Lütz: Niemand an der Kurie so engagiert gegen Missbrauch wie Ratzinger
Als Präfekt der Glaubenskongregation war Joseph Ratzinger für den Psychiater und Papstberater Manfred Lütz an der Kurie derjenige, der am entschiedensten für konsequentes Vorgehen gegen Missbrauchstäter und Hilfen für die Opfer eintrat. In einem am Dienstag erschienenen und gemeinsam mit dem Fernsehjournalisten Markus Lanz veröffentlichten Buch würdigt Lütz das entschlossene Handeln des späteren Papstes. Schon 1999 hätte Ratzinger sich mit aller Entschiedenheit gegen Widerstände an der Kurie dafür ausgesprochen, den Null-Toleranz-Kurs der amerikanischen Bischöfe gegen Missbrauch zu unterstützen.
Nach seiner Wahl zum Papst habe Benedikt XVI. vorbildlich gehandelt, so Lütz. "Auch später als Papst griff er auf diesem Gebiet noch konsequenter durch als sein Vorgänger, der sich durch die Perfidie des Gründers der Legionäre Christi blenden ließ, aber auch als sein Nachfolger, der sich zu Anfang seines Pontifikats zum Beispiel in Chile zu folgenschweren Fehlurteilen verleiten ließ und erst später zu einem stringenten Vorgehen fand.". Papst Johannes Paul II. hatte Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel nicht ernst genommen, erst im Pontifikat von Benedikt XVI. gab es für den Priester Konsequenzen. Auf ein kanonisches Strafverfahren wurde aufgrund des Alters Maciels verzichtet. Papst Franziskus hatte 2018 selbst schwerwiegende Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen in Chile eingeräumt, nachdem er den chilenischen Bischof Juan Barros gegen Vertuschungsvorwürfe in Schutz genommen hatte.
Lütz geht davon aus, dass Ratzinger erst in seiner Zeit als Präfekt sensibel gegenüber dem Missbrauchsthema geworden sei. Als Erzbischof von München und Freising habe er Personalentscheidungen in der damals üblichen Art laufen lassen. "Und üblich war in allen Bistümern die Delegation pädophiler Vorfälle an Psycho-Experten – die zum Teil aus heutiger Sicht unverantwortliche Prognosen stellten", so der Psychiater. Besonders skandalös am damaligen Umgang sei gewesen, dass weder die Experten noch die kirchlichen Verantwortlichen die von sexueller Gewalt Betroffenen in den Blick genommen hätten, "aus Inkompetenz, Scham oder Gleichgültigkeit", so Lütz.
Einschätzung von Lütz nicht unwidersprochen
Das Münchner Missbrauchsgutachten hatte im vergangenen Jahr in der fünfjährigen Amtszeit Ratzingers als Erzbischof von München und Freising (1977–1982) vier Fälle von Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauch festgestellt. Der emeritierte Papst hatte die Verantwortung in einer mit dem Gutachten zusammen veröffentlichten Stellungnahme dafür zurückgewiesen. Der Gutachter Martin Pusch äußerte Zweifel an der von Benedikt XVI. behaupteten Unkenntnis. Später wurden weitere belastende Dokumente aus einem kirchlichen Strafprozess bekannt.
Die Einschätzung von Lütz ist nicht unwidersprochen. Bereits 2019 hatte der Journalist Christoph Röhl Ratzinger im Dokumentarfilm "Verteidiger des Glaubens" als Gescheiterten im Umgang mit Missbrauch in der Kirche dargestellt: Obwohl Benedikt XVI. sein Leben lang versucht hat, die Kirche und ihre Werte vor der modernen Welt zu beschützen, hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass die Kirche in der wohl schwersten Krise ihrer Geschichte steckt, lautet die zentrale These des Films.
Manfred Lütz und Markus Lanz berichten in ihrem neuen Buch von ihrem letzten gemeinsamen Gespräch mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI., der sie im April 2018 empfangen hatte. Das Gedächtnisprotokoll des Gesprächs wird eingeleitet von persönlichen Erinnerungen der beiden Autoren. Lütz kannte Joseph Ratzinger über Jahrzehnte. Seit 2004 ist er Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben, 2018 ernannte ihn Papst Franziskus außerdem zum Mitglied des heutigen Dikasteriums für Laien, Familie und Leben. Der ZDF-Journalist Markus Lanz berichtet in dem Buch von seinem ersten Interview mit Ratzinger im Jahr 2003. Auf seine Initiative hin organisierte Lütz die zweite Begegnung 15 Jahre später. (fxn)