Franziskanerin über die Mechanismen von spirituellem Missbrauch

Hochschulseelsorgerin: Was Seelsorge gefährlich macht

Veröffentlicht am 05.04.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Schwester Marie-Pasquale Reuver hat viele Jahre in der Klinikseelsorge gearbeitet und ist heute Hochschulseelsorgerin in Stuttgart. Immer wieder erlebt die Franziskanerin, dass Menschen durch religiöse Gruppierungen, Gemeinden oder spirituelle Angebote Schaden erleiden.

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Was macht einen gesunden Glauben und eine gesunde Spiritualität aus? Dazu gehört auch das Grenzen ziehen, erklärt Schwester Marie-Pasquale Reuver. Die Ordensfrau und Hochschulseelsorgerin spricht im Interview mit katholisch.de. über ihre Erfahrungen und erklärt, wie man sich vor spirituellem Missbrauch schützen kann. 

Frage: Schwester Marie-Pasquale, was meinen Sie konkret, wenn Sie von missbräuchlichen Situationen in der Seelsorge sprechen?  

Schwester Marie-Pasquale: Wenn Druck aufgebaut und Autorität missbraucht wird, ist Spiritualität gefährlich und kann sogar krank machen. Ich habe lange Zeit als Klinikseelsorgerin in einer psychosomatischen Einrichtung gearbeitet. Dort habe ich immer wieder Patienten kennengelernt, die Kontakte zu religiösen Gruppierungen hatten, die ihnen mehr Schaden zugefügt als geholfen haben. Eine Patientin etwa hatte ihr Kind durch einen Unfall verloren und war deshalb schwer depressiv. Sie war Mitglied in einer Freikirche. Dort wurde sie dazu aufgefordert, Gott immer wieder zu lobpreisen. Innerlich war dieser Frau aber gar nicht danach zumute. Außerdem wurde ihr gesagt, dass sie wohl zu wenig und nicht inbrünstig genug gebetet hätte und zu wenig fromm gewesen wäre, sonst wäre sie nun nicht depressiv, sondern wüsste, dass es ihrem Sohn bei Gott gut geht. Die Patientin wurde also für ihre Seelenlage selbst verantwortlich gemacht. Vier Jahre lang hat es gedauert, bis sich die Frau von dieser Gruppierung lösen konnte. Eine andere Patientin hatte mir erzählt, dass ihre Wohnung von Mitgliedern einer Freikirche nach Gegenständen durchsucht wurde, die angeblich für ihr unglückliches Leben verantwortlich seien und das Böse hineinlassen. Die haben dann einen Stein, den sie sich einmal von einem Strandurlaub mitgebracht hatte, aus der Wohnung entfernt. Solche Geschichten zeigen, wie Spiritualität negativ und bevormundend wirken kann. 

Frage: Woran kann man erkennen, dass ein spirituelles Angebot schädlich ist? 

Schwester Marie-Pasquale: Anfänglich erkennt man das häufig nicht. Denn die spirituellen Angebote wirken auf den ersten Blick harmlos, einladend, gewinnend. Menschen, die in einer seelischen Not sind, freuen sich über eine solche Kontaktaufnahme. Das geht etwa Studierenden oft so, die in eine fremde Stadt ziehen und sich über neue Kontakte freuen. Die neue Gemeinde wird vielleicht zu einer Art Familienersatz. Es ist schwer, sich später davon wieder zu lösen. Bei aufkommenden Zweifeln wird man häufig mit vorgefertigten Antworten mundtot gemacht. Manche können kaum unterscheiden, was falsch oder richtig für sie ist, denn die eigene Meinung zählt in solchen Gruppen meistens nicht. Letztlich wird einem dann gesagt, was Gott für einen will und was nicht. Wenn sich dann die Prediger dieser Gruppen selbst an die Stelle Gottes stellen und keine Autorität neben sich akzeptieren, wenn Zweifel und kritische Fragen nicht erlaubt sind, dann wird es gefährlich.  

Frage: Was kann Menschen helfen, die in religiöse Gruppen hineingeraten sind, die ihnen schaden, wieder herauszufinden? 

Schwester Marie-Pasquale: Es hilft, seine Bedenken zu äußern. Äußere ich meine Fragen innerhalb der Gemeinschaft oder der Begleitung gegenüber und ich werde nicht ernst genommen, dann habe ich ein weiteres Indiz für eine Spiritualität, die nicht in die Freiheit führt. Noch wichtiger ist es mit Menschen außerhalb zu sprechen. Solche Menschen können helfen, den eigenen Gefühlen wieder trauen zu lernen. Aber oft ist es ein sehr langer Weg und es braucht viel Mut, der eigenen Wahrnehmung wieder zu trauen 

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Video: © Julia Rübisch

Die Franziskaner Schwester Marie-Paquale Reuver spricht in dem Religionsmagazin "Alpha & Omega" über den Glauben und was Kraft geben kann.

Frage: Innerhalb der katholischen Kirche gibt es eine große religiöse Vielfalt. Auch dort kann man missbräuchliche Situationen erleben…

Schwester Marie-Pasquale: Jede Situation, in der wir uns menschlich nah begegnen, birgt Verletzungspotential. Es kann jedem Seelsorgenden passieren, dass ein Wort oder eine Geste für jemanden nicht passt. Das kann ich nicht verhindern. Aber ich kann besonders darauf achten mein Gegenüber zu ermutigen, ins Gespräch zu bringen, wenn etwas für sie nicht passt. Missbräuchlich wird es dann, wenn ich die spirituelle Deutung meines Gegenübers nicht achte und ihr meine eigene aufzwinge. Wenn jemand zu wissen meint, wie Gott etwas genau sieht und was von Gott aus gesehen das Beste für mich ist, dann ist Vorsicht geboten und ich sollte mich widersetzen. Tut mir eine Begleitung durch einen Seelsorgenden nicht gut, dann habe ich das gute Recht, diese abzubrechen - auch wenn das oft viel Kraft kostet. Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die ein schwieriges Trauergespräch hatte: Der Priester kondolierte nicht, fragte nicht nach dem Leben des Verstorbenen, sondern schimpfte über die heutigen Erstkommunionkinder. Es kostete sie viel Kraft, mich anzurufen und einzufordern, dass nach dieser Erfahrung nicht der betreffende Priester ihren Ehemann beerdigt. Danach war sie sehr dankbar, dass sie ihre Verletzung, auch für ihren verstorbenen Mann, ernst genommen hatte.

Frage: Darf man zum Beispiel auch während einer Predigt die Kirche verlassen, weil das, was dort vom Priester erzählt wird, einem nicht guttut und verärgert?

Schwester Marie-Pasquale: Ja, das darf man. Denn es gehört zu einer guten geistlichen Selbstfürsorge, dass ich für mich selbst Grenzen ziehe und diese auch aufzeige. Sicherlich ist der Gottesdienst nicht der erste Ort für eine Diskussion – das sollte danach erfolgen. Wenn ich es aber nicht ertragen kann, was gepredigt wird, dann kann ich durchaus unauffällig die Kirche verlassen. Ich selbst war schon einmal in einer Situation: Damals hat der Prediger davon gesprochen, dass zölibatär lebende Menschen "heiligmäßiger" seien als andere und unsere erste Aufgabe sei für ihn zu beten. Das hat mich ziemlich irritiert und ich wollte das so nicht hinnehmen. Seine Aussage hat viel Ärger in mir ausgelöst. Letztlich bin ich nicht hinausgegangen und sitzen geblieben. Stattdessen habe ich versucht mit ihm zu sprechen, was leider scheiterte. Wenn ich in einer seelsorglichen Situation spüre, da geht etwas gegen meine Haltung, gegen meinen Glauben, dann suche ich am besten den Austausch darüber und tue meine eigene Meinung kund. Das ist wichtig. Es gibt bestimmt auch Fälle, in denen das Reden nicht mehr hilft. Aber es gibt Stellen, bei denen ich das im Zweifelsfall melden kann. Immer wieder gibt es Seelsorger, die ein Predigtverbot von den zuständigen Bischöfen erhalten, weil Gläubige missbräuchliche Inhalte gemeldet haben. Wenn ich das Gefühl habe, jemand möchte mir etwas einreden, dann darf ich mich abgrenzen, um mich selbst zu schützen - auch körperlich. Höre ich schädigende Inhalte immer wieder, wie etwa eine Überbetonung des Bösen, dann macht das etwas mit mir und das muss ich nicht hinnehmen – dafür ist ein gesunder Glaube zu kostbar.

Frage: Manche sind über einzelne Seelsorgerinnen und Seelsorger so verärgert, dass sie gerne aus der Kirche austreten würden… Können Sie so etwas verstehen?

Schwester Marie-Pasquale: Ja, das kann ich nachvollziehen. Manchmal sind Verletzungen so tief, dass es erst einmal diesen Schritt der Abgrenzung braucht. Grundsätzlich würde ich aber empfehlen nach anderen Gemeinden im Umkreis zu schauen, um andere Erfahrungen zu machen.

„Ich helfe der Person, die Antworten selbst herauszufinden.“

—  Zitat: Schwester Marie-Pasquale Reuver

Frage: Sie haben nun oft über geistliche Begleitung gesprochen. Wie muss eine gute geistliche Begleitung sein?

Schwester Marie-Pasquale: Eine gute geistliche Begleitung nimmt die Person und ihre Situation wertschätzend wahr. Es geht mehr um die Klärung der Lebenssituation, die ganz auf die Person bezogen bleibt. Wenn ich Menschen begleite, versuche ich eher solche Fragen zu stellen. "Was tut Ihnen gut dabei? Was macht Sie lebendiger? Was bringt Sie mehr zum Leben? Wo fühlen Sie sich Gott nahe? Welche Rituale helfen Ihnen dabei?" Ich helfe der Person, die Antworten selbst herauszufinden. Ich höre zu, bin da. Das genügt oft schon. Eine andere Sicht überzustülpen ist schädlich. Gott ist schon im anderen lebendig – das gilt es gemeinsam zu entdecken.

Frage: Ihre praktischen Tipps für einen gesunden Glauben?

Schwester Marie-Pasquale: Ich ermutige die Menschen meist, ihre eigene Spiritualität zu leben, diese herauszubilden. Das ist jedoch nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit. Es gibt vielfältige Formen von Spiritualität in unserer Kirche. Jeder sollte die finden, die zu ihm passt. Es macht mir Sorge, dass Menschen eine Sehnsucht nach Schwarz-Weiß-Vorgaben haben, vielleicht als Reaktion auf die eigene Unsicherheit. Diese Sehnsucht nach Sicherheit müssen wir als Kirche auch bedienen, aber ohne die Freiheit von Menschen dabei zu gefährden. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie so eine Pastoral aussehen könnte, die gleichzeitig Sicherheit bietet und in die Freiheit führt. Wichtig ist, dass ich den Menschen etwas mitgebe, was sie in ein Leben in Freiheit und Verantwortung führt. Herausfinden, was das sein kann, muss jeder im Letzen selbst. Jeder Mensch trägt einen Glaubenssinn in sich, das möchte ich fördern. Ich selbst schaue immer wieder: Führt mich mein Glaube, wie er sich gerade gestaltet in die Freiheit und eine tiefere Freude oder werde ich eng und traurig. Gott ist ein Gott des Lebens und eine gesunde Spiritualität verhilft dies auch zu spüren.

Von Madeleine Spendier

Schwester Maria-Pasquale Reuver hat ein Buch geschrieben zum Thema spiritueller Missbrauch. Es hat den Titel "Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen", hat 182 Seiten und ist im Patmos Verlag als Paperback erschienen. Das Buch kostet 20 Euro.