Wenn Bischöfe beim Synodalen Weg mit der Tradition argumentieren
Das 2. Vatikanische Konzil (1962-65) hatte seine Novemberkrise. Der Synodale Weg hat seit der vergangenen Woche seinen Donnerstagschock. Der Vergleich ist hoch gegriffen, aber er markiert einen Einschnitt in beiden Kirchenversammlungen. Was er für die katholische Kirche in Deutschland nach sich zieht, ist dabei noch nicht ausgemacht. Das Konzil konnte jedenfalls noch wichtige Dokumente verabschieden, nicht zuletzt die so umstrittene wie weg-weisende Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Die Krise als Mutmacher für die Reformer? Welche Schritte auch folgen mögen: dass die Verabschiedung des Grundtextes "Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft" mit einer bischöflichen Sperrminorität blockiert wurde, bleibt nicht nur im Gedächtnis. Für die Einschätzung der bischöflichen Autorität gibt es in Deutschland ab jetzt ein Vorher und ein Nachher.
Das Verhalten jener Bischöfe, die sich den Perspektiven und der Argumentation eines Textes verweigerten, den man zuvor mit allen erforderlichen Mehrheiten auf den Abstimmungsweg gebracht hatte, wurde bereits auf der Synodalversammlung eingehend analysiert und kommentiert. Eigene Aufmerksamkeit verlangt der Blick auf die beanspruchten Argumente. Zum Teil hatten sie einen spezifischen Sachbezug, wenn z. B. auf eine naturgegebene Zweigeschlechtlichkeit rekurriert wurde. Im Hintergrund aber spielte vor allem der Bezug auf die Wahrung des depositum fidei aus Schrift und Tradition sowie der kirchlichen Lehrüberlieferung eine, vielleicht die entscheidende Rolle. An die Grundlagen des Glaubens dürfe eine Synodalversammlung nicht rühren. Und tatsächlich macht der Synodale Weg mit seinen sexualethischen Optionen und dem – bischöflich mitgetragenen – Prüfvorschlag einer Ordination von Frauen Avancen auf eine Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre. Das geschieht übrigens nicht auf einem deutschen Sonderweg, sondern ausweislich verschiedener ortskirchlicher Voten zum synodalen Prozess des Papstes sowie der Beobachter aus benachbarten europäischen Ländern in einer weltkirchlichen Verbundenheit.
Die Bildung von Traditionen, ihre normative Festlegung und Wahrung stellt selbst einen fortlaufenden geschichtlichen Aneignungsprozess dar, wie sich in Diskussionen zwischen Bischöfen auf der Synodalversammlung zeigte. In einer eindringlichen Wortmeldung erinnerte der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp an den Treueeid, den er als Bischof abgelegt habe: die Glaubenslehre der Kirche unverfälscht zu wahren. Dem schlossen sich in der Aussprache nach dem synodalen Abstimmungseklat verschiedene Bischöfe an – freilich mit anderer Akzentsetzung. Bischof Franz-Josef Bode wies auf die Bedeutung lebendiger Tradition hin. Die Überlieferung des Evangeliums, seine Verschriftlichung und verbindliche Anerkennung er-schöpfen sich nicht in Formelwiederholungen. Die traditio Christi zielt – im Wortsinn – auf Aktualisierung, mit der Menschen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu in ihrem Leben Raum geben. So wie sich in der Liturgie jeder Traditionalismus als unhistorisch, letztlich als fundamentalistisch erweist, so bedarf es in der Feststellung des Wahrheitswertes kirchlicher Überlieferung immer neuer Auslegung. Was bedeutet es, über die Rolle von Frauen jenseits patriarchaler Rollenfestschreibungen in der Kirche zu sprechen? Welche Impulse gehen von Lebens- und Kulturwissenschaften für die Einschätzung von Geschlechtsfestlegungen und für sexualethische Normen aus?
Zugang zu Gottes Offenbarung nicht jenseits der Geschichte
Die entsprechenden Argumente sind auch der reformkritischen Synodenminorität bekannt. Sie brechen sich an der Beharrungsfestigkeit eines Glaubens, der aus der Konzilien- und Dogmengeschichte ein Destillat des Unbezweifelbaren macht. Aus den altkirchlichen Diskussionen nach dem Konzil von Nikaia (325) ist dieser Vorgang bekannt. Nachdem man einmal eine christologische Formel gefunden hatte, wollte eine im Formsinn konservative Allianz von Theologen und Bischöfen nicht mehr über sie hinaus. Klärungsdruck angesichts neuer Interpretationsvorschläge zur Koordination der unverkürzten Menschlichkeit und wahren Göttlichkeit Jesu Christi führte später zur Lehrformel des Konzils von Chalkedon (451). Das Konzil bietet eine bleibend gültige Lösung an: ungetrennt und unvermischt sind die beiden "Naturen" Jesu Christi aufeinander zu beziehen.
Mit dieser Regel lässt sich theologisch-kirchliche Überlieferungsarbeit bis heute orientieren. Ein Zugang zur Offenbarung Gottes lässt sich nicht jenseits der Geschichte erreichen, sprich: anders als interpretativ. Das 2. Vatikanische Konzil nutzt deshalb eine begriffliche Differenzierung, um das Geschehen der Selbstmitteilung Gottes als Selbstoffenbarung zu qualifizieren (Dei Verbum 2 und 6). Manifestation und Kommunikation Gottes sind aneinandergekoppelt. Wenn das Wort Gottes beim Menschen nicht ankommt, offenbart es nichts. Dass Gott gesprochen hat, bedarf der Einsicht, einer – kirchlichen – Unterscheidung der Geister. Wenn diese Offenbarung in Schrift und Tradition kommuniziert wird, braucht es aber dennoch einer Deutung, um das Evangelium in der jeweiligen Gegenwart angemessen zu verstehen und zu leben. Darum bedarf es des Lehramts, das in besonderer, aber nicht exklusiver Weise von den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Papst, jedoch nicht ohne den Glaubenssinn des Volkes Gottes evaluiert wird (Dei Verbum 9 und 10). Und so gilt: "Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen." (Dei Verbum 8)
Was sich in der Verbindung von Schrift, Tradition und Lehramt als ein komplexes Bestimmungsverfahren kirchlicher Lehrdarstellung, sprich: Traditionsbildung und -wahrung, vollzieht, greift bezeichnenderweise auf dem 2. Vatikanischen Konzil zurück gerade bei der Ausarbeitung der sakramentalen Dimension des Bischofsamtes. Man mag das Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, "Christus Dominus", als Präzisierung, als innere Konsequenz gelebter Lehre bezeichnen – aber es handelt sich der Sache nach um eine traditionsauslegende Traditionsbildung. Um eine interpretative Entwicklung. Wenn sie bei der Lehre von den Bischöfen greift, deren Stellung kollegial aufgewertet wurde, ist es schwer zu verstehen, warum in anderen Fragen keine Dynamik der Lehrentwicklung möglich sein soll. Wer dies als Bischof bestreitet und sich auf bloßen Traditionsbestand zurückzieht, begeht einen performativen Selbstwiderspruch. Und wer behauptet, es handle sich bei den Reformvorschlägen des Synodalen Weg um einen Bruch, muss dies nicht nur belegen, er muss im synodalen Geben und Nehmen von Gründen auch anerkennen, dass sich Tradition nur mit der Durchschlagskraft traditionsbezogener Argumente aufrufen lässt. Kurzum: Wer – mit Papst Franziskus – eine synodale Kirche will, entkommt diesen Auslegungsgeschichten nicht.
Für die Diskussionen des Synodalen Wegs ist dieser Aspekt von erheblicher Bedeutung. Gerade bei der Lehrentwicklung des Bischofsamtes steht man vor der Herausforderung, die Wahrung von Tradition als einen geschichtlichen Interpretationsvorgang ernst zu nehmen. Die Stillstellung kirchlich-theologischer Traditionsbildung führt nicht nur zur Erstarrung, sondern nähert sich einem Formeltraditionalismus. Er entkoppelt sich von der Lebenswirklichkeit des Volkes Gottes, unterläuft aber auch die geschichtliche Wirklichkeit des Glaubens selbst, seine inkarnatorische Dynamik.
An einem kirchlichen Interpretationskonflikt wird dieser Vorgang besonders prekär: bei der Frage nach der Frauenordination. Nicht umsonst haben die deutschen Bischöfe den Grundtext des Frauenforums, der für eine Öffnung des kirchlichen Amtes für Frauen plädiert, an eine päpstliche Prüfung gebunden. Es sei zu klären, ob die Absage der früheren Päpste in dieser Frage definitiven, sprich: infalliblen, Lehrcharakter besitze. Bei den Mariendogmen von 1854 und 1950 stellt sich diese Frage nicht; im gegebenen Fall offensichtlich wohl. Bereits diese Tatsache kirchlicher Rezeption macht deutlich, dass es sich um einen anderen Fall dogmatischer Lehrbildung handelt. Die Entscheidung als solche schafft nicht Klarheit, sondern produziert Zweifel. Das hängt nicht nur an der Form, die den Ex-cathedra-Charakter dieser päpstlichen Festlegung betrifft. Kann man dogmatisch als unfehlbar dekretieren, wozu sich die Kirche nicht ermächtigt weiß? Muss die Kirche nicht mit der Möglichkeit rechnen, dass sie im Geist Gottes zu einer anderen Einsicht finden kann – und dafür deshalb einen Raum in ihrer eigenen Lehre lassen? Unabhängig davon, dass sich ein Ausschluss von Frauen zum Weiheamt nur umwegig dem heilsrelevanten Glaubensbestand des Credos zuordnen lässt, erweist sich auch an dieser Stelle die geschichtliche Interpretationsnotwendigkeit in der Wahrung und Weitergabe von Tradition als ein Scharnier der Lehrentwicklung. Der Verweis auf einen Eid ersetzt an dieser Stelle jedenfalls so wenig ein Argument, wie sich Traditionsbildung einfrieren lässt. Bischöfe müssten dies seit dem 2. Vatikanischen Konzil am besten wissen.