Historiker zu Missbrauch: "In Deutschland zehn Jahre verschlafen"
Nicht immer war die Kirche so nachsichtig mit kriminellen Priestern wie mit vielen Missbrauchstätern nach 1945. Das berichtet der in den USA lehrende Theologe und Kirchenhistoriker Ulrich Lehner im Interview. Er spricht auch über eine "laxe Sexualmoral" und die Aussagen von Benedikt XVI. zu Missbrauch. Außerdem wirft der aus Bayern stammende Hochschullehrer der Kirche in Deutschland Versäumnisse bei der Aufarbeitung und Prävention des Missbrauchs vor.
Frage: Professor Lehner, der Missbrauchsskandal beschäftigt einmal mehr die deutschen Katholiken. Sie sind Deutscher, unterrichten aber Kirchengeschichte in den USA. Dort beschäftigt der Missbrauch die Kirche seit den 1980er Jahren. Wo liegen die Unterschiede?
Lehner: In den USA hat man die Reform der Priesterausbildung mit ausführlichem Screening der Kandidaten bereits vor 20 Jahren begonnen. Als ich damals von einem Studienaufenthalt nach München zurückkehrte und dem Leiter des Priesterseminars davon erzählte, hat er nur gelacht: "Solche Auswüchse gibt's auch nur in den USA." Dass man in Deutschland nicht schon kurz nach 2001 mit Reformen und Kinderschutz begonnen hat, ist mir unbegreiflich. Man hat zehn Jahre verschlafen – aus Arroganz. Und noch eins: In den USA hat man die Missbrauchskrise nicht dazu benutzt, die gesamte Ekklesiologie und Sexualmoral in den Graben zu befördern. Die verbesserte Katechese und Glaubenserneuerung seit 2001 hat daher auch nicht zu den Austrittswellen wie in Deutschland geführt.
Frage: Sie sprechen von "verschlafen" und "Arroganz". Woran machen Sie das fest?
Lehner: Ich darf Ihnen ein Beispiel aus einer österreichischen Diözese erzählen: Dorthin hatte sich ein im Bistum Regensburg bereits rückfällig gewordener und verurteilter Missbrauchstäter, ein Laie, nach seinem zweiten Gefängnisaufenthalt angesiedelt. Als ich davon hörte, informierte ich den dortigen Generalvikar – denn der Missbrauch hatte in meiner Heimatpfarrei stattgefunden und ich erinnerte mich gut daran. Der Generalvikar schritt dann 2020 auch gleich ein. Aber: Weder Pfarrei noch Bistum hatten vorher im Heimatbistum nachgefragt oder die "Berufungsgeschichte" überprüft. Eine Pastoralassistentin vor Ort hat mir sogar einen bösen Brief geschrieben – der Mann sei doch "bekehrt", da spreche doch nichts gegen den Einsatz in der Firm- oder Theatergruppe. So etwas gäbe es in den USA gar nicht, weil man ein polizeiliches Führungszeugnis schon seit dem Jahr 2001 vorlegen muss.
Frage: Momentan sieht sich Benedikt XVI. vor allem im deutschen Sprachraum schweren Anschuldigungen ausgesetzt. Einst machte er die "Sexuelle Revolution" für den laxen Umgang mit Missbrauch verantwortlich, jetzt beruft er sich in seinen Einlassungen entschuldigend auf den "Zeitgeist" ...
Lehner: Die Einlassungen Benedikts haben mich gewundert, da Joseph Ratzinger bekannt gewesen sein musste, wie lax sein Generalvikar in München mit Vergehen gegen das sechste Gebot umging – vor allem bei heterosexuellen Beziehungen. Dass das schon lange geläufige Praxis war, wusste er auch. Das Ausmaß war aber nach 1968 wohl noch größer. Als Wissenschaftler scheint er seinem Generalvikar gerade die administrativen Dinge anvertraut zu haben, die ihm nicht lagen – und bei denen man vor allem in den erschütternden Abgrund der Sünde blicken muss. Aber später als Präfekt der Glaubenskongregation wird eine andere Handschrift deutlich. Dort setzte er sich fraglos gegen Widerstände dafür ein, dass die Ortsbischofe nicht mehr nach Belieben vertuschen oder handeln konnten.
Frage: Den Münchner Gutachtern fiel auf, es habe in der Nachkriegszeit einen Bruch im Umgang mit Missbrauchsfällen gegeben.
Lehner: Erstaunlich ist, dass sie vor allem Kardinal von Faulhaber ein stringenteres Vorgehen gegen Missbrauch zugutehalten als seinen Nachfolgern. Das ist natürlich ein Armutszeugnis für Generalvikare und Offiziale, vor allem aber für die Bischöfe. Bei Faulhaber konnte man ein Augenmerk auf den Opferschutz erkennen, wenn er Täter ins Kloster schickte. Aber auch er hat schwere Fehler gemacht, obwohl er eher kirchenrechtskonform handelte als seine Nachfolger. Während in seiner Amtszeit die Furcht vor Skandalen handlungsleitend gewesen sein durfte, scheint ab etwa 1945 auch falsch verstandene Nachsicht dazugekommen zu sein. Hier scheint mir im Herzen der Kirche bereits eine laxe Sexualmoral angekommen zu sein, noch bevor sie nach 1968 "gesellschaftsfähig" wurde: Verfehlungen von Priestern gegen das sechste Gebot wurden oft heruntergespielt. Und das war ein Verrat am Gottesvolk in dreifacher Hinsicht: Verrat an den Opfern, Verrat der Lehre der Kirche und Verrat an den Laien, die sich keines solchen "Klerikerprivilegs" erfreuten und schon bei der Benutzung von Verhütungsmitteln oberlehrerhaft ermahnt wurden.
Frage: Warum hat man das kanonische Recht zwischen 1960 und 2000 kaum angewendet?
Lehner: Ich vermute, dass man sich auf das Ermessen des Bischofs berief und auf eine freiere Handhabung des Kirchenrechts. Täter waren oft auch sehr "kreativ" mit ausgeklügelten "Erklärungen", die nach außen verschleierten, was sie getan hatten. So war es etwa in dem Fall aus meiner Heimatpfarrei: Der Täter konnte nicht verbergen, dass er im Gefängnis saß und erfand daraufhin die Geschichte eines Drogendeliktes und hatte mit dieser Mitleidstour in zahlreichen Pfarreien Erfolg. Das dürfte bei Klerikern nicht anders sein. Obere schritten aber oft auch nicht ein, wenn kriminelle Priester etwas über Vorgesetzte in der Hand oder aber gute politische Beziehungen hatten.
Frage: Welche Konsequenzen sollten die Verantwortlichen jetzt ziehen?
Lehner: Die Aufarbeitung ist auch eine Chance. Man muss aber reinen Tisch machen. Die Akteure von damals, die aus falsch verstandener Nachsicht oder mangelndem Mut Täter geschont haben, müssen weg. In München betrifft das etwa Offizial Lorenz Wolf, aber auch der frühere Generalvikar Peter Beer ist als Vertreter des Opferschutzes für mich wenig glaubwürdig. Bischofsrücktritte aber wären mir zu einfach – das Aushalten des gesellschaftlichen Drucks für schuldhaftes Unterlassen oder Handeln kann auch eine heilsame Seite haben. Verantwortung übernehmen kann ja nicht heißen, sich mit einer hohen Pension in den Vorruhestand zu verabschieden.
Frage: Was bedeutet das für künftige Bischofsernennungen?
Lehner: Die werden schwieriger werden, weil man sichergehen muss, dass keiner der Kandidaten in Vertuschung verwickelt ist. Und leider hat man in Deutschland auch noch nicht die Lektion gelernt, dass Kirchenreform mit der inneren Reform beginnen und enden und daher mit einer Glaubensinitiative einhergehen muss.
Frage: Noch eine Frage an den Historiker: War die Kirche immer so lax im Umgang mit Verfehlungen ihrer Kleriker?
Lehner: Nein! Ich habe Strafurteile gegen Ordensleute im Zeitraum von 1600 bis 1800 untersucht und mit dem Buch "Im Klosterkerker" vorrangig das dunkle Kapitel gewalttätigen Machtmissbrauchs von Ordensoberen bis hin zur fahrlässigen Tötung und deren Vertuschung aufgearbeitet. Nach meinen Forschungen in Gerichtsakten von 1600-1800 haben etwa zwei bis drei Prozent der Kleriker handfeste Delikte verübt, etwa Diebstahl, Urkundenfälschung, unsittliche Berührung, Vergewaltigung. Missbrauch von Kindern war allerdings selten – meist waren die Opfer sexueller Gewalt junge erwachsene Frauen. Ein verurteilter Kleriker wurde in einem Kerker des Bischofs oder eines Klosters eingesperrt – und oft auch mit schweren Körperstrafen behandelt. Die Quellenlage ist allerdings auch sehr schwierig, da die Akten turnusmäßig zerstört wurden. Man wollte so verhindern, dass Geheimes in die Öffentlichkeit gelangt und einen Skandal erregt. Bisher hat sich mit der Erforschung der Strafkultur niemand beschäftigt. Aber deutlich wurde: die Kirche vergoss durchaus das Blut ihrer Kleriker – zwar nicht durch die Todesstrafe, aber durch Folter und Tortur.
Frage: Hat sich das nach 1800 geändert?
Lehner: Ja, denn sobald diese Kerker durch den Staat im 18. Jahrhundert verboten wurden, gab es ein Problem. Wohin mit kriminellen Priestern? Zuerst hatte man bis ins 19. Jahrhundert "Korrektionsanstalten", wo sie unter strenger Aufsicht standen – aber dann hat man begonnen, Taten einfach zu vertuschen, indem man Priester versetzte. Die Nazis haben später gezielt kirchliche Archive nach solchen Akten durchwühlt, um mit den "Sittlichkeitsprozessen" die Kirche in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. 1937 hat daher der Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli dem Berliner Bischof Kardinal Konrad von Preysing empfohlen, diese Akten zu vernichten. Solche Aktenvernichtungen gab es turnusmäßig. Nur wenn der Staat die Akten an sich nahm, wurden sie im Archiv überliefert. Es gibt etwa im Franziskanerkloster Wien im Archiv zwei Akten "Klosterkerker" – aber nur die Aktendeckel!