Niederschwellige Formen für einen leichteren Zugang zur Liturgie

Gottesdienste für Fernstehende als zweischneidiges Erfolgsmodell

Veröffentlicht am 04.05.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Immer weniger Menschen in Deutschland besuchen Gottesdienste. Sind niederschwellige Formen für Fernstehende eine Lösung? Jein. Die Formate machen den Einstieg leichter, doch auch andere Phänomene zeigen ihre Wirkung.

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"Diese lebensnahen Themen, um die es bei uns geht, die ziehen die Leute schon an", sagt Christiane Pötter. Mit einem Team aus weiteren Ehrenamtlichen bereitet sie in Haltern am See regelmäßig die "Ü30"-Gottesdienste vor. Die Messfeiern richten sich an jene, die Jugendgottesdienste mochten, aber dafür mittlerweile zu alt sind. Ziel sind also nicht zuletzt auch Menschen, die der Kirche fernstehen oder sich von ihr entfremdet haben, es soll ein niedrigschwelliger Einstieg sein. Aber kann so ein Format funktionieren?

Die allermeisten Katholikinnen und Katholiken haben mit ihrer Kirche denkbar wenig zu tun, vor allem wenn es um den Gottesdienstbesuch geht. Ging vor der Corona-Pandemie schon nur knapp jeder Zehnte zur Messe (2019: 9,1 Prozent aller Katholiken), hat sich diese Zahl mittlerweile mehr als halbiert (2020: 5,9; 2021: 4,3 Prozent). Die "Fernstehenden" sind mit Blick auf Gottesdienste also die meisten – von den zahlreichen Konfessionslosen abgesehen, die in Deutschland inzwischen die Bevölkerungsmehrheit stellen.

Der große Absprung der Kirchenmitglieder kommt oft im Alter zwischen 20 und 40, wenn Menschen aus den Jugendangeboten herausgewachsen sind und bei anderen Angeboten nicht richtig andocken – das bedeutet oft das Ende der Kirchenbindung, bis hin zum Austritt. Denn warum bezahlen für etwas, das man nicht nutzt? An diesem Punkt hat auch das Team in Haltern (Kreis Recklinghausen/Nordrhein-Westfalen) angesetzt. Ihr Ansatz: Sich ganz individuell Bibeltexten nähern: "Was heißt das, sich selbst darin wiederzufinden? Nehmen wir in manchen Zusammenhängen nicht beispielsweise die Rolle des Judas ein?", beschreibt Pötter typische Impulse, die etwa um das Osterfest eine Rolle gespielt haben und die Leitthemen für die Gottesdienste sind. Dazu werden oft besondere Aktionen geplant. Zum Jahreswechsel haben die Gläubigen etwa symbolisch die Grenze zum neuen Jahr überschritten oder Zettel mit den Sorgen aus dem alten Jahr durch den Aktenvernichter gejagt. Ergänzt wird das mit meditativen Elementen, etwa in Form abgehbarer Stationen im Kirchraum, und neuem geistlichen Liedgut. Es ist also eine Mischung aus Meditation und aktiven Elemente, die diese Messen prägen.

Musik und Lebensnähe

Etwas anders nähern sich die "Mittendrin"-Gottesdienste in Grünstadt (Landkreis Bad Dürkheim/Rheinland-Pfalz) den Fernerstehenden. "Die meisten Leute kommen wegen der Musik", sagt Sina Peters, eine Ehrenamtliche aus dem Organisationsteam. Lobpreismusik nimmt einen großen Teil der sehr einfach gehaltenen Feiern ein. Es wird viel gesungen, die Predigt kommt von unterschiedlichen Predigern, vor allem Hauptamtlichen, etwa Diakonen oder Priestern. Wichtig ist den Verantwortlichen ein niedrigschwelliger Zugang. Deshalb beschränken sich die Feiern auf wenige Elemente. Zudem enden die Predigten mit einigen Fragestellungen, mit denen sich die Gläubigen in einer freien Meditationszeit auseinandersetzen können. Für die Lobpreismusik sorgt immer eine Band. Der einfache Gottesdienst unterscheidet sich vom Format in Halten, wo man sich an der klassischen Liturgie orientiert und der Gottesdienst auch jedes Mal eine Eucharistiefeier ist, die die Gläubigen in beiderlei Gestalt empfangen.

Bild: ©picture alliance/JOKER/Ralf Gerard

Ein Grundgefühl für Rituale habe eigentlich fast jeder, sagt der Religionssoziologe Hans Joas.

So verschieden die Feiern in Haltern und Grünstadt auch aussehen mögen, sie teilen einige Grundüberzeugungen, die sich die Planungsteams auf die Fahne geschrieben haben: Wichtig war jeweils, einen möglichst einfachen Einstieg zu ermöglichen, also ohne theologische Höhenflüge auszukommen. Inhaltlich soll es ein emotionaler, persönlicher Zugang zu Glaube und Bibel sein. Damit verbunden sind freiere liturgische Formen, sei es mit dem Fokus auf wenige liturgische Elemente und viel Musik oder die besonderen Impulsaktionen.

Ebenso wichtig ist es, eine Gemeinschaft zwischen den Besuchern entstehen zu lassen. Deshalb gibt es in Grünstadt eine Begrüßungs- und Kennenlernphase vor den Gottesdiensten, dort wie auch in Haltern schließen sich an die Gottesdienste Begegnungen in der Kirche an, gern bei Brot und Wein.

"Kirchen brauchen niederschwellige Angebote"

Alles richtige Ansätze, sagt der Berliner Religionssoziologe Hans Joas. "Die Kirchen brauchen niederschwellige Angebote", sagt er. Dabei könne es nicht nur um die Vermittlung von Glaubenswissen oder individuelle Gespräche gehen, sondern "es muss auch um eine Heranführung an kultische Formen gehen". Denn ein Grundgefühl für Rituale habe eigentlich fast jeder. Es sei nur wichtig, die Riten durch niedrige Zugangsschwellen nicht zu entleeren. Deshalb hält er besondere Gottesdienstformen für den richtigen Weg, anstatt die klassischen Sonntagsgottesdienste "zurechtzubiegen".

Bei den Feiern sei vor allem der spirituelle Gehalt entscheidend: "Der universalistische Charakter des Christentums muss dabei herauskommen", sagt Joas. Das bedeutet, dass es nicht nur um die konkrete Gemeinschaft der Menschen vor Ort geht, sondern darüber hinaus: Die Gemeinschaft der Betenden weltweit – und Gott als Teil dieser Gemeinschaft. Ganz schön viel gewollt, dafür, dass viele Gottesdienste von Ehrenamtlichen getragen werden? "Mitnichten", widerspricht Joas. "Es gibt Ehrenamtliche, die diesen universalen Sinn tiefer erfasst haben als mancher in der Routine erstarrter Priester." Es sei gerade die emphatische Botschaft des Christentums, die Menschen anspreche – sie authentisch zu vermitteln und zu leben, sei zuerst eine charakterliche, menschliche Aufgabe.

Gottesdienstbesucher sitzen mit großem Abstand zueinander in Kirchenbänken während einer Messe.
Bild: ©KNA/Dominik Wolf

Während in den alten Bundesländern vielen Menschen irgendwann einmal Kontakt mit Glaube und Kirche hatten, sind manche Familien in den neuen Bundesländern seit Generationen säkularisiert.

Er weist aber auch auf einen wichtigen Unterschied hin: Mit welcher Zielgruppe man es zu tun habe. "In Westdeutschland haben die meisten Menschen wenigstens Grunderfahrungen mit dem Christentum, an die man anknüpfen kann", sagt er. "Dagegen gibt es im Osten Familien, die schon seit Generationen säkularisiert sind."

An die, die schon ein gewisses Glaubenswissen mitbringen, wenden sich auch die beiden Angebote in Haltern und Grünstadt. Die Organisationsteams holen sich auch regelmäßig Rückmeldungen von den Gläubigen dazu, was gut ist und was verändert werden sollte. Dabei merken die Organisatorinnen generellen Zuspruch zu den Formaten: "Zwar stehen viele, die zu uns kommen, fest im Glauben. Aber viele sind auch auf der Suche. Wir wollen beiden Gruppen gerecht werden", sagt Pötter. Auch Peters betont: "Wir erklären unser Konzept am Anfang immer nochmal für alle. Zu uns kann jeder kommen."

Zuspruch, aber keine Massen

Dennoch wird auch bei den niedrigschwelligen Gottesdiensten klar: Die gesellschaftliche Breitenwirkung von Religion kommt dadurch nicht zurück. Die "Ü30"-Gottesdienste gibt es seit etwa 20 Jahren, aus den damals zu den Ü30ern gehörenden Organisatorinnen und Organisatoren sind Ü50er geworden – und die Gottesdienstbesucher mit ihnen. Bemerkenswert viele neue Gesichter kommen nicht mehr dazu. "Bei uns zeigt sich die generelle Situation in den Kirchen, dass wir es nicht schaffen, die Menschen anzusprechen, die uns einmal verloren gegangen sind", sagt Pötter dazu etwas resigniert. Man habe mit 70 Leuten angefangen, heute seien es 30 bis 50. In Grünstadt sieht es nicht anders aus. Hier sind es mit 40 bis 50 Gläubigen noch etwa die Hälfte des Anfangsbestands – dabei wechselte das Projekt sogar zwischenzeitlich von der rein katholischen Trägerschaft zu einem ökumenischen Vorbereitungskreis. "Nach Corona sind bei uns noch lange nicht alle wieder zurückgekommen", sagt Peters. 

Was beide beobachten: Zu ihren Gottesdiensten kommen Menschen, die bei "normalen" Gottesdiensten nicht dabei sind. Das liegt, so vermuten sie, an der leichter zugänglichen Form, aber auch an der Uhrzeit, beide Gottesdienste finden abends statt. Große Überläufer zur Sonntagsmesse stellen beide nicht fest, "Einstiegsdrogen" sind die Gottesdienste nicht.

Liturgieformen für Fernstehende sind also ein Baustein in der Pastoral, ein anderer Zugang für jene, die mit traditionellen Formen nicht so viel anfangen können. Sich davon allerdings überwältigenden Zustrom zu erhoffen, ist unrealistisch. In einer zunehmend säkularen Gesellschaft ist der Glaube nur eine Option von vielen – die für manche Menschen dennoch interessant ist.

Von Christoph Paul Hartmann