Liturgiker: Traditionalismus hat wenig mit echter Tradition zu tun
Der Liturgiewissenschaftler Andrea Grillo sieht im liturgischen Traditionalismus eine Rückwärtsgewandtheit, die mit der authentischen Tradition der katholischen Kirche wenig zu tun hat. In einem Interview mit dem traditionalistischen Blog "Messa in Latino" betonte der Professor für Sakramententheologie an der Benediktinerhochschule Sant'Anselmo in Rom die Bedeutung der Liturgie für die Einheit der Kirche. Wenn sich Traditionalisten als "romtreu" bezeichnen, aber an der vorkonziliaren Liturgie festhalten, stünden sie in Wirklichkeit im Gegensatz zu Rom: "Um Rom treu zu sein, muss man sich eine 'rituelle Sprache' aneignen, die dem entspricht, was Rom gemeinschaftlich festgelegt hat."
Grillo gilt als Vordenker des Motu proprios "Traditionis custodes", mit dem Papst Franziskus die Feier der Messe nach den Messbüchern von 1962 deutlich eingeschränkt hatte. 2020 gehörte er zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs mit Forderungen zum Umgang mit der "Alten Messe", die in dem Motu proprio teilweise aufgegriffen wurden.
Krise der Kirche lasse sich nicht rückwärtsgewandt bewältigen
Das Argument, dass das, was früheren Generationen heilig war, auch heute heilig gehalten werden müsse, wies er zurück. Das sei ein Grundsatz, der nicht aus der Theologie komme, sondern von nostalgischen Gefühlen gespeist werde: "Ein solcher Grundsatz tendiert dazu, die Kirche auf ihre Vergangenheit zu fixieren. Nicht auf das 'depositum fidei', sondern auf den Anstrich, den sie in einer bestimmten Zeit angenommen hat, als ob er endgültig wäre." Die heute existierende liturgische Vielfalt, etwa mit Blick auf die Liturgien der katholischen Ostkirchen oder die Varianten des römischen Ritus in Mailand oder Spanien, sei durch die spezifische Tradition dort begründet. "Niemand würde je auf die Idee kommen, dass es auf universeller Ebene jemandem freigestellt sei, in einer Fassung des römischen Ritus oder in der durch eine allgemeine Reform abgelösten Fassung zu bleiben."
Die Kirche befindet sich nach Ansicht Grillos zwar in einer Krise, diese könne aber nicht durch eine Wiederherstellung einer "Gesellschaft der Ehre" wiederhergestellt werden. Der Liturgiewissenschaftler bezieht sich damit auf den kanadischen Religionsphilosophen Charles Taylor, der darunter eine von gesellschaftlichen Unterschieden statt von der gleichen Würde aller geprägte Gesellschaft versteht, wie sie das Ancien Régime des Absolutismus vertreten hatte. "Es sind nicht die 'Cappae magnae' oder die 'toten Sprachen', die dem Glauben Kraft verleihen", zeigt sich Grillo überzeugt. Echte Tradition sei nicht die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft ausgerichtet: "Die Nachfolge Christi bedeutet nicht, einem High-Society-Club oder einer Vereinigung beizutreten, um eine fremde Sprache zu sprechen oder sich mit der Vergangenheit zu identifizieren und reaktionäre Ideale zu pflegen."
Im Jahr 2021 hat Papst Franziskus mit seinem Motu proprio "Traditionis custodes" ("Wächter der Tradition") die Feier der vorkonziliaren Liturgie eingeschränkt, die Benedikt XVI. 2007 als "außerordentliche Form des römischen Ritus" in gewissen Grenzen wieder zugelassen hatte. Ein wesentliches Argument war die Befürchtung, dass mit der Feier der vorkonziliaren Liturgie auch eine Ablehnung der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils einhergehe. Im Februar 2023 verschärfte Franziskus die Regeln noch einmal. Aktuell befürchten traditionalistische Kreise unter Bezug auf unbestätigte Gerüchte angeblich aus dem Umfeld des Liturgiedikasteriums, dass die Feier nach dem Messbuch von 1962 noch weiter eingeschränkt werden könnte. (fxn)