Ebertz: Bindung der Menschen an Kirche ist höher als man denkt
Im vergangenen Jahr sind fast 360.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mehr als 20 Millionen sind jedoch weiterhin Mitglied. Was hält sie? Der Religionssoziologe Michael N. Ebertz lehrt Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg. Im Interview spricht er darüber, warum Menschen in der Kirche bleiben und wie verschiedene Generationen darüber denken.
Frage: Herr Ebertz, warum bleiben Menschen trotz allem Mitglied einer Kirche?
Ebertz: Es ist tatsächlich verwunderlich, dass bei allem Austrittsfuror doch so viele Menschen bleiben. Das liegt daran, dass die Bindung vieler Menschen an die Kirche höher ist, als man landläufig denkt. Es gibt aber nicht nur die eine Bindung, sondern verschiedene Arten und Verflechtungen von Bindungen. Die verändern sich mit der Zeit, mit Blick auf die Qualität der Bindung und die verschiedenen Generationen. Alles in allem gesehen sind die Bindungen allerdings relativ stabil, es gibt eine Trägheit, die Kirche zu verlassen.
Frage: Welche unterschiedlichen Bindungen gibt es?
Ebertz: Wenn wir von empirischen Daten ausgehen, können wir einerseits die Intensität von Bindungen unterscheiden, von einer ganz engen Bindung über eine kritische Bindung bis hin zu einer Mitgliedschaft lediglich auf dem Papier. In Deutschland gibt es eine kleine Minderheit der Kirchenmitglieder von etwa 15 Prozent, die für sich eine enge Kirchenverbundenheit angeben. Dagegen sieht sich ein großer Teil von 45 Prozent der Kirche kritisch verbunden. Die verbleibenden 40 Prozent haben keine positiven Gefühle der Kirche gegenüber, gehören ihr aber faktisch an. Diese letztgenannte Gruppe lässt sich mit der Staatsbürgerschaft vergleichen. Viele Menschen sind Deutsche, fühlen dem Land gegenüber jedoch nichts. Bei diesen faktisch Verbundenen gibt es Menschen, die sich als Christen bezeichnen genauso wie jene, die von sich sagen, sie seien lediglich religiös und hätten mit alldem nichts am Hut. Unter den Katholikinnen und Katholiken gibt es also ganz unterschiedliche Facetten.
Frage: Was schätzen die Menschen denn an der Kirche?
Ebertz: Da würde ich vier verschiedene Bindungslogiken unterscheiden. Da ist zunächst die traditionale Bindung, die bedeutsamer ist, als man vielleicht denkt. 80 Prozent aller Kirchenmitglieder sind mit der Kirche verbunden, weil das ein gewohnter, selbstverständlicher Teil ihrer Normalbiografie ist, den sie kaum hinterfragen. Dieser Modus ist trotz aller Erschütterungen noch stabil.
Daneben gibt es die zweckrationale Bindung. Das bedeutet ein kalkuliertes Tauschverhältnis: Die Kirche ist ein großer Arbeitgeber, da hat es für viele Menschen wirtschaftliche Vorteile, Mitglied zu bleiben. Zudem wird die Kirche als privater ritueller Dienstleister geschätzt, also etwa für Beerdigungen, Taufen oder Hochzeiten. Es gibt zwar private Konkurrenz auf dem Markt, das sind aber rituelle Kleinunternehmer in den Nischen, die Kirche hat immer noch ein Quasi-Monopol. Dazu gehört auch, dass viele Menschen die Kirche als Sozialagentur für Arme, Alte und Migranten schätzen. Zudem finden diese Menschen es gut, wenn sich die Kirche hin und wieder in die öffentliche Diskussion bei ethischen Themen einmischt und dass es in Kirchen Begegnungen ganz unterschiedlicher Menschen gibt. Sie stellen sich vor, wie es wäre, wenn es die Kirche nicht gäbe – und sie betrachten das nicht als eine wünschenswerte Situation.
Frage: Und das dritte Band?
Ebertz: Das ist das wertrationale. Während beim zweckrationalen Band die Kirche prinzipiell ersetzbar wäre, ist sie das hier nicht. Die Kirche wird als Zweckdienstleister für kollektive Riten wahrgenommen, also Gottesdienste zu Weihnachten oder nach öffentlichen Katastrophen. Auch wird die Schönheit traditioneller Riten selbst bei jungen Leuten sehr geschätzt, obwohl sie immer weniger den spezifisch christlichen Glauben teilen und ihre Lebensgrundlage als christlich verstehen. Bei der Frage "Ist Jesus Christus jemand, in dem sich Gott zu erkennen gibt?" gehen die Ansichten zwischen den Generationen weit auseinander. Ebenso bei dem Statement "Das Christentum ist die Grundlage meiner Lebensführung". Die Kirche ist auch ein geschätzter Ort für interne Pluralität. Das ist nicht wie bei einer Sekte oder Freikirche, wo man gezwungen wird, etwas Bestimmtes zu glauben. Wer in der Kirche nicht an alles glaubt, was sie lehrt, und zum Beispiel auch an Wiedergeburt glaubt, wird nicht verfolgt, sondern darf weiterhin uneingeschränkt mitmachen. Niemand wird etwa aus dem Gottesdienst geworfen wegen so etwas. Man kann es so sagen: "Unter dem Krummstab des Bischofs lässt es sich weitaus liberaler leben als in einer kleinen Freikirche." Niemand kontrolliert, welche Meinung man zu Priesterinnen hat oder mit wem man ins Bett geht. Die Kirche ist also auch ein Ort der Toleranz. Außerdem ist die Mitgliedschaft in Freikirchen und Sekten teurer als der katholischen Kirche anzugehören.
Als letztes gibt es noch die affektuelle Bindung, die am ehesten schwächer wird. Die Kirche als einen Ort der Gemeinschaft zu erleben, wo man sich aufgehoben fühlt und dem Glauben emotional Ausdruck verleihen kann - das ist eigentlich nur noch bei älteren Menschen so.
Frage: Wie wandeln sich diese Bindungen?
Ebertz: Lassen Sie uns zum Beispiel auf die affektuelle Bindungen schauen, da spielen oft charismatische Priester eine große Rolle. Davon gab es vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil einige, die Vorbilder waren und zu denen man aufschaute, die galten als authentisch. Diese direkte personale Erfahrung bricht weg, auch, weil es generell weniger Priester gibt. Je mehr Feiern zu Lebenswenden wie Taufen oder Beerdigungen an Diakone oder Laien abgegeben werden, desto weniger werden Priester als möglicherweise charismatische Personen erlebbar. Und die Gemeinschaftserfahrungen vor Ort in den Gemeinden werden sehr speziell, nämlich milieugebunden. Immer mehr junge Menschen empfinden dort eher Enge als Weite.
Man kann generell sagen: Die Qualität und Intensität der Bindungen wird lockerer und disponibler. Untersuchungen zeigen, dass nur bei einer Minderheit der Kirchenmitglieder die Kirchenbindung über die Jahre stabil geblieben ist, nur bei wenigen ist sie gewachsen. Beide Gruppen zusammen machen nicht einmal ein Drittel der Kirchenmitglieder aus. Bei allen anderen ist die Kirchenbindung zurückgegangen.
Die traditionale Bindung ist also noch erstaunlich stabil, zweck- und wertrationale Bindung ebenso, auch zwischen den Generationen. Allerdings gibt es ein intergenerationales Schwächeln bei der Glaubensbindung. Da gibt es massive Einbrüche, auch bei der affektuellen Bindung an die Geistlichen und die Gemeinden vor Ort.
Frage: Aber es gibt auch Konstanten.
Ebertz: Oh ja! Die Austrittsbereitschaft ist unglaublich gering. Da muss man auch die Zahlen im Blick behalten: 360.000 Menschen treten im Jahr aus der katholischen Kirche aus, aber mehr als 20 Millionen bleiben drin. Trotz institutionellem und moralischem Versagen des Systems Kirche und seiner Skandalisierung kehren sie ihr nicht den Rücken. Starke Austrittsneigungen haben nicht einmal zehn Prozent der Kirchenmitglieder. Ob die dann wirklich austreten, ist auch fraglich. 60 Prozent wollen nämlich bleiben und 80 Prozent bleiben letztlich tatsächlich. Die Art und Weise der Bindung wandelt sich also, aber es gibt eine hohe Bleibestabilität. Die Kirche gehört zur Familie wie die Oma, deren altbackene Ansichten man vielleicht nicht teilt, deren Zugehörigkeit zum eigenen Leben aber nicht in Frage gestellt wird. Zusammen mit dem sozialen Nutzen der Kirche und den Ritualen für die Gesellschaft und Einzelpersonen sind das die Pfeiler einer relativ stabilen Kirchenbindung.
Frage: Welche Rolle spielen da die Missbrauchsfälle, unverständliche Moralvorstellungen oder die Diskriminierung von Frauen?
Ebertz: Das finden die Leute schlimm, aber die Empörung hat kaum Austrittsrelevanz. Jedenfalls nicht bei den meisten. Nur bei den wenigen mit starker Austrittsneigung kann ein Skandal dazu führen, dass sie die Kirche verlassen. Bei den meisten ist das eine Frage der eigenen Identität, die man sonst infrage stellen würde. So erscheint die Kirche derzeit immer noch als ultrastabil.
Frage: Wird das so bleiben oder wird sich das mit den heute jungen Menschen der Generation Z verändern?
Ebertz: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat das mal untersuchen lassen. Dabei kam heraus, dass diese Gruppe die erste "nachchristliche Generation" der letzten Jahrhunderte sei. Diese These finde ich ein wenig überzogen. Diese drei Säulen der Bindung Familie, Sozialagentur und Riten wirken weiter. Kein anderer kann das so gut wie die Kirche. Mehr als die Hälfte der jungen Leute schätzt katholische Rituale, das ist auch ein ästhetisches Votum. All das gilt auch für die Jungen. Die Glaubensbindung nimmt massiv ab, aber sie bleiben trotzdem. Das ist ein Leben im Spagat: Mit der kirchlichen Sexuallehre hat man keine Probleme mehr, man ignoriert sie, man teilt auch nicht alle Glaubenssätze, aber die Ethik und das Soziale findet man schon gut und man fühlt, dass es etwas Höheres gibt. Auch dafür ist die Kirche ein gesellschaftlicher Platzhalter. Das reicht, um doch nicht auszutreten.