Theologe: Bisherige Strukturprozesse waren wenig fruchtbar
Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen. Das verändert ihre Stellung in der Gesellschaft – aber was bedeutet das für das Innenleben einer Glaubensgemeinschaft? Der Freiburger Pastoraltheologe Bernhard Spielberg forscht zur Kirchenentwicklung. Im Interview spricht er über die schwere Last der "guten alten Zeit" und die Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs.
Frage: Herr Spielberg, die Kirche in Deutschland verliert Mitglieder. Dadurch verändert sich auf der einen Seite die Stellung der Kirche in der Gesellschaft. Aber was bedeutet das auf der anderen Seite für die kirchliche Basis?
Spielberg: Weniger werden ist erst einmal nichts Schlimmes, es ist ein normaler Vorgang, der zu jedem Leben dazu gehört. Doch dieser Vorgang wirft bei denen, die noch Mitglieder sind, Fragen auf: Nämlich, warum sie gerade in dieser Kirche Mitglied sind. Lange Jahre mussten sich die erklären, die ausgetreten sind – nun müssen das diejenigen tun, die drinbleiben. Angesichts der Nachrichtenlage um die Kirche fällt es vielen gar nicht leicht, diese Frage zu beantworten.
Frage: Wo wird diese Veränderung innerhalb der Kirche noch spürbar?
Spielberg: Bei den abnehmenden Ressourcen. Schon heute merken die Engagierten, dass die Mittel deutlich weniger werden. Das Ganze hat also eine ökonomische und eine emotionale Komponente.
Frage: Wird dann auch eine Kirchengemeinde anders funktionieren? Noch vor wenigen Jahrzehnten war das in einem Stadtteil oder einem Dorf die Klammer um die gesamte Gemeinschaft.
Spielberg: In der Kirchengemeinde fallen die Austritte gar nicht so auf, weil sich da schon seit einigen Jahren nur noch ein sehr kleiner Kreis trifft. Es gibt zwar noch die Orte, wo die Kirche der bestimmende zivilgesellschaftliche Akteur ist und man durch die Mitgliedschaft in ihr irgendwo ankommt. Aber solche Orte sind heute Inseln. In der Fläche ist das schon längst nicht mehr so, da erreicht eine Kirchengemeinde maximal 10 Prozent der eigenen Mitglieder. Wenn dann von den 90 Prozent der anderen selbst ein Drittel austritt, würde das in der Gemeinde nicht auffallen. Da verändern sich dann lediglich die finanziellen Mittel und es werden Gebäudebestand oder Personalstellen abgebaut. Insofern ist es begründungspflichtig, wenn man in den Kirchengemeinden so weiter macht wie bisher – und den Großteil der Ressourcen in die Aufrechterhaltung des Status quo steckt.
Frage: Es fällt oft auf: Alle wollen irgendwie Reformen, aber das Bild der Vergangenheit ist sehr mächtig. Ist da die Gemeinde überhaupt zukunftsfähig?
Spielberg: Hilfreich ist, wenn man das Wort "Pfarrgemeinde" auseinandernimmt: Kirche vor Ort braucht eine Struktur, das ist die Pfarrei, und Sozialformen, das ist die Gemeinde. Es wird wichtig sein, diese Dinge zwar als aufeinander bezogen zu denken, aber als getrennt voneinander zu entwickeln. Wir brauchen wegen der schwindenden Mittel Strukturreformen, die Pfarreistruktur wird geweitet werden. Gleichzeitig muss aber gewährleistet sein, dass sich darin neue Formen von Gemeindesein bilden können. Das geht allerdings nicht automatisch, wenn man die Strukturen verändert. Dafür braucht es ein eigenes Engagement. Es wird wenig helfen, sich erst im Krisenfall neue Konzepte zu überlegen. Die bisherigen Strukturprozesse waren in dieser Hinsicht wenig fruchtbar.
Frage: Diese Strukturprozesse laufen nun schon seit einigen Jahren, bei denen es auch immer wieder um neue Gemeindeformen geht. Doch es scheint so, dass solche neuen Formen noch nicht in die Tat umgesetzt wurden. Wie sehen Sie das?
Spielberg: Das würde ich bestätigen – aus folgenden Gründen: Es sind zum einen wirkmächtige Bilder aus der Vergangenheit, die die Strukturprozesse bestimmen. Man arbeitet sich also in erster Linie an alten Pfarrei- und Pfarrerbildern ab, die nicht mehr funktionieren. Das ist schmerzhaft. Zum anderen gibt es oft keine Vision und kein Ziel. Das ist frustrierend. Deswegen hat es das Neue so schwer: Man kann das Alte nicht loslassen, wenn nichts Neues in Sicht ist – und nichts Neues anfangen, weil das Alte noch so bestimmend ist. Ein Teufelskreis.
Frage: Es gibt neue Ansätze, etwa die Bewegung FreshX aus der anglikanischen Kirche, die spirituelles Leben zum Beispiel in Cafés oder auf Marktplätze bringt. Aber solche Initiativen bleiben eine Nische. Warum sind die Neuaufbrüche so gelähmt?
Spielberg: Das liegt neben dem mächtigen Bild der vorgeblich "guten alten Zeit" auch daran, dass diese Transformationsprozesse in der Regel ein beschwichtigendes Moment haben: Allen Beteiligten wird gleich am Anfang versichert, dass sie erst einmal so weitermachen können wie zuvor, bis dann das nächste Pfarrhaus oder die nächste Kirche aufgegeben werden muss. Man hangelt sich also von Krise zu Krise und verunsichert so die Leute. Neue Strukturen werden nicht mit Leben gefüllt, sondern nach kürzester Zeit wieder eingerissen. Diese Dauerreform lässt keine Zeit zum Nachdenken, man ist immer nur mit Umorganisieren beschäftigt: Wer hält wann und wo die Messe? Wo wohnt der Pfarrer? Das bindet unnötig Ressourcen, die nicht in die Seelsorge gehen. Dabei ständen ganz viele Themen auf der To-Do-Liste: Eine Sprache zu finden, die für Zeitgenossen anschlussfähig ist, soziale Herausforderungen, gute Taufen und Hochzeiten, eine Kirche als Dienstleisterin für Menschen statt als Religionsverwaltungsbehörde.
Frage: Die Verwaltungsaufgaben sind also ein Problem?
Spielberg: Nicht die Verwaltungsaufgaben an sich – die braucht schließlich jede gute Organisation. Das Problem ist eine Mentalität eines Bürokratismus, die sich mit den Jahren in der Kirche in Deutschland verbreitet hat. Die lähmt den Fortschritt. Wenn Verwaltung als Dienstleistung funktioniert, dann können die Seelsorgenden zu Menschen gehen und gucken, was passiert. Kirche sollte ein weiter Raum für ganz unterschiedliche Lebensformen sein. Ich nehme mancherorts schon wahr, dass man sich dafür interessiert und bei Strukturprozessen auch Kreativität fördert. In manchen Diözesen im Westen und Nordwesten Deutschlands hat man da schon Menschen aus unterschiedlichen Bereichen zusammengeholt und lässt sie überlegen.
Frage: Die FreshX-Bewegung geht raus aus den Kirchen, auf Marktplätze und in Cafés. Lässt sich das auf Deutschland übertragen?
Spielberg: Fresh X hat damit anfangen, als Kirche ehrlich mit sich selbst zu sein: Die "gute alte Zeit" geht nicht zu Ende, sie ist zu Ende. Das gilt auch für Deutschland, das hat beispielsweise Bischof Felix Genn auch schon vor einigen Jahren formuliert: Die Sozialgestalt von Kirche als Volkskirche ist vorbei. Da stellt sich in Deutschland dann aber ein Problem in den Weg: Unsere Bürokratie. Durch unsere Kirchensteuer und das Staatskirchenrechtssystem haben wir in den letzten Jahrzehnten staatliche Verwaltungsstrukturen und Mentalitätsmuster in die Kirchen getragen, ohne das zu hinterfragen. Zwar liegt darin die Chance, Strukturfragen leichter zu klären, sie macht aus Veränderungen aber auch ein mühsames Geschäft.
Frage: Dass jetzt, weil es so gut wie keine Priester mehr gibt, auf einmal die Laien übernehmen sollen, die damit zu Recht überfordert sind. Was meinen Sie: Wird das noch was?
Spielberg: Ich kenne immer noch genug Leute, die kreativ unzufrieden sind und sich nicht mit dem zufrieden geben, was ist und was gerade passiert. Sie stellen sich die Frage, was Kirche gut kann und wo es Gott im Leben der Menschen zu entdecken gibt. Es gibt abseits der großen Bühnen viele Gruppen, Vereine und Verbände, die Kirche von der Wurzel her neu begreifen und neu gestalten wollen und das auch umsetzen. Sie tun das gerade, weil sie sich vom alten Kirchenbild verabschiedet haben und Hoffnung auf Neues haben. Außerdem gibt es natürlich immer noch die ganze kirchliche Infrastruktur aus sozialen Diensten, Schulen und Beratungsstellen, die für die als Gesellschaft in unserem Land Großartiges leistet.
„Glaube ist also zunächst einmal Vertrauen in das Leben an sich und die Menschen um einen herum. Das braucht es gerade in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft.“
Frage: Aber das ist doch nicht Glaube im engeren Sinne.
Spielberg: Ich würde Ihnen widersprechen: Der diakonische Dienst ist genauso ein Ausdruck des Glaubens wie der liturgische. Es geht um eine Pastoral des Lernens: Kirche ist dafür da, den Glauben von Menschen genau dort stärken, wo sie gerade sind – manchmal auch in der Kirche. Jesus hat zu den Menschen gesagt: "Dein Glaube hat dich gerettet." (Lk 17,19) – und eben nicht "Mein Glaube hat dich gerettet". Thomas Halik hat es so formuliert: "Glaube ist die Kunst, mit dem Geheimnis und den Paradoxien des Lebens zu leben." Glaube ist also zunächst einmal Vertrauen in das Leben an sich und die Menschen um einen herum. Das braucht es gerade in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft. Da kann die Kirche ansetzen. Das Problem heute ist nicht, dass viele Menschen den Glauben an Gott verloren hätten –diesen Glauben kann man in einer säkularen Kultur abstrakt abhandeln. Viel fundamentaler ist, dass nicht wenige den Glauben an die Menschen verloren haben. Das hat Folgen für die gesamte Gesellschaft, für die Demokratie. Angesichts der vielen Krisen in nah und fern kann man den Glauben an die Menschen leicht verlieren. Da ist Religion eine Ressource, um diesen Glauben an das Leben selbst nicht zu verlieren.
Frage: Das heißt also, im Ernstfall bringt es mehr, ein gemeinsames Essen für die Nachbarschaft zu organisieren als eine Eucharistiefeier?
Spielberg: Ich würde das überhaupt nicht gegeneinander ausspielen. Es braucht Diakonie und Liturgie gleichermaßen. Beides ergänzt sich auch oft: Wo es toll gestaltete Gottesdienste gibt, kommt auch oft das soziale Angebot dazu. Und wo es ein soziales Angebot gibt, stellt sich nicht selten die Frage, ob man das gemeinsame Zusammenkommen nicht noch auf eine andere Art und Weise feiern sollte, die Gemeinschaft nicht auch spirituell stärkt. Es ist egal, womit man anfängt.
Frage: Sie haben die Singularisierung der Gesellschaft bereits angesprochen. Die hat auch für die Kirche Folgen. Dazu gehört, dass die Mitte wegbricht und die Ränder stärker werden. Die einen wollen das Priesteramt abschaffen, die anderen nur noch die vorkonziliare Messe feiern. Ist das ein Problem oder einfach eine Spannung, mit der man klarkommen muss?
Spielberg: Zweiteres. Es gibt gesellschaftlich wie kirchlich die Zumutung der Pluralität – und das ist für jede und jeden Einzelnen eine Herausforderung. Aber katholisch zu sein beinhaltet seit jeher eine extrem große Bandbreite an Glaubensformen. Wenn man in die Weltkirche schaut, wird das ersichtlich – dagegen ist es in Deutschland noch sehr ruhig. Wir haben hier eher die Tendenz, Spaltungen sehr frühzeitig wahrzunehmen. Ich plädiere eher dafür, dass wir eine Kultur finden, in der wir viele Glaubensformen akzeptieren und diese nebeneinander existieren können. In den USA gibt es sogenannte "shared parishes", in denen Katholiken aus verschiedenen Kulturen und Ethnien die gleichen Gebäude nutzen – jede Gruppe wie es zu ihr passt. Die einen wollen eine lange Messe, die anderen eine kurze, die einen wollen tanzen, die anderen eher andächtig sein. Die einen wollen einen personalisierten Parkplatz, die anderen nicht. Diese Co-Existenz kann auch für uns in Deutschland ein Ansporn sein.
Frage: Das hat dann aber nicht mehr viel mit der Eucharistie als "Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens" (LG 11) zu tun, bei der sich alle treffen sollen.
Spielberg: Aber der Anspruch, Menschen über liturgische Vorlieben oder soziale Klassen hinweg zu verbinden, bleibt ja bestehen. Das ist ja ein Ansporn. Aber man sollte dabei ehrlich zu sich selbst sein und benennen, wo die Kirche diesen Anspruch nicht erfüllt. Sonst wird es skurril. Das wäre das gleiche, wie wenn die Deutsche Bahn mit ihrer Pünktlichkeit werben würde – aber den Anspruch, pünktlich zu sein, hat sie ja hoffentlich wirklich. Das eine ist der Anspruch, das andere die Realität. Die könnte man so gestalten, dass erfahbar wird, was man sich selbst im Konzil ins Stammbuch geschrieben hat. Wenn man zehn Semester Theologie studiert haben muss, um erklären zu können, dass eine Messe theoretisch Quelle und Höhepunkt ist, statt es direkt zu spüren, muss man etwas ändern.