Warum die Gemeinde nicht in einer Großpfarrei aufgehen will

Die Pfarrei Heilige Familie – das gallische Dorf von Berlin

Veröffentlicht am 14.03.2024 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 
#KircheVorOrt

Berlin ‐ In nahezu allen deutschen Bistümern wurden in den vergangenen Jahren neue Großpfarreien errichtet – nicht immer zur Freude von Priestern und Gläubigen. Die Pfarrei Heilige Familie in Berlin hat sich als letzte Gemeinde der Bundeshauptstadt solchen Fusionsplänen bislang widersetzt – mit Konsequenzen.

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Wer auf der Internetseite des Erzbistums Berlin die interaktive Karte mit den katholischen Pfarreien in der Bundeshauptstadt anklickt, sieht fast nur grün. Mit dieser Farbe werden in der Karte diejenigen Pfarreien markiert, die in den vergangenen Jahren im Zuge des Pastoralen Prozesses "Wo Glauben Raum gewinnt" durch den Zusammenschluss zuvor eigenständiger Pfarrgemeinden neu entstanden sind. Von St. Franziskus im Norden, die Anfang 2017 die erste neue Pfarrei im Erzbistum war, bis Hl. Johannes XXIII. im Süden, von St. Johannes der Täufer im Westen bis St. Hildegard von Bingen im Osten – fast ganz Berlin besteht inzwischen aus Großpfarreien. Der Fusionsprozess, der einst vom damaligen Berliner Erzbischof Rainer Maria Woelki initiiert worden war, ist damit weitgehend abgeschlossen.

Lediglich ziemlich genau in der Mitte der Karte – eingeklemmt zwischen den neuen Pfarreien St. Elisabeth im Wedding, Hl. Theresa von Avila in Pankow und Bernhard Lichtenberg in Mitte – ist noch ein kleiner gelber Fleck übrig, der in der Karte namenslos bleibt, nicht angeklickt werden kann und ein wenig an das berühmte gallische Dorf von Asterix erinnert, das bekanntermaßen von mehreren Römerlagern umzingelt ist. Bei dem Fleck handelt es sich um die Kirchengemeinde Heilige Familie im Ortsteil Prenzlauer Berg. Und die ist in der Karte deshalb gelb markiert, weil sie sich in den vergangenen Jahren allen Fusionsplänen widersetzt hat und inzwischen als letzte Pfarrei in Berlin noch nicht in einem neuen, größeren Verbund aufgegangen ist.

Woelki-Plan: 105 Pfarrgemeinden zu 30 Großpfarreien fusionieren

Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man in das Jahr 2012 zurückgehen. Damals, am 1. Advent, kündigte Erzbischof Woelki, der kurz zuvor zum Kardinal ernannt worden war, in einem Hirtenbrief einen umfassenden Umbau des Erzbistums an. Angesichts der rückläufigen Katholikenzahl und des Mangels an Priestern sollten die 105 Pfarrgemeinden unter Beteiligung der Kirchenmitglieder bis 2020 zu nur noch 30 neuen Großpfarreien fusioniert werden.

Kardinal Rainer Maria Woelki spricht bei einer Eucharistiefeier
Bild: ©KNA/Harald Oppitz (Archivbild)

Kardinal Rainer Maria Woelki startete 2012 als Berliner Erzbischof den Pastoralen Prozess "Wo Glauben Raum gewinnt", in dessen Zuge die 105 Pfarrgemeinden bis 2020 zu 30 neuen Großpfarreien fusioniert werden sollten.

Gegen die Pläne des Erzbischofs regte sich schnell Widerstand, aus mehreren Pfarrgemeinden wurde offene Ablehnung geäußert. Die Kritiker warfen Woelki vor, mit seinen Umbauplänen die gewachsenen Strukturen des gemeindlichen Lebens zu zerschlagen. Als einer der Wortführer trat dabei Michael Höhle auf, der Pfarrer von Heilige Familie. Gemeinsam mit einem anderen Priester wandte er sich im Frühjahr 2013 mit einem Brief an Woelki und alle Priester und Diakone des Erzbistums. Darin kritisierten sie eine mangelhafte Beteiligung der Priester und Gemeinden an den Umbauplänen und – nach einer ersten Fusionswelle Anfang der 2000er Jahre – einen "erneuten Abbau der Gemeinden, die ihre Entscheidungsgremien, Ansprechpartner und sicher viele engagierte Menschen zugunsten von Zentralisierungen verlieren" würden. Die geplanten Großpfarreien brächten zudem Personen und Regionen zusammen, die traditionell und milieumäßig keinen oder kaum Kontakt miteinander hätten.

Der Fusionsprozess, so konstatierten die beiden Geistlichen, sei vor allem durch die sinkende Zahl der Priester verursacht: "Man darf konsequenterweise fragen, wie die Situation aussehen wird, wenn im Jahr 2040 erneut umstrukturiert werden muss. Wird dann der letzte Priester der Diözese zugleich ihr Bischof sein?" Die Autoren appellierten daher an Woelki, über sogenannte "viri probati" – also verheiratete und bewährte Männer – nachzudenken, um mit ihnen das Problem des Priestermangels zu lindern. Zwar lehnten sie die zölibatäre Lebensform in keiner Weise ab, "aber wir plädieren dafür, dass die Berufung zur Ehelosigkeit und zum Priestertum nicht als naturgemäße Einheit betrachtet wird". Andernfalls gebe es nur die Fusionsrealität bis 2020 und zwangsläufig weitere Folgefusionen. "Dass die Kirche, zumindest in unserem Land, auf diese Weise an ihr Ende kommt, ist wohl zweifelsfrei." Am Ende ihres Briefes riefen die beiden Priester zur offenen Diskussion über das Thema auf.

"Sehr bedauerlich, dass die Pfarrei den Prozess nicht mitgegangen ist"

Woelkis Antwort auf den Brief der Geistlichen ließ nicht lange auf sich warten. Am Gründonnerstag 2013 teilte er beiden in einem eigenen Schreiben seine "Verwunderung" und sein "Befremden" darüber mit, dass sie eigene Diskussionsrunden über seinen Reformplan abhalten wollten, obwohl er selbst doch an das gesamte Erzbistum "eine ausdrückliche Einladung zum Gespräch miteinander" ausgesprochen habe. Außerdem ging er auf den "viri probati"-Vorschlag ein: Weil über diese Frage gar nicht das Erzbistum entscheiden könne, solle man sich "nicht irgendwelchen persönlichen Tagträumen hingeben", so der Kardinal.

Pfarrer Höhle und mit ihm seine Pfarrei blieben gleichwohl bei ihrer Ablehnung der Fusionspläne – und das auch, als nach und nach beinahe alle anderen Priester und Gemeinden ihren Protest aufgaben und sich dem Prozess "Wo Glauben Raum gewinnt" anschlossen. Es sei "sehr bedauerlich, dass die Pfarrei Heilige Familie den Prozess nicht mitgegangen" sei, schreibt das Erzbistum jetzt, gut zehn Jahre später, auf Anfrage von katholisch.de. Doch warum hat die Erzdiözese die Pfarrei nicht einfach zur Fusion gezwungen? Dies liege daran, dass die Bedenken von Pfarrer Höhle, den Gremien und den Gemeindemitgliedern in Heilige Familie so gravierend gewesen seien, "dass eine Zusammenarbeit mit den anderen Pfarreien in dem Pastoralen Raum nicht mehr möglich war".

„Wir in Heilige Familie sind dabei geblieben, selbstständig zu bleiben. Ein überschaubares Gebilde schien uns wichtig. Gerade in Zeiten, die ohnehin eine Herausforderung sind.“

—  Zitat: Angelika Plümpe

Pfarrer Höhle will sich zu seiner Kritik an den Fusionen und den aus dem Alleingang seiner Gemeinde erfolgten Konsequenzen gegenüber katholisch.de nicht äußern. Er fürchte, dass manches, was er sagen könnte, wieder zu Missverständnissen führen würde, teilt der Geistliche schriftlich mit. Dem Protokoll einer Pfarrgemeinderatssitzung von Heilige Familie aus dem vergangenen Jahr ist allerdings zu entnehmen, dass seine Haltung offenbar unverändert ist. Mit Blick auf die Zukunft der Gemeinde und die neu errichteten Großpfarreien heißt es in dem Papier: "Pfarrer Höhle sieht keinen Gewinn in den Fusionen."

Anders als der Pfarrer ist Angelika Plümpe zum Gespräch mit katholisch.de bereit. Sie war von 2011 bis 2023 Vorsitzende des Pfarrgemeinderats von Heilige Familie und damit unmittelbar an den Debatten über die geplanten und auch von ihr abgelehnten Fusionen beteiligt. "Wir haben gekämpft, zuerst mit anderen Gemeinden und Gemeindevertretern", erzählt sie rückblickend über die Zeit ab 2013. Mit der Zeit seien jedoch immer mehr Mitstreiter "abgebröckelt" – teilweise, weil sie gehofft hätten, so doch mehr Mitspracherechte zu bekommen oder weil sie die Fusionen irgendwann doch als notwendig erachtet hätten.

Die Eigenständigkeit hat für die kleine Gemeinde auch ihren Preis

"Wir in Heilige Familie sind dabei geblieben, selbstständig zu bleiben. Ein überschaubares Gebilde schien uns wichtig. Gerade in Zeiten, die ohnehin eine Herausforderung sind", sagt Plümpe. Man sehe schließlich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, dass große Gebilde irgendwann zerfielen, weil sie kaum sinnstiftend organisiert werden könnten. Die Gremien in Heilige Familie dagegen arbeiteten "großartig und effektiv". Nach dem Ende der Corona-Pandemie engagierten sich inzwischen auch wieder viele Jugendliche in Ministrantengruppen der Gemeinde. Zudem gebe es mehrere Chöre sowie einen guten Kontakt zu den Orten religiösen Lebens in der Pfarrei wie den zwei Kindertagesstätten und der berlinweit aktiven Katholischen Studierendengemeinde Edith Stein, die ihren Sitz ebenfalls in Heilige Familie hat.

Und doch hat die Eigenständigkeit für die kleine Gemeinde auch ihren Preis. "Natürlich haben wir mit Nachteilen zu kämpfen", gibt Plümpe zu. Vor allem fehle der Pfarrei hauptamtliches Personal für die Arbeit mit den vielen Kindern und Jugendlichen, die nicht allein durch Ehrenamtliche geleistet werden könne. Eine neue Stelle bekomme man vom Erzbistum aber nicht bewilligt, klagt die langjährige Pfarrgemeinderatsvorsitzende. "Wir haben mal einen Antrag gestellt, aber da hieß es, dass nur die fusionierten Gemeinden Stellen bekämen." Das Erzbistum teilt katholisch.de in diesem Zusammenhang mit: "Die für alle neuen Pfarreien vorgesehen Verwaltungsentlastung und die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Prozesses 'Wo Glauben Raum gewinnt' kommt der Pfarrei Heilige Familie nicht zugute."

„Die Pfarrei Heilige Familie wird in die neu gegründete Pfarrei Theresa von Avila integriert. Einen Zeitplan gibt es dafür noch nicht.“

—  Zitat: Erzbistum Berlin

Plümpe, die auch geistliche Begleiterin der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) im Erzbistum ist, nimmt es mit Galgenhumor. Man sehe ja, dass die neuen Großpfarreien auch nicht genug Personal hätten. Insofern gleiche sich das wieder aus. Überhaupt höre sie aus manchen Großpfarreien Klagen, weil so vieles in den großen Strukturen "baden" gehe – auch wenn das natürlich nicht für alle neuen Pfarreien gelte. "Und ich höre immer wieder auch Bewunderung dafür, dass wir es als Heilige Familie geschafft haben, nicht zu fusionieren und damit überschaubar und selbstbestimmt zu bleiben."

Sorgen vor einer ungewissen Zukunft der Pfarrgemeinde

Plümpe mag für viele der gut 5.700 Mitglieder der Pfarrgemeinde sprechen – aber natürlich nicht für alle. Wenn man sich in der Gemeinde umhört, zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits loben viele Gläubige die engagierte pastorale Arbeit der Pfarrei und insbesondere von Pfarrer Höhle. Die Gemeinde sei sehr lebendig und ein kleiner pastoraler Raum für sich, der definitiv funktioniere. Das zeige sich etwa an der recht hohen Zahl an Taufen, Trauungen und Erstkommunionkindern; vergangenes Jahr empfingen 30 Kinder aus der Pfarrei erstmals das Sakrament der Eucharistie. Andererseits aber hört man auch Sorgen vor der Zukunft. Dadurch, dass sich die Gemeinde den Fusionen der vergangenen Jahre verweigert habe, laufe sie Gefahr, irgendwann vor die Wand zu laufen und abgehängt zu werden. Allzu lange, so mutmaßen manche Gesprächspartner, werde die Pfarrei den Status quo und damit die Eigenständigkeit allerdings wohl ohnehin nicht mehr aufrechterhalten können.

Das vermutet auch Angelika Plümpe. Pfarrer Höhle sei die Überlebensgarantie für die Gemeinde. Solange er im Amt sei, werde Heilige Familie weiterbestehen, ist sie überzeugt. "Er ist, glaube ich, Anfang 60. Insofern dürften wir noch maximal zehn Jahre haben." Und dann? Dann, so vermuten viele in der Pfarrei, könnte ihre Gemeinde sehr schnell in eine der benachbarten Großpfarreien integriert werden. Und tatsächlich erklärt das Erzbistum: "Die Pfarrei Heilige Familie wird in die neu gegründete Pfarrei Theresa von Avila integriert. Einen Zeitplan gibt es dafür noch nicht." Der lange Kampf von Heilige Familie wäre dann zu Ende.

Von Steffen Zimmermann

Offenlegung: Der Autor ist selbst Mitglied der Pfarrgemeinde Heilige Familie, jedoch nicht in Gremien der Gemeinde engagiert.