Kirche in den USA ist "sehr stark polarisiert"

Theologe: Ratzinger und Wojtyla haben US-Kirche stark geprägt

Veröffentlicht am 25.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Eichstätt ‐ Die Disziplinarmaßnahmen des Papstes gegen einige US-Bischöfe wirken, meint Dogmatiker Benjamin Dahlke von der Katholischen Universität Eichstätt. Im katholisch.de-Interview spricht er über die aktuelle Lage der Kirche in den USA.

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Der Missbrauchsskandal hat mehrere Diözesen in den USA in die Insolvenz getrieben. Weitere Probleme, mit denen die Kirche in den USA zu kämpfen hat, sind Vertrauensbrüche zwischen Priestern und Bischöfen, die mangelnde Unterstützung für die von Papst Franziskus für 2021 einberufene Weltsynode, zuletzt das vatikanische Segensdokument "Fiducia supplicans" und vor allem traditionalistische Blogs und papstkritische Medien, die Stimmung gegen den aktuellen Kurs des Kirchenoberhaupts machen. Im Interview mit katholisch.de spricht der Eichstätter Dogmatiker Benjamin Dahlke, dessen Buch über die katholische Theologie in den USA gerade erschienen ist, über die aktuelle Situation der Kirche in den USA, die noch stark von den beiden Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. geprägt ist.

Frage: Herr Dahlke, die US-Kirche ist gespalten, oft ist von einem Vertrauensbruch zwischen Papst und dem Klerus die Rede. Wie kommt es dazu?

Dahlke: Die amerikanische Gesellschaft ist insgesamt stark polarisiert, viel mehr als in Deutschland der Fall. In der Politik gibt es zwei klar abgrenzbare Lager, die zum Teil sehr gegensätzliche Programme vertreten: einerseits die Demokraten, andererseits die Republikaner. Diese allgemeine Polarisierung ist auch in der Kirche festzustellen. Das hängt damit zusammen, dass die Prägung durch Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sehr stark war. In den USA finden aber allmählich viele der von Papst Franziskus ernannten Bischöfe ihren Platz.

Frage: Warum haben Johannes Paul II. und Benedikt XVI. stärker polarisiert als die Päpste davor?

Dahlke: Dem polnischen Papst waren vor allem ethische Themen wichtig. Als er 1993 zum Weltjugendtag nach Denver reiste, sprach er mit Blick auf die Gegenwart von einer "Kultur des Todes". Er forderte die Amerikaner auf, sich aktiv für den Lebensschutz einzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Thema Abtreibung die amerikanische Gesellschaft schon damals spaltete. Die Demokraten verwiesen auf das Recht der Frauen, während die Republikaner das Recht der Ungeborenen betonten. Was Benedikt betrifft, so sorgte seine Förderung der Alten Messe für Verstimmungen.

Frage: Gegen Ende des letzten Jahres hatte der Papst hochrangige Kirchenvertreter wie Strickland oder Burke sanktioniert. Dies geschah aber erst, nachdem beide jahrelang zu ihm in Opposition gegangen waren. Warum hat die Reaktion so lange gedauert?

Dahlke: Für den Vatikan war die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle lange Zeit vorrangig. Mehrere US-Diözesen mussten Insolvenz beantragen, weil sie die hohen Entschädigungszahlungen nicht aufbringen konnten. Und es gibt noch viele andere Herausforderungen, etwa die Migration aus Mexiko. Deshalb war die Situation um Bischof Strickland und seine kleine und kaum bedeutende texanische Diözese nicht die wichtigste Frage auf der Agenda des Vatikans.

Bild: ©KNA

Mit der Disziplinarmaßnahme wird deutlich gemacht, dass die Richtung, die Burke vertritt, nicht die Richtung des Papstes ist.

Frage: Wie sieht es mit Papstkritiker Kardinal Raymond Burke aus?

Dahlke: Burke ist Kurienkardinal mit Sitz in Rom. Er leitet somit keine Diözese in den Vereinigten Staaten. Aber seine Disziplinierung hat große Wirkung auf die US-Kirche. Es wird deutlich, dass die Richtung, die Burke vertritt, nicht die Richtung des Papstes ist. Dieses Signal wird von vielen Bischöfen sehr gut verstanden.

Frage: Immer mehr Kleriker nutzen die sozialen Netzwerke oder reaktionäre Online-Portale für ihre Papstkritik. Warum findet das großen Anklang?

Dahlke: Viele amerikanischen Bischöfe sind sehr gut darin, die modernen digitalen Medien zu nutzen. Jedenfalls deutlich besser als viele ihrer Amtsbrüder in Europa. Einige Online-Portale bieten jedoch fragwürdigen Positionen ein Forum. Da findet man einen bunten Mix aus Coronathemen, massiver Kulturkritik und einer eindeutigen politischen Agenda. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass es auch seriöse Online-Portale und Zeitschriften mit hoher Reichweite und großer Leserschaft gibt. Sehr erfolgreich ist etwa das Jesuitenmagazin "America".

Frage: Dennoch geraten progressivere Kirchenvertreter aus dem eher konservativen Lager stärker unter Beschuss. Erst kürzlich war von einer gezielten Kampagne gegen den Glaubenspräfekten Fernandez wegen seines Buches über Orgasmen die Rede. Woran liegt das?

Dahlke: Indem man auf Fernandez zielt, greift man die Richtung an, für die er steht. Vieles von dem, was Franziskus will, wird in den USA grundsätzlich abgelehnt. Folglich gibt es oft Irritationen, Spannungen und Streit über bestimmte Themen. Aktuell ist das natürlich die Segnung homosexueller Paare. Ich möchte aber auch betonen, dass das etwas mit unserer Medienwelt insgesamt zu tun hat. Offenbar muss man etwas lauter sein, um gehört zu werden.

Der neue Glaubenspräfekt und Kardinal Víctor Manuel Fernández
Bild: ©picture alliance / Photoshot

"Indem man auf Fernandez zielt, greift man die Richtung an, für die er steht", sagt Dahlke.

Frage: Nicht nur "Fiducia supplicans" sorgt für Spannungen, auch die vorkonziliare Messe spielt in den USA eine nicht unbedeutende Rolle. Warum haben Kleriker einen Hang dazu?

Dahlke: In den Vereinigten Staaten sind es nicht nur Kleriker, sondern auch viele Gläubige, denen die vorkonziliare Messe wichtig ist. Das ist schon ein etwas breiteres Phänomen und hängt natürlich auch mit der Identitätsfrage zusammen. Die protestantischen Kirchen haben ja nur Englisch als Liturgiesprache, und wenn man sich abgrenzen will, dann ist Latein eine gute Möglichkeit. Ein anderer Grund ist, dass es eine klare Aufgabenverteilung gibt. Sowohl die Priester als auch die Gläubigen wissen genau, was sie zu tun haben. Oft kommt noch die Haltung hinzu, dass man als kleine Herde in einer von lauter Verwirrung geprägten Welt den reinen Glauben bewahren muss.

Frage: Es geht also um Eindeutigkeit?

Dahlke: Ja. Die amerikanische Gesellschaft ist komplex und wird immer komplexer. Das hat zum einen mit der anhaltend hohen Migration zu tun. Zum anderen werden die Rollen zwischen Mann und Frau neu ausgehandelt. Vieles ist im Umbruch, die Situation ist sehr offen. Solche Fixierungen erscheinen in dieser komplexen Situation attraktiv, weil es augenscheinlich mehr Klarheit und auch Übersichtlichkeit gibt. Diese Phänomene gibt es genauso in Europa.

„Vieles von dem, was Franziskus will, wird in den USA grundsätzlich abgelehnt. Folglich gibt es oft Irritationen, Spannungen und Streit über bestimmte Themen. Aktuell ist das natürlich die Segnung homosexueller Paare.“

—  Zitat: Benjamin Dahlke

Frage: Eine Umfrage im vergangenen Herbst hat ergeben, dass junge Priester in den USA deutlich konservativer sind als in den 1960/1970er Jahren. Dazu schreiben Sie in Ihrem Buch, dass es 1965 noch über 17.000 Priesteramtskandidaten gab. Danach ging die Zahl kontinuierlich zurück. Wie kommt es zu einem solchen Wandel und welche Rolle spielt die Theologie dabei?

Dahlke: Inzwischen ist die Zahl der US-Katholiken auf aktuell über 75 Millionen gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Priesteramtskandidaten konstant gesunken, obwohl zahlreiche Seminaristen aus dem Ausland zur Ausbildung ins Land kommen. Die Kirche in den Vereinigten Staaten hat ein erhebliches Nachwuchsproblem, über das wenig bis gar nicht gesprochen wird. Dass viele Seminaristen konservativ sind, hängt auch mit den Ausbildungsstrukturen zusammen. Das Theologiestudium findet nicht an Universitäten statt, sondern in eigenen Priesterseminaren unter bischöflicher Kontrolle. Da die meisten Bischöfe selbst konservative Positionen vertreten, sorgen sie für Professoren mit einer entsprechenden Theologie. Teilweise werden die Seminaristen sogar von den Laien getrennt ausgebildet. So bilden sich frühzeitig klerikale Milieus und Strukturen heraus.

Frage: Gerade aus den USA kritisierte man die Einbeziehung von Laien bei der Weltsynode. Hat die Weltsynode diese Trennung deutlich gemacht?

Dahlke: Genau das ist der Punkt: Das Projekt der Synodalität trifft auf einen Klerus, dessen eigene Identität unsicher ist. Trotzdem müssen Bischöfe und Priester in einer komplexen Gesellschaft und in sehr komplexen kirchlichen Strukturen wirken. Wenn in synodalen Prozessen weitere Perspektiven aufgegriffen und bedacht werden sollen, dann wird das sehr anstrengend. Das erklärt manche Widerstände und Vorbehalte. Die Frage ist nur, ob es auf Dauer funktionieren kann, wenn auf der einen Seite die Kleriker und auf der anderen Seite die Gläubigen stehen – und diese Kluft immer größer wird. Interessant sind auch die Statistiken, die besagen, dass sich gerade junge Menschen von der Kirche abwenden. Die Säkularisierungstendenzen in den USA nehmen immer mehr zu.

Beratungen bei der Weltsynode im Vatikan
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani

"Das Projekt der Synodalität trifft auf einen Klerus, dessen eigene Identität unsicher ist", findet der Eichstätter Dogmatiker.

Frage: Aber es gibt auch eine nicht gerade kleine Gegenströmung. Was ist beispielsweise mit Großveranstaltungen wie der "SEEK", bei der bekannte Bischöfe wie Robert Barron sprechen, die mit ihrer Katechese und Medienarbeit eine Vielzahl junger Menschen anspricht?

Dahlke: Ich habe Bischof Barron selbst bei einem Vortrag in Notre Dame erlebt. Mehrere hundert Studierende kamen, da er durch die sozialen Netzwerke und digitalen Medien sehr bekannt ist. Was er vorgetragen und präsentiert hat, scheint viele junge Menschen angesprochen zu haben. Barron vertritt einen intellektuell wachen, konservativen Katholizismus, den man ernst nehmen sollte. Diese Richtung ist sehr attraktiv, weil sie stark katechetisch und auf Glaubensvermittlung ausgerichtet ist. Dazu gehört Professionalität in der Ästhetik des Auftretens und in der Präsentation der Inhalte. Manches erinnert dabei an Freikirchen und Megachurches, die sehr erfolgreich sind, den Glauben lebensnah zu verkünden. Eine solche Form des Katholizismus wird in den USA vermutlich langfristig Bestand haben.

Frage: Was bedeutet das für Deutschland?

Dahlke: In den USA ist Bischof Barron erstaunlich stark im Mainstream des kirchlichen Lebens verankert. Seine Videos und Bücher werden von Pfarreien in der Katechese eingesetzt, auch junge Leute verwenden sie. Davon können wir in Deutschland etwas mitnehmen, jedenfalls was den Punkt angeht, den Glauben professioneller, zielgruppenorientierter und auch ästhetisch ansprechender zu präsentieren. Diözesen sollten die professionelle Glaubenskommunikation verstärkt selbst wahrnehmen. Sonst sind es neue geistliche Bewegungen oder kirchliche Randgruppen, die das Feld besetzen.

Frage: Sind die "heißen Eisen" auch Teil der Diskussionen in dieser Strömung?

Dahlke: In diesen Kreisen gibt es so gut wie keine Diskussionen über Themen wie Frauenordination oder die Segnung homosexueller Paare. Man gehört eben einem bestimmten Lager an. Aber natürlich wird in der amerikanischen Theologie und Kirche über all das diskutiert. Denn es geht schließlich um die Frage, wie die Zukunft des Katholizismus in der modernen Gesellschaft der USA aussehen soll.

Von Mario Trifunovic

Buchtipp

Benjamin Dahlke: Katholische Theologie in den USA, Verlag Herder 2024, ISBN: 978-3-451-39776-9, 264 Seiten, 38 Euro.