Massimo Faggioli: Papst-Heiligsprechungs-Trend muss gestoppt werden

"Santo subito" für Benedikt XVI.? Eine eindringliche Warnung

Veröffentlicht am 09.01.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Theologieprofessor Massimo Faggioli warnt vor Papst-Heiligsprechungen. In seinem Gastbeitrag rät er zu einem Blick in Vergangenheit und Gegenwart. Die Kirche befinde sich in der "tiefsten Krise seit der Reformation" – päpstliche Selbstsakralisierung richte dabei mehr Schaden an, als sie helfe.

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Schon vor der Beerdigungsmesse wurden Forderungen laut, Benedikt XVI. zeitnah heiligzusprechen ("santo subito"), und damit zu wiederholen, was nach dem Tod von Johannes Paul II. (1978 bis 2005) geschah und mit seiner Heiligsprechung im April 2014 zusammen mit Johannes XXIII. (1958 bis 1963) endete. Es wäre ein Déjà-vu. Ein Blick auf den größeren historischen Kontext hilft uns jedoch, die Bedeutung des Themas zu verstehen.

Zunächst einmal sollten wir uns daran erinnern, dass die Heiligsprechung der Männer, die vom Kardinalskonklave zu Bischöfen von Rom gewählt werden, gleichzeitig alt und neu ist. Von den ersten 48 Päpsten, die vor dem Jahr 500 gestorben sind, sind 47 heiliggesprochen worden; die Hälfte von ihnen waren Märtyrer. Eine Heiligsprechung von Päpsten, die in den folgenden 15 Jahrhunderten auf dem Stuhle Petri saßen, ist selten, hat sich aber in den letzten Jahrzehnten mit schwindelerregender Schnelligkeit erhöht.

Der eigentliche Wandel begann im 19. Jahrhundert mit dem, was Historiker und Theologen als "Romanisierung" oder "Papalisierung" des Katholizismus bezeichnen, und insbesondere mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869-1870) und seiner Proklamation des päpstlichen Primats und der Unfehlbarkeit. Dies führte zu einer stärker auf den Papst ausgerichteten Kirchenleitung, aber auch zu neuen Formen der Verehrung des Papstes.

Johannes Paul und die Heiligsprechungen

Die Neigung zur Heiligsprechung von Päpsten nahm unter Johannes Paul II. zu, der eine enorme Anzahl von Heiligen kanonisierte (darunter viele Laien, Frauen und Verheiratete). Er verkürzte auch die Wartezeit, in der ein Heiligsprechungsprozess beginnen konnte, von 50 auf fünf Jahre. Für Mutter Teresa von Kalkutta verzichtete er sogar auf diese verkürzte Frist. Als Johannes Paul II. im April 2005 starb, hob Benedikt XVI. die Wartezeit für seinen Vorgänger ebenfalls auf.

Von 2000 bis 2022 wurden bereits drei Päpste, die nach dem Zweiten Vatikanum (Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II.) amtierten, selig- und heiliggesprochen. Johannes Paul I., der nur 33 Tage lang Papst war, wurde von Franziskus am 4. September 2022 seliggesprochen; sein Heiligsprechungsprozess ist bereits im Gange. Im letzten Jahrhundert, beginnend mit Pius X., ohne Benedikt XVI. und Franziskus, gab es acht Päpste: die Hälfte von ihnen ist bereits heilig. Die letzten drei Päpste wurden fast der Reihe nach heiliggesprochen.

Dieser im 20. Jahrhundert eingeleitete Trend sollte jedoch aus drei Gründen gestoppt werden. Ein Grund dafür ist, dass die Heiligsprechung der Päpste heute eine Heiligsprechung des Papsttums durch Päpste im Vatikan meint. Dagegen wurden Heiligsprechungsprozesse (technisch gesehen handelt es sich um ein Verfahren) früher weniger vom Vatikan kontrolliert. Erst in der Gegenreformation im 17. Jahrhundert zog die römische Kurie das Verfahren immer stärker an sich. Damals war die Heiligsprechung von Päpsten noch die Ausnahme. Jetzt kanonisiert sich das Papsttum selbst, ohne dass es eine kirchenweite und zeitlich ausgedehnte Phase der Unterscheidung über die Weisheit der Heiligsprechung des Papstes gibt. Man kann dies als einen Weg sehen, das Papsttum vor moralischen und historischen Urteilen zu schützen, sozusagen als Verstärkung der Ansprüche, die das Erste Vatikanum an das Papsttum stellte. Gleichzeitig scheint der Vatikan auf eine Logik zu reagieren, die eher medial als kirchlich ist: mit der Heiligsprechung möchte man die Medienfreundlichkeit des zeitgenössischen Papsttums unter Beweis stellen.

Bild: ©Wenceslao Cruz

Massimo Faggioli ist Professor an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften an der Villanova University in Philadelphia

Der zweite Grund ist die Kirchenpolitik, die hinter den Entscheidungen über die Heiligsprechung oder Nichtheiligsprechung eines Papstes steht. Die Zeit nach dem Zweiten Vatikanum ist lehrreich. Der Vorschlag des Zweiten Vatikanischen Konzils, Johannes XXIII., der noch während des Konzils am 3. Juni 1963 starb, im Konzil und durch das Konzil heiligzusprechen (eine alte Art, Heiligsprechungen zu verkünden), löste eine Reihe von Gegenmaßnahmen konservativer Katholiken aus. Eine Reihe von Gegengewichten wurde geschaffen: jemanden, mit dem man den "progressiven" Johannes XXIII. zusammenbringen konnte – sowohl für seine Seligsprechung (er Pius IX. im Jahr 2000) als auch für seine Heiligsprechung (Johannes Paul II. im Jahr 2014). Im 19. Jahrhundert war die Erhebung der Päpste zum Primat und zur Unfehlbarkeit ein politischer Akt - zum Teil gegen die säkulare Moderne, zum Teil eine Aneignung der für die politische Moderne und den modernen Staat typischen Mechanismen. Der Unterschied zum 19. Jahrhundert besteht darin, dass die Heiligsprechung von Päpsten durch Päpste heute Teil der katholischen Innenpolitik geworden und der Einheit der Kirche nicht zuträglich ist.

Der dritte Grund hat mit der Krise des klerikalen sexuellen Missbrauchs zu tun. Die Art und Weise, wie das Papsttum mit dem sexuellen Missbrauch durch Kleriker umgegangen ist, ist heute ein kontroverses Thema in der Kirche und wird auch in Zukunft kontrovers bleiben. Wenn die katholische Kirche in der Unterscheidung der Geister wachsen will, die Papst Franziskus als Reaktion auf die Krise des sexuellen Missbrauchs gefordert hat, muss die Institution aufhören, Päpste heiligzusprechen.

Moratorium für Papst-Heiligsprechungen

Ein Moratorium für die Heiligsprechung von Päpsten ist wichtig für die "Reinigung des Gedächtnisses", die jetzt angesagt ist. Typisch für die jüngsten Phasen in der Geschichte der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche ist, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Römischen Kurie und damit der Päpste bei der Behandlung einzelner Fälle sowie der gesamten Problematik konzentriert hat. Wenn ein Papst seine Vorgänger heiligspricht, sieht es jetzt so aus, als ob die institutionelle Kirche gleichzeitig Angeklagter, Richter und Jury ist.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Der Ruf von Johannes Paul II. ist wegen seines Umgangs mit Missbrauchsfällen sowohl als Bischof als auch als Papst in Verruf geraten. In jüngster Zeit wurden Forderungen laut, Johannes Paul II. wegen seines Umgangs mit den von Klerikern begangenen Missbrauchsfällen und wegen seiner Theologie der Frauen und der Sexualität für nicht heilig zu erklären. Obwohl ich nie von der Weisheit der Entscheidung, Johannes Paul II. heiligzusprechen, überzeugt war, bin ich auch gegen die Idee, ihn zu dekanonisieren (falls das mit einer einzigen Entscheidung oder Handlung überhaupt möglich wäre). Was die in den letzten Jahrzehnten übereilt heiliggesprochenen Päpste betrifft, so wäre die Entscheidung, Johannes Paul II. zu dekanonisieren ebenso politisch wie die Entscheidung, ihn unmittelbar nach seinem Tod heiligzusprechen.

Bild: ©picture alliance/Pressefoto ULMER/Markus Ulmer

Massimo Faggioli meint: Die Heiligsprechung von Päpsten durch Päpste ist heute Teil der katholischen Innenpolitik geworden.

Diese drei Faktoren haben auch schon vor dem Tod von Benedikt XVI. eine Rolle gespielt. Jetzt gibt es jedoch zwei deutlich neue Elemente, die zu berücksichtigen sind, da sie eine Situation schaffen, die sich von der des Jahres 2005 unterscheidet.

Die erste ist, dass 2005 die Rufe nach "Santo Subito" von der Fokolar-Bewegung kamen. Sie hatten Plakate angefertigt, die sie auf dem Petersplatz zeigten und auf denen sie am Ende der Predigt von Kardinal Ratzinger und am Ende der Beerdigungsmesse "Santo Subito" ("Heiliger jetzt!") verkündeten, begleitet von den Rufen "Santo, Santo". Dieser Ausbruch der Verehrung für den verstorbenen Papst könnte als Ausdruck der vox populi gesehen werden - wenn auch durch eine Bewegung, die sehr gut in die Reihen der Institution integriert ist. Der Ruf nach einer raschen Heiligsprechung wurde später von anderen Bewegungen und institutionellen Stimmen, insbesondere von den Kardinälen, aber auch von Papst Benedikt XVI. gerne angenommen.

Auch diesmal ertönt der Ruf "Santo subito" auf dem Petersplatz während des Begräbnisses, wenn auch in deutlich gedämpfterer Form als 2005. Aber auch schon vor der Beerdigung gab es institutionelle Stimmen, die eine Heiligsprechung forderten – etwa Benedikts Sekretär Erzbischof Georg Gänswein, der mit seinem Medienecho in den ersten Stunden nach dem Tod des emeritierten Bischofs von Rom eine eigentümliche und ungewöhnliche Stimmung erzeugte.

Es wäre lehrreich und eine Quelle der Weisheit, wenn man zum Beispiel die Diskretion und Besonnenheit des Sekretärs von Johannes XXIII., Monsignore Loris Francesco Capovilla, nach dem Tod des Papstes 1963 bis zu dessen Selig- und schließlich Heiligsprechung zum Vergleich heranzieht. Dies ist insofern wichtig, als dass die Forderungen nach einer Heiligsprechung von Benedikt XVI. von derselben Stimme und zur gleichen Zeit erhoben werden, die auch eine bestimmte lehrpolitische Agenda (insbesondere zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Theologie des Konzils insgesamt) vorantreibt. Dieser Zusammenhang verstärkt die kirchenpolitische Bedeutung einer raschen Heiligsprechung noch einmal. Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Klagen über die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils das Motu proprio "Traditionis Custodes" und damit Papst Franziskus zu einer polemischen Zielscheibe in einer besonders erbitterten und spaltenden Polemik gemacht haben (besonders in den USA, wo ich lebe, arbeite und zur Messe gehe). Diese innerkirchlichen Auseinandersetzungen gab es nicht, als die "Santo Subito"-Rufe bei der Beerdigung von Johannes Paul II. am 8. April 2005 auf dem Petersplatz ausbrachen.

Erzbischof Georg Gänswein
Bild: ©KNA/Cristian Gennari/Romano Siciliani

Erzbischof Georg Gänswein vermutet, dass es zur Heiligsprechung Benedikts kommen könnte. Schon kurz nach dessen Tod äußerte er diesen Gedanken. Ein Novum, findet Massimo Faggioli.

Das zweite Element, das im Jahr 2005 nicht existierte ist die neue Welle der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche. Während des Heiligen Jahres 2000 bat der Papst zwar um Vergebung für die Fehler der Kirche. Er bat aber nicht um Vergebung für den sexuelle Missbrauch durch Kleriker – auch wenn das niemand bemerkt hat. Der erste Skandal brach 2002 mit den "Spotlight"-Recherchen des Boston Globe aus. Zum Zeitpunkt des Todes von Johannes Paul II. gab es allerdings keine Anfragen von kirchlichen oder weltlichen Gerichtsbarkeiten nach Informationen darüber, wie ein Papst in bestimmten Fällen gehandelt hatte. Das war schon bei seiner Seligsprechung 2011 anders, als es auch angesichts der Missbrauchskrise Stimmen gab, die seine Heiligkeit anzweifelten.

Der Münchener Missbrauchsbericht

Seitdem hat sich der Schatten der Missbrauchskrise über das Papsttum gelegt. Die institutionellen Bemühungen des Vatikans um mehr Transparenz haben erst vor kurzem begonnen. Wir sollten uns daran erinnern, dass der Bericht zum Fall des ehemaligen Kardinals Theodore McCarrick vom Heiligen Stuhl erst im November 2020 veröffentlicht wurde. Bis zum Pontifikat von Benedikt XVI. war kein (lebender oder toter) Papst ins Rampenlicht geraten. Das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert. Es ist vielmehr Teil der Geschichte seines Pontifikats (vor allem seit 2010) und seines Lebens nach dem Pontifikat (der Bericht über den Umgang mit Missbrauchsfällen in der deutschen Erzdiözese München und Freising, deren Erzbischof er zwischen 1977 und 1981 war, wurde im Januar 2022 veröffentlicht).

Benedikt XVI. hat den Kampf gegen den Missbrauch in der Kirche durch die Einführung strengerer Verfahren und neuer Gesetze auf eine neue Ebene gebracht. Er war der erste Papst, der sich mit Überlebenden von Missbrauch traf und Maßnahmen gegen Missbrauchstäter ergriff. Doch bevor er zum Papst gewählt wurde, war er Erzbischof und mehr als 20 Jahre lang Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation. Das war auch eine sehr schwierige Zeit für katholische Theologen, die von der Kongregation untersucht und in vielen Fällen zum Schweigen gebracht wurden, ebenso wie für Ordensfrauen.

All dies mahnt zu äußerster Vorsicht in der Frage der Heiligsprechung von Päpsten, auch für diejenigen, die das Erbe und die Erinnerung an Benedikt XVI. nicht beschädigen und nicht den Eindruck einer Schönfärberei erwecken wollen. Ich sage dies auch als jemand, der 2008 die italienische Version eines Bandes mit Essays von Benedikt XVI. herausgegeben hat und Kurse in Theologie gibt, in denen Ratzingers Texte zur Pflichtlektüre gehören. Dies ist kein Urteil über die Heiligkeit von Benedikt XVI., sondern eine Frage der Gelegenheit und der Notwendigkeit, das Thema der Heiligsprechung von Päpsten (nicht nur Benedikt XVI.) in der heutigen Situation der Kirche zu verstehen.

Letzten Endes sollten wir die Tradition der Kirche in ihrer Zurückhaltung bei den Heiligsprechungsprozessen wertschätzen und hochachten. Vor fast vier Jahrhunderten, zwischen 1628 und 1634, entschied Papst Urban VIII., dass nach dem Tod des Kandidaten 50 Jahre vergehen mussten, bevor dieser heiliggesprochen werden kann. Damit reagierte Urban auf eine Zeit, in der ständig neue Verehrungen für neue Heilige aufkamen. Es ist notwendig, die Weisheit dieser alten Norm wiederzuentdecken, besonders wenn es um die Selig- und Heiligsprechung von Päpsten geht. Es ist auch notwendig, um die Mystik des Papsttums im heutigen Katholizismus zurückzudrängen. Und letztlich ist es notwendig, weil die Kirche einen langen Prozess der Aufklärung der Rolle des Papsttums und der Römischen Kurie in der sexuellen Missbrauchskrise braucht, die der größte Skandal der modernen Kirchengeschichte und die tiefste Krise seit der Zeit der protestantischen Reformation ist.

Von Massimo Faggioli