Gegen Populismus: Papst Franziskus' Theologie des Mittelmeeres
Papstexperten sind der Ansicht, dass die erste Reise eines Papstes die Richtung seines Pontifikats vorgibt. Ob diese These stimmt, lässt sich an den Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus ablesen. Bei Johannes Paul II. führte die erste Reise 1979 in die Dominikanische Republik, nach Mexiko und auf die Bahamas. Im Mittelpunkt stand die Madonna von Guadalupe, vor deren Bild er niederkniete und die er um Beistand und Schutz für sein Pontifikat bat. Tatsächlich zieht sich die Gottesmutter wie ein roter Faden durch seine Zeit als Oberhaupt der katholischen Kirche, zumal er seine Amtszeit von Anfang an unter das Motto "Totus Tuus" gestellt hat, was übersetzt "Ganz Dein" bedeutet. Die Richtigkeit dieser These lässt sich auch an Benedikt XVI. ablesen. Mit seiner ersten Reise, einer Inlandsreise zum XXIV. Nationalen Eucharistischen Kongress nach Bari, rückte der deutsche Papst das Theologische stärker in den Vordergrund. Auf den polnischen und den deutschen Papst folgte schließlich der aus Argentinien stammende Papst Franziskus. Gleich zu Beginn seines Pontifikats besuchte er die Flüchtlingsinsel Lampedusa und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben – Migranten und pochte auf Gastfreundschaft, Begegnung mit Anderen und den Dialog.
Franziskus hat in seinem Pontifikat immer wieder das Thema Migration aufgegriffen, sich für Flüchtlinge eingesetzt und sich dabei auch mit Politikern angelegt, vor allem mit der 2018 in Italien regierenden populistischen Parteienkoalition aus Fünf Sternen und Lega, in der der Rechtsnationale Matteo Salvini Innenminister war. Damals wollte man keine Schiffe mit aus Seenot geretteten Migranten und Flüchtlingen in italienische Häfen lassen. Salvini warf dem Papst vor, die "Globalisierung der Illegalität" zu fördern und antwortete damit auf Franziskus' Aufruf gegen eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit". In seiner Rede auf Lampedusa 2013, die von Salvini und Populisten vielfach kritisiert wurde, sprach der Pontifex von einer Orientierungslosigkeit: "Wir achten nicht mehr auf die Welt, in der wir leben, wir bewahren und hüten nicht, was Gott für alle geschaffen hat, und wir sind nicht einmal mehr in der Lage, uns umeinander zu kümmern. Wenn diese Orientierungslosigkeit globale Ausmaße annehme, komme es zu großen Tragödien", sagte Franziskus – und spielte damit auf die Schlagzeilen der Zeitungen an, die damals immer wieder von toten Migranten berichteten. Zwei Jahre später, 2015, stellte er in Neapel die Frage, ob Migranten Menschen zweiter Klasse seien, und buchstabierte in seiner Ansprache eine "Mittelmeer-Theologie" durch. Für ihn ist das Mittelmeer die Wiege der Zivilisation, es verbindet Afrika, Asien und Europa, Osten und Westen, verschiedene Kulturen, Religionen und Philosophien. Es ist daher nicht hinnehmbar, dass ein solcher Raum zu einem Massengrab wird.
2021 weihte er der Pontifex ein Mahnmal in der sizilianischen Stadt Syrakus ein, vor deren Küste 2015 beim Untergang eines Bootes mit Migranten viele Menschen ertrunken waren. Das Mittelmeer bezeichnete er wiederholt als "größten Friedhof Europas". Zwei Jahre später, 2023, reiste das Kirchenoberhaupt dann im September zum "Mittelmeertreffen" in die südfranzösische Hafenstadt Marseille, eine Stadt, die für Einwanderung steht. Die Mehrheit der rund 870.000 Einwohner hat ausländische Wurzeln, alle drei monotheistischen Religionen und der Buddhismus sind hier präsent – Muslime, Christen, Juden und Buddhisten leben auf engstem Raum zusammen. Der Papst war bereits 2020 zum ersten "Mittelmeertreffen" nach Bari gereist, beim zweiten Treffen 2022 in Florenz war er verhindert. In Marseille trafen sich Bischöfe, Vertreter verschiedener Religionen und vor allem viele junge Menschen aus über dreißig Ländern. Sie alle leben im Mittelmeerraum und haben eines gemeinsam: ähnliche Herausforderungen durch Migration.
Mediterrane Vielfalt als Beispiel für den Rest der Welt
Doch was hat das alles mit der "Theologie des Mittelmeers" zu tun, mit dem sogenannten Mittelmeer-Lehramt von Papst Franziskus? Der französische Geistliche Patrice Chocholski, Direktor des katholischen Mittelmeerinstituts in Marseille, versuchte eine Antwort zu geben. In einem Interview mit "Vatican News" erklärte er, dass ein solches theologisches Netzwerk aus verschiedenen mediterranen Treffen, relativ neu sei. Es bringe den Gedanken des Dialogs auf neue Weise in die Theologie ein, betonte der Geistliche. Vor allem in Marseille habe man sich von einem in Algerien verstorbenen Trappisten, Christian de Chergé, inspirieren lassen, der sich die Frage nach den Völkern des Mittelmeerraums, insbesondere den islamischen Völkern, gestellt habe. Deshalb arbeite man an einer katholischen Schule des Dialogs mit Partnern im Mittelmeerraum – vom Libanon bis zum Irak, in Neapel, Bari, Rabat in Marokko, Pisa, auch mit Wissenschaftlern in Haifa, Kairo, Barcelona. Es gibt auch Kontakte zu jüdischen Theologen und muslimischen Forschern, auch zu Persönlichkeiten aus der agnostischen und atheistischen Welt. Der Dialog fordere sie heraus, die mediterrane Pluralität habe dem Rest der Welt viel zu sagen, vor allem Möglichkeiten für den Frieden zu bieten.
Franziskus sprach in Marseille von einem "Scheideweg der Zivilisation" zwischen Brüderlichkeit und Gleichgültigkeit. "Gewöhnen wir uns nicht daran, Schiffbrüche als Schlagzeilen und die Toten auf See als bloße Zahlen zu betrachten", mahnte das Kirchenoberhaupt in der südfranzösischen Küstenstadt vor Vertretern verschiedener Religionen und Hilfsorganisationen. Es seien Namen und Familiennamen, Geschichten und Geschichten, zerstörte Leben und zerbrochene Träume, die mit ihren Hoffnungen in der Angst ertrunken seien. Der Pontifex kritisierte, dass Rettungsschiffe oft nicht auslaufen dürften, was er als "Gesten des Hasses" seitens Populisten bezeichnete. Es sei eine Pflicht der Menschlichkeit, eine Pflicht der Zivilisation, Menschen zu retten, die zu ertrinken drohen. Gerade die drei monotheistischen Religionen des Mittelmeerraums zeichneten sich durch ihre Gastfreundschaft aus, durch ihre Liebe zum Fremden die unverzichtbar sei, wenn von einer blühenden Zukunft geträumt werde.
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Die Mittelmeertheologie des Papstes sei daher nichts anderes als gelebte Pluralität und Dialog in vielerlei Hinsicht. Dies wird vor allem bei den Mittelmeer-Treffen in Bari, Florenz und Marseille deutlich. Seit einigen Jahren findet jedes Jahr ein weiteres mediterranes Theologentreffen im kroatischen Rijeka unter der Leitung des dortigen Erzbischofs Mate Uzinic statt. Seit mehreren Jahren bezeugen diese ökumenischen und interreligiösen Treffen, dass der Dialog zwischen Katholiken, Orthodoxen, Protestanten und anderen Religionen auch auf dem nach dem Jugoslawienkrieg der 90er Jahre gespaltenen Balkan möglich ist – anders als nationalistische und populistische Strömungen, seien es jene in Italien, Frankreich oder Kroatien, meinen. Uzinic selbst mahnte in einer Ansprache, dass die Glaubenskrise nicht durch Rückzug gelöst werde. Dazu gehöre auch, an die Peripherie zu gehen, wie es Franziskus in seiner Enzyklika Evangelii Gaudium ausbuchstabiert habe.
Diese Bedeutung des Engagements der Kirchen unterstrich auch Timothy Radcliffe, dominikanischer Theologe aus Oxford und ehemaliger Leiter des Dominikanerordens, als er darauf hinwies, dass die Kirchen verschwinden würden, wenn sie sich dem Dialog verschlössen. Deshalb sollten sie "ein Modell für lebensspendende Gastfreundschaft in unserer chaotischen Welt sein", so Radcliffe beim Mittelmeertreffen in Rijeka im vergangenen Sommer. Gerade der Mittelmeerraum sei nicht nur Schauplatz von Konflikten, sondern auch ein Ort der Begegnung. Dazu gehöre die auch von Papst Franziskus immer wieder betonte Gastfreundschaft und die Offenheit für Verwandlung. Freundschaft nähere sich der Identität des Anderen an, lasse den Einzelnen aber nie so, wie er ist, so der Theologe aus Oxford, dessen Gedanken zwei Monate später auch in Marseille zur Sprache kamen: Das von einem bunten Pluralismus geprägte Marseille, so der Pontifex, stehe am Scheideweg zwischen Begegnung und Konfrontation. Aber nicht nur Marseille, Bari, Florenz, Neapel oder Rijeka, sondern die Kirche insgesamt stehe vor dieser Frage. Sie könne ein "Mosaik der Hoffnung" sein, so Franziskus, wenn sie sich offen zeige für den Dialog. Dies sei mitunter auch die Antwort auf die immer stärker werdenden extremistischen Positionen, auf Nationalismus und Populismus, die gerade nach den Europawahlen immer lauter werden.