Warum Ostdeutschlands Priester in Erfurt ausgebildet werden
Wer Priester einer ostdeutschen Diözese werden möchte, muss in der Regel nach Erfurt ziehen. Denn in der thüringischen Landeshauptstadt befindet sich das Priesterseminar der (Erz-)Bistümer Berlin, Dresden-Meißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg. Das Regionalseminar für die Diözesen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR besteht seit 1952 – und wurde nur über Umwege in Erfurt angesiedelt. Nach der Gründung der DDR wollten die Bischöfe eine theologische Hochschule und Priesterausbildungsstätte in Ostdeutschland ins Leben rufen. Ein Grund dafür ist die besondere Situation der katholischen Kirche in der Region, die ihre angehenden Priester bis zum Zweiten Weltkrieg (1939-45) in Seminaren in anderen Teilen des Deutschen Reiches ausbilden ließ, vor allem in Paderborn oder Breslau. Ein bedeutendes Priesterseminar in Bereich des damaligen Mitteldeutschlands war also bislang nicht vorhanden. Außerdem verhinderte die Regierung der DDR ab Oktober 1951 die Rückkehr von Priesteramtskandidaten, die in Westdeutschland studiert hatten.
Die Bischöfe entschieden sich jedoch gegen die Einrichtung einer theologischen Fakultät, um dem SED-Regime keine politische Einflussnahme bei der Besetzung von Lehrstühlen zu ermöglichen. Deshalb beschlossen sie im Dezember 1951 die Gründung eines Regionalseminars für das Gebiet der DDR. Die Studenten sollten in einem Konvikt zusammenleben und im Seminar ihre Studien der Philosophie und Theologie absolvieren. Doch wie fiel die Wahl auf Erfurt als Standort dieses Priesterseminars? Zunächst einigten sich Kirche und Regierung auf Ost-Berlin als Ort des Seminars. Doch nur wenige Tage vor der geplanten Eröffnung der Ausbildungsstätte Anfang Mai 1952 machte das Regime einen Rückzieher. Die Begründung: Die Bischöfe hätten ein Seminar in der DDR angestrebt, doch Berlin gehöre nicht zum Gebiet des sozialistischen Staates – eine Haltung, die in den ersten Jahren der Nachkriegszeit von der SED vertreten wurde, um den Anspruch auf ganz Berlin als Hauptstadt der DDR zu stärken.
Diese Schikane brachte die Bischöfe in zeitliche Bedrängnis, denn sie mussten rasch einen neuen Standort für das Priesterseminar finden, um den geplanten Studienbeginn der ersten Seminaristen nicht zu gefährden. Die Wahl fiel nach zähen Verhandlungen, unter anderem mit Walter Ulbricht, dem damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, auf Erfurt – obwohl auch Magdeburg in der engeren Auswahl war. Bereits einen Tag danach, am 5. Juni 1952, wurde die Eröffnung des Seminars mit theologischer Akademie gefeiert, für die sich bereits 38 Studenten angemeldet hatten. Die zunächst nur vorläufig ausgesprochene Erlaubnis der Regierung für das Regionalseminar wurde im August unbefristet verlängert und Erfurt blieb dauerhaft Sitz von Priesterseminar und Philosophisch-Theologischem Studium, wie die kirchlich anerkannte Hochschule genannt wurde.
Heute ist das Seminar in Erfurt immer noch die einzige Ausbildungsstätte für studierende Priesteramtskandidaten in Ostdeutschland. Derzeit leben dort neun Seminaristen, sagt der Erfurter Regens Ansgar Paul Pohlmann. Allerdings wohnen sie nicht alleine im Priesterseminar: Auf zwei Fluren im Erfurter Pius-Haus gibt mehrere Wohngemeinschaften, in denen Seminaristen und weitere Studierende zusammenleben. "Die anderen Bewohner studieren unterschiedliche Fächer, also nicht nur Theologie – und es sind auch Frauen darunter", so Pohlmann. Von den Bewohnern, die keine Seminaristen sind, wird Interesse am Gemeinschaftsleben und Offenheit für die katholische Prägung des Hauses erwartet. "Aber nicht alle 20 Studierende, die in den zwei WGs wohnen, sind katholisch. Uns ist Unterschiedlichkeit wichtig."
Studierende aus dem Westen wählen bewusst Erfurt als Studienort
Das WG-Leben sei ein normales Zusammenleben wie in einem Wohnheim, erklärt der Erfurter Regens. "Es gibt viele Veranstaltungen, die für alle Bewohner offen sind, an einigen nehmen aber nur die Seminaristen teil." Als er 2015 seinen Posten als Leiter des Priesterseminars antrat, bemerkte er eine "gewisse geistige Enge" unter den damals nur vier Seminaristen, die liturgisch und theologisch eher traditionell orientiert gewesen seien, sagt Pohlmann. "Diese Enge wollten wir durchbrechen." Zudem schwanke die Zahl der Seminaristen immer, sodass eine konstante Gruppengröße von 20 Personen eine ausgewogenere Dynamik schaffe. Dabei sei das Zusammenleben im Seminar nicht nur für die Priesteramtskandidaten ein Berufungsweg: "Wir haben hier auch schon Taufen oder Firmungen von Bewohnern gefeiert – und einige sind auch ins Seminar eingetreten." Neben den beiden WGs ist auch das Pastoralseminar der ostdeutschen Diözesen im Priesterseminar Erfurt angesiedelt. In die gemeinsame Berufseinführung für Kleriker und Laien-Seelsorger steigt bald auch das Bistum Fulda ein, berichtet Pohlmann. Ein westdeutsches Bistum.
An der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt macht Benedikt Kranemann eine ähnliche Erfahrung: "Einige Studierende kommen bewusst aus dem Westen nach Erfurt, weil sie der ostdeutsche Blick auf Theologie und Kirche interessiert", sagt der Professor für Liturgiewissenschaft. Er sieht Thüringens Hauptstadt als profilierten Standort für eine zeitgemäße Theologie. Priesterseminar und Fakultät sind durch ihre Geschichte eng miteinander verbunden. 1993 ging aus dem Philosophisch-Theologischem Studium des Regionalseminars eine staatlich anerkannte Theologie-Hochschule hervor. Zehn Jahre später wurde sie als vierte Fakultät in die nach der Wende neu gegründete Universität in Erfurt integriert. Heute studieren zwischen 120 und 130 junge Frauen und Männer Theologie in Erfurt. "Wir sind eine kleine Fakultät, aber die fachliche Qualität der Studierenden und Promovierenden ist sehr gut", sagt Kranemann.
"Neben unserer Verortung in Ostdeutschland ist die Beschäftigung mit der seit Jahrzehnten säkular geprägten Gesellschaft hier ein Kennzeichen unserer Fakultät", erklärt Kranemann. Weitere Schwerpunkte der Erfurter Theologie seien die lebendigen Kontakte zur Kirche in den osteuropäischen Nachbarländern, wie Tschechien oder Polen. Außerdem würden die Reformbemühungen des Synodalen Wegs die Fakultät prägen. Viele Professoren teilten diese Anliegen und brächten sie in den gesamtdeutschen Diskurs ein. Eine der bekanntesten Vertreterinnen dafür ist sicherlich die Erfurter Dogmatik-Professorin Julia Knop. Sie gehörte der Synodalversammlung an und ist Mitglied des Nachfolgegremiums Synodaler Ausschuss. "Wir sehen es als unsere Aufgabe an, die Themen des Reformprozesses in die ostdeutschen Bistümer einzubringen", sagt Kranemann. Die Theologie in Erfurt habe heute eine große Bedeutung für die Kirche in der Region – genauso wie bei der Gründung des Priesterseminars 1952. Deshalb macht sich der Professor keine Sorgen um die Zukunft von Fakultät und Seminar.
Ähnlich sieht es Regens Pohlmann. Als einzige Ausbildungsstätte für Priester auf dem Gebiet der ehemaligen DDR scheint das Fortbestehen des Seminars in Erfurt derzeit nicht in Gefahr zu sein – trotz der nicht unbedingt hohen Zahl an Seminaristen. Pohlmann vertritt wie auch der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr und andere ostdeutsche Oberhirten die Ansicht, dass die angehenden Geistlichen in ihrer Herkunftsregion ausgebildet werden sollten. Ein bedeutsames Statement, denn seit 2020 gibt es Pläne der Deutschen Bischofskonferenz, die Priesterausbildung an wenigen Standorten zu zentralisieren. Im ersten Entwurf für diese Neustrukturierung war Erfurt als Studienort der Seminaristen nicht aufgeführt. "Die Überlegung, die Qualität der Ausbildung durch die Zusammenlegung von Standorten zu sichern, halte ich vom Ansatz her für richtig", so der Regens. Doch diesen Prozess der Zentralisierung könne man nicht durch ein Dekret verordnen. "Das wird sukzessive und langsam vonstattengehen."
Alles sieht danach aus, dass Erfurt als Seminarstandort aus diesem Prozess nicht als Verlierer hervorgehen wird. Denn trotz der frappierenden Diaspora-Situation in Ostdeutschland gibt es immer wieder neue Bewerbungen im Erfurter Seminar. Sie kommen aber nicht aus den wenigen ländlich geprägten katholischen Hotspots Ostdeutschlands, wie dem Eichsfeld oder der sorbischen Lausitz. "Viele Bewerber stammen aus Großstädten, die man eigentlich eher mit einer religiös nicht gebundenen Bevölkerung verbindet, etwa Berlin, Leipzig oder Dresden." Darin würden sich die meisten Seminaristen in Erfurt nicht von ihren Mitbrüdern in den westdeutschen Diözesen unterscheiden. Das habe sich auch beim jüngst stattgefundenen Seminaristentag in Speyer gezeigt. Pohlmann erklärt sich das so: "In Großstädten gibt es lebendige Kirchengemeinden, in denen junge Menschen ihren Glauben erleben und sich auch die Frage nach einer Berufung stellen können." Für ostdeutsche Katholiken führt dieser Weg dann nach Erfurt ins Priesterseminar – und das bereits seit über siebzig Jahren.