Vergeben und vergessen? Pius XII. und die Entnazifizierung
Nur wenige Wochen nach dem Kriegsende in Europa, am 2. Juni 1945, hielt Papst Pius XII. eine Ansprache vor dem Kardinalskollegium. Er betonte dabei, die katholische Kirche sei ein Opfer der Nazis gewesen. Sie habe sich früh gegen den Nationalsozialismus positioniert. Und die Deutschen dürften auf keinen Fall unter die Kollektivschuld fallen. Nach der Bestrafung der Schuldigen müsse Deutschland wieder in die Familie der Nationen aufgenommen werden. Die katholische Kirche sei wichtig für die Durchsetzung eines echten wahren Friedens. Und die wahre Bedrohung liege im Bolschewismus.
Der in den USA lehrende Historiker Gerald Steinacher bewertet diese Ansprache als programmatisch im Hinblick auf die Bewältigung des Zweiten Weltkriegs und die nötige Neuordnung. Er hat jüngst zwei Aufsätze veröffentlicht, die sich mit dem Einfluss des Papstes auf die Nürnberger Prozesse gegen führende Repräsentanten des NS-Regimes beschäftigen.
Kritik im Blick auf "Siegerjustiz"
Die Alliierten hatten sich darauf festgelegt, nach dem Krieg die Verantwortlichen für den Völkermord vor Gericht zu stellen. Dazu gab es in Nürnberg zwischen November 1945 und April 1949 insgesamt 13 Prozesse. Am bekanntesten ist der erste gegen die Hauptkriegsverbrecher. Dazu kamen noch die Entnazifizierungstribunale vor Ort.
Nach Ansicht des Historikers Steinacher waren Papst Pius XII., seine engsten Mitarbeiter und zahlreiche Kardinäle und Bischöfe grundsätzlich gegen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Entnazifizierung. Zunächst äußerte der Vatikan nur vorsichtige Kritik im Hinblick auf eine "Siegerjustiz" und verwarf alle Ideen einer deutschen Kollektivschuld. Für den ersten Nürnberger Prozess stellte er auch Unterlagen über die Verfolgung der katholischen Kirche zur Verfügung. Im Laufe der Zeit aber nahm der Widerstand deutlich zu.
Im Oktober 1946, nachdem die Todesurteile im Hauptkriegsverbrecherprozess vollstreckt worden waren, sprach sich der Kölner Erzbischof, Kardinal Josef Frings, für ein sofortiges Ende der Prozesse und der Entnazifizierung aus. Steinacher wertet auch diese Forderung als Indiz dafür, dass von kirchlicher Seite grundsätzlich nicht zwischen Kriegsverbrecherprozessen und den Entnazifizierungstribunalen unterschieden wurde.
Die Kirche in der "Stunde Null": Zwischen Aufbruch und Besinnung
Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete, lag Deutschland materiell und moralisch in Trümmern. Die katholischen Bischöfe wurden Ansprechpartner der Besatzer und Fürsprecher der Bevölkerung. Doch sie räumten bald ein, dass auch Glieder der Kirche während des Kriegs versagt hatten.
Zusammen mit dem Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler, dem Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher, dem späteren päpstlichen Nuntius und US-Bischof Aloysius Muench, Kardinal Amleto Cicognani, dem New Yorker Erzbischof Kardinal Francis Spellman und Monsignore Giovanni Montini, dem späteren Papst Paul VI., fand sich eine informelle Gruppe zusammen, die im Protest gegen die Maßnahmen der Alliierten vereint war. Sie konnten sich nach Steinachers Überzeugung der Unterstützung des Staatssekretariats im Vatikan und des Papstes sicher sein.
Neben ihrer offen ausgesprochenen Kritik habe die Gruppe auch auf anderen Wegen versucht, das Vorgehen der Alliierten zu stören, so der Historiker weiter. Unter anderem habe es moralische, finanzielle und materielle Unterstützung für angeklagte oder verurteilte Täter gegeben. Mächtige Kardinäle und Bischöfe bis hin zu einfachen Priestern in Pfarreien hätten sich immer wieder für "große und kleine Nazis" eingesetzt und mit den unterschiedlichsten Argumenten um Nachsicht oder um Schutz vor Strafen gebeten.
Papst Pius XII. selbst habe sich etwa mit einem Gnadengesuch für Arthur Greiser eingesetzt, das in Polen für Empörung sorgte. Greiser war wegen hunderttausendfachen Mordes, Deportation von Polen zur Zwangsarbeit sowie Ausplünderung des polnischen Volkes angeklagt. Pius XII. bat auch um Gnade für Hans Frank, den ehemaligen Generalgouverneur im Generalgouvernement Polen, oder für Otto Ohlendorf, der im Osten als Chef einer Einsatzgruppe fast 100.000 Menschen umbringen ließ. Die Liste ließe sich verlängern, so Steinacher.
Sorge vor Schwächung Deutschlands und Westeuropas
Der Historiker hat bereits früher zur sogenannten "Rattenlinie" geforscht, also der Hilfe zur Flucht für mutmaßliche und angeklagte Kriegsverbrecher. Dabei habe er viele Belege in Archiven dafür gefunden, dass der Vatikan stark involviert gewesen sei.
Warum aber setzte sich Pius XII. für Kriegsverbrecher ein? Ihm sei es in erster Linie um die Rettung der Seelen gegangen, glaubt Gerald Steinacher und zitiert Schwester Pascalina Lehnert, die langjährige Haushälterin und Assistentin des Papstes: "Die Sorge um die Rettung der Seelen war immer das wichtigste Anliegen von Pius XII."
Außerdem habe den Papst die Sorge umgetrieben, eine harsche Entnazifizierung könne Deutschland und Westeuropa schwächen und zu einem leichten Opfer für den Kommunismus machen. Er wollte eine "Re-Christianisierung" des Kontinents. Als der Kalte Krieg Ende der 1940er Jahre heißer wurde, so Steinacher, habe die päpstliche Haltung auch gut zu den neuen geostrategischen Realitäten gepasst. Der gemeinsame Feind war nicht mehr Nazi-Deutschland – er stand im Osten.
22.11., 12.40 Uhr: Text aktualisiert.