Neue Debatte um Paragraf 218: Sind Abtreibungen bald legal?
Die ersten Tage eines neuen Jahres sind im Berliner Regierungsviertel normalerweise ziemlich ruhig. Von der hektischen Betriebsamkeit, die sonst zwischen Bundeskanzleramt, Reichstagsgebäude und Abgeordnetenbüros herrscht, ist zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag meist wenig zu spüren. Viele Bundestagsabgeordnete und Regierungsmitglieder sind noch im Urlaub, wichtige Termine stehen erst frühestens ab der zweiten Woche wieder im Kalender. Kurzum: Der Politikbetrieb der Hauptstadt befindet sich zu Jahresbeginn gewöhnlich im Pausenmodus – ebenso wie der sonst übliche politische Streit.
In diesem Jahr jedoch ist das anders – und das hat nicht nur mit den heftigen Silvesterkrawallen und der Debatte über mögliche Konsequenzen zu tun. Auch der Streit um den seit vielen Jahren kontrovers diskutierten Abtreibungsparagrafen 218 ist noch während der politischen Weihnachtspause neu entflammt. Auslöser war am Donnerstag ein Interview von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), in dem sie erneut die Streichung des Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch und damit die Straffreiheit von Abtreibungen forderte. Es gehe um das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung und um das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, sagte die Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Für sie sei das Strafgesetzbuch "nicht der richtige Ort, das zu regeln".
"Wer anders als die Schwangeren selbst sollte entscheiden?"
"Wer anders als die Schwangeren selbst sollte entscheiden, ob sie ein Kind austragen möchten oder können? Wer anders als die Frauen selbst sollte darüber entscheiden, wann und in welchen Abständen sie Kinder bekommen?", fragte Paus. Grundpfeiler des Menschenrechts auf reproduktive Selbstbestimmung seien neben dem Zugang zu sicheren und erschwinglichen Verhütungsmitteln auch die Gewährleistung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie einer selbstbestimmten und sicheren Schwangerschaft und Geburt. Frauen, die Abtreibungen vornähmen, dürften nicht länger stigmatisiert werden, so die Ministerin.
Mit diesen Aussagen dürfte die vielleicht entscheidende Debatte um die Zukunft von Paragraf 218 begonnen haben und die Abtreibungsfrage – wieder einmal – zum Zankapfel zwischen Regierung, Opposition und gesellschaftlichen Akteuren wie den Kirchen werden. Dass es unter der Ampelkoalition dazu kommen könnte, war dabei von Anfang an klar. Schließlich hatten SPD, Grüne und SPD schon in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin einzusetzen, "die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches" prüfen werde.
Vor allem bei SPD und Grünen gibt es viele Abgeordnete, die lieber heute als morgen eine generelle Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen durchsetzen würden. Unter anderem sprachen sich in den vergangenen Monaten die Juso-Chefin Jessica Rosenthal und die Berliner SPD-Abgeordnete Cansel Kiziltepe für einen solchen Schritt aus. Und auch Familienministerin Paus hatte sich schon vor ihrem jetzigen Interview mehrfach für eine Streichung von Paragraf 218 stark gemacht. Gleichwohl: Unumstritten wäre dessen Abschaffung in der Koalition nicht, denn vor allem in der FDP gibt es Widerstände gegen einen solchen Schritt.
FDP-Vertreter haben ethische und verfassungsrechtliche Bedenken
Bundesjustizminister Marco Buschmann etwa hat bereits zu erkennen gegeben, dass er den mühsam erreichten Kompromiss aus dem Jahr 1995, nach dem ein Schwangerschaftsabbruch zwar rechtswidrig (Paragraf 218), unter bestimmten Bedingungen aber straffrei bleibt (Paragraf 218a), möglichst nicht antasten möchte. Und seine Parteikollegin Katrin Helling-Plahr schrieb im vergangenen Sommer in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", dass es mit ihrer Partei "kein Abrücken vom Lebensschutzkonzept des Bundesverfassungsgerichts" geben werde. In einer Reaktion auf das neue Paus-Interview bekräftigte sie am Donnerstag diese Position. Aus ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen stehe sie einem Aufkündigen des Kompromisses äußerst skeptisch gegenüber.
Paragraf 218 im Wortlaut
§ 218: Schwangerschaftsabbruch
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder
2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.
(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
(4) Der Versuch ist strafbar. Die Schwangere wird nicht wegen Versuchs bestraft.
Dennoch haben die Befürworter einer Streichung des Paragrafen derzeit Oberwasser – und das liegt maßgeblich auch an ihrem Erfolg im vergangenen Juni. Damals beschloss der Bundestag mit großer Mehrheit die Streichung von Paragraf 219a, der das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen geregelt hatte. Nachdem die Union eine Abschaffung des Paragrafen in der vorherigen Legislaturperiode noch verhindert und sich nur auf eine geringfügige Reform des Regelwerks eingelassen hatte, machte die Ampelkoalition bereits wenige Monate nach ihrem Amtsantritt Nägel mit Köpfen.
Schmerzhafte Niederlage für die katholische Kirche
Vor allem für die katholische Kirche war diese Entscheidung eine schmerzhafte Niederlage. Schließlich hatte sie in der jahrelangen Auseinandersetzung um Paragraf 219a immer wieder für dessen Erhalt geworben. Noch Anfang vergangenen Jahres bekräftigte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing, die kirchliche Position. Die beabsichtigten Änderungen bei den Abtreibungsregeln nähmen den Schutz des ungeborenen Lebens zurück und könnten "nicht für sich in Anspruch nehmen, fortschrittlich und modern zu sein". Ähnlich äußerten sich in seltener Einmütigkeit das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), der Deutsche Caritasverband sowie zahlreiche weitere katholische Verbände und Bischöfe – ohne Erfolg.
In der Kirche fürchten viele nun, dass SPD und Grüne gemeinsam mit einer kompromissbereiten FDP als nächstes tatsächlich auch die Streichung von Paragraf 218 in Angriff nehmen und damit das gesamte rechtliche Konstrukt für den Schutz des ungeborenen Lebens zerstören könnten. In diesem Fall drohe "der in den 1990er Jahren doch eigentlich gut befriedete Konflikt um die Abtreibungsfrage" neu aufzubrechen, erklärte im vergangenen August stellvertretend für viele Kirchenvertreter der Präsident des Familienbundes der Katholiken, Ulrich Hoffmann, in einem katholisch.de-Interview.
„Es ist eine Politik ohne Zukunft. Denn es geht eben nicht nur einseitig um die reproduktive Selbstbestimmung und das Recht der Frauen auf Abtreibung, das wir als Union übrigens nicht in Frage stellen. Auch das ungeborene Kind hat ein grundrechtlich geschütztes Lebensrecht.“
Immerhin: Die alten Bande zwischen Kirche und Union scheinen bei diesem Thema noch zu bestehen. Denn wohl ganz im Sinne der Kirche geißelte die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dorothee Bär (CSU), am Donnerstag den jüngsten Vorstoß von Familienministerin Paus in Sachen Paragraf 218 als "Dammbruch im Verständnis vom menschlichen Leben". Eine Familienministerin, die gegen Kinder sei, sei wie ein Umweltminister, der den Fluss vergifte. "Es ist eine Politik ohne Zukunft. Denn es geht eben nicht nur einseitig um die reproduktive Selbstbestimmung und das Recht der Frauen auf Abtreibung, das wir als Union übrigens nicht in Frage stellen. Auch das ungeborene Kind hat ein grundrechtlich geschütztes Lebensrecht", so Bär weiter.
Kirchliche Positionen haben es unter der Ampelkoalition schwer
Wie sehr die katholische Kirche selbst Einfluss auf die nun neu begonnene Debatte nehmen kann, muss sich noch erweisen. Allerdings hat sich im ersten Jahr der Ampelkoalition bereits deutlich gezeigt, dass kirchliche Positionen es unter dem Bündnis von SPD, Grünen und FDP schwer haben – gerade auch im Vergleich zu den unionsgeführten Regierungen in den Jahren davor. Die Ampel ist um deutlich mehr Distanz zu den Kirchen bemüht, so dass manche Beobachter mit Blick auf das Staat-Kirche-Verhältnis schon das bekannte Wort von der Zeitenwende in den Mund genommen haben.
Wie schnell eine Streichung von Paragraf 218 beschlossen werden könnte, ist aktuell allerdings noch unklar. Die von der Koalition geplante Kommission, die mögliche Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches erörtern soll, hat trotz mehrfacher Ankündigung ihre Arbeit noch gar nicht aufgenommen. Aus der Bundesregierung ist zu hören, dass die Abstimmung über das Gremium noch nicht abgeschlossen sei und ein konkreter Zeitplan für dessen Errichtung noch nicht feststehe. Auch ist noch unklar, ob sich die Koalition an die Vorschläge der Kommission binden will. Einstweilen bleibt also abzuwarten, wie es mit dem umkämpften Paragrafen und dem Schutz des ungeborenen Lebens weitergeht.