Politikwissenschaftler Püttmann analysiert Dokument aus christlicher Sicht

Antithese zum Fundament Europas: Das Europawahl-Programm der AfD

Veröffentlicht am 04.06.2024 um 00:01 Uhr – Von Andreas Püttmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die deutschen Bischöfe haben zuletzt mehrfach vor der AfD gewarnt. Auch in ihrem Programm zur Europawahl kokettiert die Partei mit christlichen Werten. Politikwissenschaftler Andreas Püttmann hat das Programm aus christlicher Sicht analysiert.

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So sinnvoll Analysen von Wahlprogrammen auch sind, so wichtig ist es sich bewusst zu bleiben: Programme bilden nur eine von drei Dimensionen der Parteiwirklichkeit ab: Bekenntnisse und Absichtserklärungen in der Breite sachpolitischer Themen. Papier ist aber geduldig, die Alleinregierung einer Partei selten, die Agenda zu lösender Probleme in der Legislaturperiode nicht vollständig bekannt. Fortentwicklungen eigener Positionen, Koalitions- und Kooperationszwänge oder überraschende Wendungen der Realität wie die "Zeitenwende" durch Russlands Überfall auf die Ukraine können Bestimmungen eines Parteiprofils schnell zur Makulatur werden lassen.

Man tut also gut daran, den Blickwinkel von vornherein zu weiten, über den "Bauchladen" angebotener Einzelpolitiken hinaus auf den gewachsenen und bislang erwiesenen Charakter einer Partei, ihr Personal, ihre strategischen Optionen zur Zusammenarbeit, ihren Politikstil im Ringen um Macht und ihr Verhältnis zu Grundregeln des politischen Systems, ihre "staatspolitische" Haltung jenseits von Innen-, Außen-, Justiz-, Verteidigungs-, Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits-, Religions- oder Migrationspolitik, um nur Beispiele zu nennen. "Wahlomaten" bilden in der Regel nur diese sektoralen Positionen ab, in der Sprache der Politikwissenschaft: die "policy" (politische Inhalte). Sie vermitteln den Eindruck, Wähler könnten hier wie im Supermarkt "einkaufen" und bekämen zum selbstbestimmt ausgewählten Warenkorb am Ende den Laden genannt, dessen Sortiment am besten auf ihre Bedürfnisse und ihren Geldbeutel zugeschnitten ist.

Auch Mitarbeitende prägen Charakter einer Partei mit

Übersehen werden dabei leicht die Dimensionen "polity" (strukturelle, institutionelle Politikaspekte) und "politics" (prozessuale Politik: Einflüsse, Machtausübung). Die politischen Köpfe sind wegen der personalisierenden Tendenz der Massenmedien, Umfragen und Plakate zwar präsenter, doch meist beschränkt auf die "erste Reihe". Hinter ihr stehen noch viele kleinere Funktionsträger sowie parlamentarischen Mitarbeiter, die den Charakter einer Partei durchaus mitbestimmen. Für die AfD, deren Personal häufiger durch Extremismus und Delinquenz auffiel als das anderer Parteien, muss dieser Aspekt besonders beachtet werden. Nicht zufällig tritt sie zur Europawahl mit zwei Kandidaten an der Spitze an, die sie Skandal-bedingt nun im Wahlkampf versteckt. Damit ist auch etwas über die Urteilskraft derer gesagt, die Maximilian Krah und Petr Bystron auf den Schild hoben und viel zu lange unter Gezeter über eine "Kampagne" der "Altparteien" verteidigten.

Andreas Püttmann im Porträt
Bild: ©KNA

Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er war unter anderem für die Konrad-Adenauer-Stiftung tätig.

Dies vorausgeschickt, wird man sich illusionslos dem 47 Seiten langen AfD-Europawahlprogramm nähern, dessen Einzelforderungen teils durchaus als vertretbare Positionierungen einer normalen Partei erscheinen können. Ins Auge sticht dabei aber zweierlei: dass es auf den ersten zehn Seiten vor allem um national verstandene Identitätspolitik in scharfer Abrechnung mit der Europäischen Union geht, die man als "gescheitert" verwirft und durch einen "Bund europäischer Nationen" ersetzen will wie den Euro durch eine "neue Deutsche Mark". Dabei versteigt man sich zu der unbegründeten Behauptung, "ausschließlich in Nationalstaaten" könnten "Grundrechte der Bürger gelebt und bewahrt werden". Sogar sinnvollerweise transnationale Herausforderungen wie Gewässerschutz gehörten "in die Hände der Nationalstaaten", Regulierungen der Digitalisierung und die Energiepolitik "renationalisiert", der EU-Emissionshandel abgeschafft und eine "Autarkie der Mitgliedsstaaten" in Wehrtechnik, Energieversorgung, Mobilität, Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung angestrebt. Die Häufigkeit der Begriffe "Nationalstaat" (26x), "national" (126x) und "Souveränität" (22x) springt ins Auge. Im etwa halb so langen CDU/CSU-Wahlprogramm kommen diese Begriffe weit weniger vor (1, 20, 3). So fällt es nicht schwer, eine der von Kardinal Marx für die Bischofskonferenz 2017 formulierten "roten Linien" für Christen in der Politik überschritten zu sehen: "die Überhöhung der eigenen Nation".

Das gilt nicht minder für die rote Linie: "Verunglimpfung anderer Religionsgemeinschaften": Schon Punkt 2 nach der Abrechnung mit der EU präsentiert eine Weltreligion als "Gefahr", indem sie auf ihre "fundamentalistischen" Strömungen reduziert wird. Der Vorwurf, dass nach islamischer Lehre "alle Menschen bekehrt werden müssen", könnte auch das Christentum treffen: "Geht hinaus in alle Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mt 16,15f). An einen einzigen und "eifersüchtigen" Gott (Dt 5,9) glauben auch Juden und Christen. Dass im Programm 17 mal vom "Islam" und nur einmal vom "Christentum" (als eine von vier Kräften, die Europa prägten) die Rede ist, zeugt vom Tunnelblick auf die sechs bis sieben Prozent Muslime im Land, deren Anteil die Deutschen im IPSOS-Irrtumsindex (2018) eh aufs Dreifache überschätzten. Dass die Demokratie "eine gute Regierungsform ist" und "in Deutschland gut funktioniert", sagten im Bertelsmann-Religionsmonitor 2019 Muslime so oft wie Christen und häufiger als religiös Ungebundene, die überdurchschnittlich AfD wählen. Dass "jede Religion einen wahren Kern" habe, meinten Muslime (83%) etwas mehr als Christen (80%). Für die "paritätische Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau" sprachen sich 88 Prozent der Christen, 90 Prozent der zugezogenen und 85 Prozent der hier geborenen Muslime aus.

Islamschelte, Russland-Nähe und Kampf gegen "Gender-Ideologie

Die AfD-Islamschelte kommt auch im Blick auf sexuelle Minderheiten aus dem Glashaus: "Gleichgeschlechtliche Ehen (zu) erlauben" fanden 70 Prozent der in Deutschland geborenen Muslime richtig und die Mehrheit (53%) der zugezogenen – während das AfD-Wahlprogramm nicht nur keine Maßnahmen zum Diskriminierungsschutz befürwortet, sondern "andere Formen des Zusammenlebens als die Ehe von Mann und Frau" explizit "nicht gleichzustellen" fordert und betont: "Wir unterstützen es, wenn Menschen traditionelle Geschlechterrollen leben"; man pocht auf "genau zwei Geschlechter", sagt "Frühsexualisierung" in Kitas und Schulen den Kampf an und raunt, die "Gender-Ideologie" entwerte das Elternrecht und "verunsichert die Kinder in ihrer sexuellen Identität und natürlichen Entwicklung". Man qualifiziert sexuelle Minderheiten nicht direkt ab und beteuert pflichtschuldig sie zu "respektieren", stellt sie so aber indirekt als unnatürlich, aufdringlich und minderwertig dar. Die Russland-Nähe, die trotz des Massenmords in der Ukraine im AfD-Wahlprogramm durchschimmert (die "Russland-Sanktionen" entsprängen einer "ideologisch motivierten Agenda", Nord Stream habe "herausragende Bedeutung", man dürfe sich nicht durch die USA "in Konflikte hineinziehen lassen"), kommt gesellschaftspolitisch nicht von ungefähr.

Aufruf katholischer Männer: Bei Europawahl nicht die AfD wählen

"Aus christlicher Überzeugung treten wir gegen rechtsradikale Positionen ein": Das Forum katholischer Männer hat mit Blick auf die AfD einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst. Außerdem rief es dazu auf, die Partei bei der Europawahl nicht zu wählen.

Kinderlosen – speziell "unter den Leistungsträgern" – wird "die demografische Katastrophe" und eine "Gerechtigkeitslücke" zugeschrieben, die wiederum den Kinderwunsch anderer Paare senke. Dass der Hauptgrund für Kinderlosigkeit jenseits biologischer Faktoren eine fehlende oder instabile Partnerschaft ist, ignorieren die Programmschreiber. Ihre Kritik an einer "grotesken Bagatellisierung und Verharmlosung der Kindstötung" und Forderung, Abtreibung müsse "die absolute Ausnahme werden, z.B. bei kriminologischen oder bei medizinischen Indikationen" passt nicht zum Lob für den mehrfach liberalisierten Paragrafen 218 StGB als "ausgewogene Regelung". Christen, die sich von Rechtspopulisten ein Rollback zu Abtreibungsverboten oder strengen Indikationslösungen erwarten, sitzen einer Illusion auf. Selbst die polnische PiS biss sich an diesem Thema die Zähne aus und bereitete damit ihre Wahlniederlage vor. Im Zweifel siegt bei Populisten immer der Opportunismus.

Die vermeintliche Kinderfreundlichkeit der AfD bezieht sich kaum verhohlen auf ethnisch deutsche Kinder, am besten aus "Mehrkindfamilien in den Mittelschichten", während "Kinder aus muslimisch-fundamentalistischen Elternhäusern" unter "dem Zugriff radikaler Ideologen" quasi als künftige Gefährder "sicherheitsrelevant" vorkommen. Dass das Lebensschutzpathos sich von dem der Kirche fundamental unterscheidet und doppelzüngig ist, zeigt sich bei Zuwanderung und Asyl, wo die AfD eine "Festung Europa" und "Remigration" propagiert. Diese wird auch nach dem Skandal um das Potsdamer Geheimtreffen zu massenhafter Abschiebung von Migranten, unbeeindruckt von internationaler Empörung auch bei befreundeten Parteien, offensiv weiter gefordert und das "Ruanda-Modell" propagiert. Inkompatibel zum Lebensschutz auch die Pandemiepolitik: Die Zulassung von Corona-Impfungen, die durch Eindämmung der Infektionsdynamik und mildere Verläufe viele Leben retteten, soll unter Berufung auf Impfschäden, die man gegenüber schweren Schäden durch Covid einseitig hochspielt, "juristisch aufgearbeitet" werden.

Rassismus als Freiheitsthema

"Der Kampf gegen 'Rassismus' und 'Diskriminierung'", den die EU vorantreibe, wird negativ verbunden mit "ideologischem Konformitätsdruck" und "repressivem kulturellem Klima einer immer rigideren 'politischen Korrektheit'" sowie "'Cancel culture' gegenüber allen abweichenden Positionen". Rassismus als Freiheitsthema! Beim Antisemitismus stellt die AfD "Urheber im linken oder muslimischen Milieu" heraus; dass Björn Höcke das Holocaust-Mahnmal als "Denkmal der Schande" schmähte und laut Mitte-Studie 11,2 Prozent der AfD-Anhänger antisemitisch eingestellt sind, ficht das Selbstbild nicht an. Damit sind zwei weitere rote Linien der Bischöfe tangiert.

Einer der häufigsten Vorwürfe des Programms an andere ist "ideologisch" (24x), "Ideologie" (16). Da möchte man dieser hoch ideologischen, zügellosen Partei zur Gewissenserforschung mit Mt 7,3 raten: "Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und wirst des Balkens im eigenen Auge nicht gewahr?" Den schönsten Früchten christlichen Glaubens: Empathie, Demut und Gelassenheit stellt die AfD Empathielosigkeit, Hybris und Daueraufgeregtheit entgegen. Sie selbst ist eine Antithese zum kulturellen Fundament Europas, das zu verteidigen sie vorgibt. Sie löst für Christen geradezu den Status confessionis, den Bekenntnisfall aus. So erklärt sich die breite, eindrucksvolle Gegenmobilisierung des kirchlichen Milieus.

Von Andreas Püttmann