Zwischen moralischer Pflicht und Sippenhaft

Eine katholische Akademie wagt ein offenes Ringen ums Impfen

Veröffentlicht am 10.12.2021 um 12:39 Uhr – Lesedauer: 

Würzburg ‐ Es ist ein hochemotionales Thema: die Impfpflicht. Vielen erscheint sie als die Lösung. Dass es etwas komplizierter ist, zeigt das Ringen zwischen einem Virologen, einem Juristen und einem Ethiker.

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Der Bundestag hat die Impfpflicht für Pflegekräfte beschlossen. Beim verpflichtenden Pieks für alle geht es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. Warum also noch diskutieren? Doch ein digitaler Akademieabend in der katholischen Domschule Würzburg zeigte am Donnerstag: So einfach wie mancher Ministerpräsident es suggeriert, ist die Frage dann doch nicht.

"Ich tue mich schwer, jemandem zu erklären, warum ein 18-jähriger Auszubildender in einem Altenheim sich impfen lassen muss, während parallel der 90-jährige Bewohner die Impfung ablehnen kann", sagt Lars Dölken, Professor für Virologie an der Uni Würzburg. Eine allgemeine Impfpflicht hält er im Grundsatz für richtig. Doch leicht macht er es sich nicht. Er hätte sich vom Sommer an eine nach Altersgruppen gestaffelte Impfpflicht gewünscht, von den Hochbetagten angefangen bis zu den über 30-Jährigen.

Dass jetzt vor allem der Fokus auf Kindern und Jugendlichen liegt, kann Dölken nicht verstehen. Sie würden in "Sippenhaft" genommen, um Versäumnisse der Älteren auszubaden, für die Corona ein deutlich höheres Risiko sei. Für den Virologen gilt: Menschen über 30 Jahre sollte man die Impfung auferlegen und nicht ihrer persönlichen Entscheidung überlassen. Denn sie seien es, die im Zweifel das Gesundheitssystem belasteten.

Verfassungsrechtler ist deutlich zurückhaltender

Deutlich zurückhaltender argumentiert der Verfassungsrechtler Horst Dreier. Für ihn sei die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht so leicht zu beantworten, sagt das Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Außerdem verweist er auf die bisher vorläufige Zulassung der mRNA-Impfstoffe und fehlende Langzeitstudien. Es stelle sich daher die Frage, ob eine kombinierte alters- und berufsgruppenspezifische Impfpflicht nicht doch ausreiche.

Die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht, "die von manchen Politikern mit einer gewissen Vehemenz und auch einer gewissen Selbstsicherheit präsentiert wird", sieht er skeptisch. Deshalb sei es richtig, wenn man diese Frage ohne Fraktionszwang im Bundestag entscheide.

Gerhard Kruip im Porträt
Bild: ©Peter Pulkowski/Uni Mainz (Archivbild)

Der Theologe Gerhard Kruip ist Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Universität Mainz.

Auch der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip outet sich nicht als uneingeschränkter Impfpflicht-Befürworter. Es gebe eine moralische Pflicht zum Impfen. Dafür, diese auch rechtsverbindlich zu machen, spreche etwa, dass eine "Trittbrettfahrer-Position" attraktiv werde, in der Ungeimpfte von den Erfolgen der Impfung der anderen profitierten. Doch auch er frage sich, ab welchem Alter diese gelten sollte und wie sie zu sanktionieren sei.

"Niemand wird von zwei Polizisten festgehalten werden und der dritte Polizist spritzt mit der Nadel in den Oberarm", sagt dazu der Verfassungsrechtler. Und bemüht Ironie: "Das Effektivste wäre natürlich Führerscheinentzug, dann hätten wir sofort eine Impfquote von 90 Prozent." Dreier wirft zudem die Frage auf, ob denn alle Maßnahmen jenseits einer Impfpflicht schon ausgereizt seien, um die Quote zu erhöhen.

Nur fünf Prozent hartnäckige Querdenker und Impfverweigerer

Letztlich gebe es vielleicht nur fünf Prozent hartnäckige Querdenker und Impfverweigerer, schätzt Dreier. Deshalb hält er auch nichts davon, von einer Spaltung der Gesellschaft zu sprechen. Diese sieht jedoch Sozialethiker Kruip längst gegeben. Eine Wut auf Ungeimpfte spüre er nicht, sagt der Virologe. Von der Politik dagegen ist er frustriert, weil sie zu wenig aufgeklärt habe. Impfgegner vergleicht Dölken mit Kindern, "die die falsche Information haben".

Ihm ist anzumerken, wie sehr ihn das Agieren der Verantwortlichen in der Pandemie in den vergangenen Monaten aufwühlt. "Ich finde es als Virologe total beschissen: Es wird viel über Ethik diskutiert, aber nur über die, die sich impfen lassen müssen." Über die Folgen für die Inhaber von Geschäften, für Schüler und Kinder aber kaum.

Am Ende des Abends lässt sich festhalten: Das Wagnis hat sich gelohnt. Was TV-Talkshows oft nicht einlösen, hat in diesem von der Würzburger Domschule organisierten, geschützten und zudem öffentlichen Raum funktioniert: Sachlich und unaufgeregt wurde ein Thema kontrovers erörtert, das die Gesellschaft derzeit extrem polarisiert. Vielleicht ein Fingerzeig, wozu Akademien auch künftig gebraucht werden, wenn die finanziellen Spielräume der Kirchen enger werden.

Von Christian Wölfel (KNA)