächlich, dass durch Überzeugungsarbeit und sachliche Informationen viele dieser Argumente widerlegt werden können. Aber wenn jemand absolut nicht zu überzeugen ist, dann muss man das respektieren. Das heißt aber nicht, dass das für denjenigen keine Folgen haben darf. Ich halte es für durchaus gerechtfertigt, dass Impfverweigerer bestimmte Berufe nicht mehr ausüben dürfen, besonders im Gesundheits- oder Pflegebereich, oder dass sie zum Schutz Dritter und des Gemeinwohls Einschränkungen in Kauf nehmen müssen, beispielsweise durch Kontaktbeschränkung.
Frage: Inwiefern wäre eine Corona-Impfpflicht moraltheologisch begründbar?
Lintner: Ich würde hier differenzieren zwischen moralisch vertretbar und moralisch begründbar. Es gibt Gründe dafür, dass in einer Notsituation etwas vertretbar ist, bei dem ich mich schwertun würde, es allgemein zu begründen.
Frage: Die aktuelle Debatte zeigt, dass die Frage ein enormes gesellschaftliches Spaltungspotenzial hat. Wäre das auch ein ethisches Argument gegen eine Impfpflicht? Schließlich ist ja auch der soziale Frieden in einem Land ein hohes Gut.
Lintner: Die Schwächung des sozialen Zusammenhalts gehört wie die Entlastung des Gesundheitssystems zu den Aspekten, die auf der sozialen Ebene zu berücksichtigen sind. In diesem Fall würde ich aufgrund der akuten Notlage aber Letzteres schwerer gewichten.
Frage: Eingangs kam ja schon zur Sprache, dass inzwischen auch Bischöfe für eine Impfpflicht offen sind – zuletzt ganz prominent der Münchner Kardinal Reinhard Marx. Aus dem heraus, was Sie gerade ausgeführt haben: Wie bewerten Sie das?
Lintner: Ich möchte dem Kardinal auf keinen Fall in den Rücken fallen. Aber wie er richtig sagt: Letztlich ist es eine politische Entscheidung. Und ich finde, die Kirche sollte sich bezüglich einer gesetzlichen Impfpflicht zurückhaltend äußern, sich jedoch weiterhin entschlossen für die Impfung aussprechen. Es ist jedenfalls begrüßenswert, wenn Kirchenvertreter die Verantwortung wahrnehmen, dass in dieser Situation alles Mögliche getan werden muss, um die Pandemie zu überwinden. Sie sollten auch ihr eigenes Vertrauen in die Wissenschaft und in die medizinische Forschung zum Ausdruck bringen und klarmachen, dass eine Impfung ein guter Schutz für sich selbst und für andere ist, in der aktuellen Lage sogar ein Akt der Nächstenliebe. Auch dass sie beim Impfen von einer moralischen Pflicht sprechen, ist gerechtfertigt. Aber auf der anderen Seite muss auch die Kirche den Einzelnen die Entscheidungsfreiheit lassen, das heißt, sie muss respektieren, wenn sich manche nicht impfen lassen wollen.
Frage: Sie haben es ja bereits gesagt: Selbst wenn eine Impfpflicht Ihrer Meinung nach nicht das Mittel der Wahl ist, geht es darum, so viel wie möglich zu impfen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Welches Instrument könnten sie sich da vorstellen?
Lintner: Ich könnte mir vorstellen, dass jene, die eine Impfung verweigern, sich stärker dafür rechtfertigen müssen. Man könnte sie dezidiert zu einem Aufklärungsgespräch vorladen, bei dem sie ihre Vorbehalte erklären müssen und diese auch einem wissenschaftlichen Faktencheck unterzogen werden. Vielleicht würde das dazu führen, dass sich mehr Menschen zur Impfung bereit erklären. Eine höhere Impfquote wird eine längerfristige Notwendigkeit sein.
Frage: Manche Menschen scheinen schier Angst vor der Impfung zu haben. Woher, schätzen Sie, kommt das?
Lintner: Das kann unterschiedliche Gründen haben. Manchen Menschen haben schlichtweg eine Phobie vor Nadeln. Andere haben Angst vor möglichen Nebenwirkungen beziehungsweise. Impfschäden, die es ja durchaus gibt. Wenn jemand aus medizinischer Sicht ungünstige Dispositionen hat, ist die Skepsis gegenüber einer Impfung ja begründet. Letztlich gilt es, die Gefährdung durch eine mögliche Erkrankung abzuwägen mit den möglichen Impfrisiken. Und hier zeigen die medizinischen Daten, dass im Allgemeinen diese Abwägung deutlich für eine Impfung spricht. Wieder andere sind der Ansicht, dass besonders die mRNA-Impfstoffe noch zu wenig erforscht seien oder bislang noch nicht bekannte Langzeitwirkungen haben könnten. Es gibt zwar mehrheitliche Meinungen von Virologen und Ärzten, die diesbezüglich beruhigen. Aber auch aus diesen Fachkreisen gibt es skeptische Stimmen, was viele verunsichert. Dazu kommen dann recht abstruse Verschwörungstheorien.
Frage: Auch manche Christen haben gundsätzliche Bedenken, was das Impfen angeht. Wie steht die Kirche, genauer gesagt das Lehramt, zu diesem Thema?
Lintner: Generell hat sich die Kirche bisher immer positiv dazu geäußert. Die Aussagen, die mir bekannt sind, beziehen sich hauptsächlich auf die Frage, ob man Impfstoffe verwenden darf, für deren Herstellung oder Testung Zelllinien aus abgetriebenen Embryonen verwendet wurden. Da hat sich das Lehramt mehrfach dazu positioniert. Schon vor über 15 Jahren hieß es, dass auch solche Impfstoffe moralisch vertretbar sind, bei denen Zelllinien verwendet werden, die nicht aus aktuellen Abtreibungen gewonnen wurden. Man hat also klar gemacht, dass der Empfang eines solchen Impfstoffs weder eine Mitwirkung an einer Abtreibung noch eine Zustimmung zu einer Abtreibung, die in der Vergangenheit stattgefunden hat, bedeutet. Das ist ja auch bei den mRNA-Corona-Impfstoffen der Fall. Deshalb hat der Vatikan auch diese ausdrücklich für moralisch vertretbar erklärt. Ich bin auch tatsächlich von Leuten kontaktiert worden, die nicht wussten, wie sie mit der Corona-Impfung umgehen sollten, weil sie Abtreibung grundsätzlich ablehnen. Ich habe den Eindruck, dass ihre Vorbehalte durch die Erklärung der lehramtlichen Position ausgeräumt werden konnten.
Frage: Dennoch scheint es vor allem bei traditionalistisch gesinnten Katholiken eine Ablehnung der Corona-Impfung zu geben. Geht es da wirklich nur um konsequenten Lebensschutz – oder spielen da auch andere Motive eine Rolle?
Lintner: Ich glaube, bei diesen ist das zu einer ideologischen Frage geworden. Da ist der Lebensschutz meines Erachtens bloß ein vorgeschobenes Argument. Wenn man diese Impfung ablehnt, schützt man nicht das Leben Ungeborener. Es geht gerade darum, Gesundheit und Leben durch eine Impfung zu schützen. Ich bekomme da auch manchmal ganz abstruse Zuschriften. Da kommt man mit einer sachlichen Argumentation nicht weiter.