Kirchlich getragene Stellen werden mit steigenden Existenzängsten konfrontiert

Die Sorge ums "tägliche Brot" wächst: Eine Schuldnerberaterin erzählt

Veröffentlicht am 03.10.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Themenwoche

Bonn ‐ In Deutschland geht angesichts der Energie- und Preiskrise bei vielen Menschen die Angst um, sich das Leben nicht mehr leisten zu können. Viele Menschen suchen daher Rat bei Beratungsstellen, auch kirchlichen. Eine Schuldnerberaterin berichtet über die aktuelle Lage.

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"Unser tägliches Brot gib uns heute": In vielen Teilen der Welt ist diese Bitte im Vaterunser nach wie vor eine Herausforderung. Denn zahlreiche Menschen wissen tatsächlich nicht, ob sie morgen noch genug zu essen haben. Doch mittlerweile scheint diese Bitte auch in westlichen Ländern, wo sich in den vergangenen Jahrzehnten nur die Allerwenigsten um das "tägliche Brot" Sorgen machen mussten, wieder zur Herausforderung zu werden. Denn die aktuellen globalen Krisenherde – Corona, Krieg, Energiekrise, Inflation – haben für viele ganz konkrete und direkte Folgen im Alltag. Etwa jeder siebte Erwachsene in Deutschland (15,2 Prozent) kann nach eigenen Angaben kaum noch seine Lebenshaltungskosten bestreiten, wie eine YouGov-Umfrage ergab. Es geht die Angst um, sich das Leben nicht mehr leisten zu können.

Da ist etwa die alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Kind in einer Mietwohnung lebt. Seit einem Unfall kann sie nicht mehr arbeiten und lebt von rund 700 Euro Rente monatlich. Sie hat es zwar schwer, über die Runden zu kommen, hat es aber bisher immer geschafft. Nun wurden ihr die Abschläge für Strom und Gas auf das Doppelte erhöht. Und gerade jetzt steht der Winter bevor. Auch andere Alleinerziehende, Rentner, Studenten, Kurzarbeiter, Minijobber, Selbständige und Familien stehen vor diesen Problemen. Beratungsstellen, von denen einige kirchlich getragen sind, haben deshalb im Moment jede Menge zu tun.

"Sehen, dass sich Situation zuspitzt"

Stefanie Aumüller leitet in Bonn die Zentrale Schuldnerberatung, die gemeinschaftlich von Caritas und Diakonie getragen wird. Auch in ihrer Einrichtung gibt es in letzter Zeit einen deutlichen Zuwachs von Anfragen – selbst von Personen, die noch gar keine Schulden haben. "Sie wollen schon vorab klären, wie das mit ihren Abschlägen ist, was ihnen droht, wie sie mit der Situation umgehen sollen." Das sei eher untypisch, weil sich Klienten meistens erst dann meldeten, wenn sie bereits verschuldet sind – und auch das zum Teil erst mehrere Jahre später. Gleichzeitig melden sich inzwischen auch ganz andere Personengruppen bei solchen Beratungsstellen. Vor allem sind es bisher nämlich Menschen, die von dauerhafter Armut betroffen sind. Nun sind es auch solche, die eigentlich einen finanziellen Puffer haben. "Wir sehen schon, dass sich die Situation gerade zuspitzt", sagt Aumüller.

Stefanie Aumüller
Bild: ©Diakonie Bonn

Stefanie Aumüller ist Leiterin der Zentralen Schuldnerberatungsstelle in Bonn. Die Einrichtung befindet sich in gemeinsamer Trägerschaft von Caritas und Diakonie.

2021 war in Deutschland offiziellen Angaben zufolge rund jeder Elfte von Überschuldung betroffen. Für 2022 liegt die Statistik noch nicht vor. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass diese Zahlen angesichts der Krise ansteigen werden.

Was sich in der Gesellschaft zunehmend zeigt, registriert Aumüller auch immer bei den Ratsuchenden: Existenzangst. "Die Betroffenen, die hier schon länger in Beratung sind, leben häufig am Existenzminimum. Die trifft die momentane Krise besonders hart." Steigende Ausgaben für Strom und Gas gehen unmittelbar an die Existenz. Den Armen einen Verzicht auf andere Dinge nahezulegen, hält Stefanie Aumüller nicht für sinnvoll. "Die haben auch bei allen Einsparungen, bei allem Verzicht in der Regel nicht mehr genügend Geld übrig." Die Leiterin der Bonner Schuldnerberatungsstelle macht das an einem Vergleich anschaulich: "Der ein oder andere überlegt sich gerade vielleicht, ob er sich einen Urlaub leisten kann. Unsere Klienten überlegen sich, ob sie sich noch eine zweite Packung Nudeln leisten können." Daher habe sie bei ihren Klienten aktuell große Angst, dass im Winter die Wohnungen kalt bleiben, um die Heizkosten nicht noch weiter in die Höhe zu treiben.

Nicht nach dem Gießkannenprinzip

Der wichtigste Rat, den Aumüller Ratsuchenden gerade gibt: Wenn die Heizkosten derart in die Decke schießen nach einem Sozialleistungsanspruch schauen. "Wenn jetzt noch hohe Nachzahlungen kommen, sollte man sich an eine Sozialberatungsstelle wenden. Die können bei der Antragstellung helfen – denn den Anspruch haben viele Menschen." Wer ein Leben lang berufstätig war, habe das nur viel zu oft nicht im Blick. "Sozialleistungsansprüche können Härten abfedern, das sollte man aktuell dringend nutzen."

Die Politik versucht aktuell, mit Entlastungspaketen einiges abzufedern: Einmalzahlungen wie die Energiepauschale oder Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket im Sommer etwa. Doch aus Sicht kirchlicher Sozialberater sind diese Maßnahmen nicht immer bis zum Ende gedacht. So landen die 300 Euro Energiepauschale zwar auf dem Konto – können dann aber gepfändet werden. Zudem ist der Betrag für viele Ratsuchenden nur ein Tropfen auf den heißen Stein, betont Stefanie Aumüller. Sie wünscht sich Hilfe dort, wo sie wirklich gebraucht wird – zielgerichtet und nicht nach dem Gießkannenprinzip.

Heizung
Bild: ©stock.adobe.com/ brizmaker (Symbolbild)

Bei vielen bleiben im Winter die Heizungen möglicherweise aus.

Auch kirchliche Sozialdienste wappnen sich dafür, weitere Beratungs- und Hilfeangebote für diejenigen auf die Beine zu stellen, die von der aktuellen Lage besonders betroffen sind. Die beiden großen Kirchen in Deutschland geben dafür beispielsweise die Mehreinnahmen bei der Kirchensteuer, die durch die Versteuerung der Energiekostenpauschale entstehen, komplett weiter, beispielsweise an Caritas und Diakonie. Die Mittel sollen über soziale Projekte oder Initiativen vor Ort den Menschen zugutekommen.

Selbst wenn viele aufgrund der aktuellen Lage schon früh nach Rat suchen – der Schritt ist immer noch mit einer hohen Hemmschwelle verbunden. Denn über Geld spricht man nicht, gerade dann, wenn man Probleme damit hat. Wer arm ist oder in finanziellen Schwierigkeiten steckt, schämt sich und hat oftmals Angst vor sozialer Ausgrenzung. Stefanie Aumüller wünscht sich, dass das Thema Schulden oder finanzielle Ängste im Allgemeinden stärker in der Gesellschaft präsent ist, auch in den Gemeinden. "Man muss da offen darüber sprechen können, einfach um die Scham abzubauen." Das sei meistens der erste Schritt. Mit Geldsorgen geht immer ein riesiger Leidensdruck einher. Beratungsstellen, gerade kirchliche, wollen nicht nur dabei helfen, dass das "tägliche Brot" gesichert ist oder die Stube warm bleibt. Auch der Lebensmut der Klienten soll gestärkt werden.

Von Matthias Altmann

Themenwoche: Armutskrise in Deutschland: "Schau hin!"

Armut – fünf Buchstaben, die wohl jedem Angst machen und die in Zeiten von Energiekrise und allgemeiner Inflation bedrohlich an Bedeutung gewonnen haben. Die Preissteigerungen der vergangenen Monate treffen viele Menschen in Deutschland; die immer länger werdenden Schlangen vor den "Tafeln" sind ein alarmierendes Anzeichen dafür. Mit einer Themenwoche blickt katholisch.de vom 3. bis 9. Oktober in Artikeln und Videos aus christlicher Sicht auf das Thema.