Fast die Hälfte der Gotteshäuser wird nicht mehr genutzt

In Wanne-Eickel werden Kirchen geschlossen und die Zukunft geplant

Veröffentlicht am 10.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 
#KircheVorOrt

Herne ‐ Die Kirche hat oft einen großen Gebäudebestand, aber sinkende Mitgliederzahlen. In Wanne-Eickel will die dortige Pfarrei deshalb mit einschneidenden Änderungen fit für die Zukunft werden. Das gefällt nicht allen.

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Die segnende Hand Jesu schwebt hoch über dem Altarraum. Das bunt schillernde Mosaik bestimmt die Herz-Jesu-Kirche. Davor baut sich der Raum aus gemusterten babyblauen Säulen vor weißen Wänden auf, auf denen sich das bunt gebrochene Licht der Bleiglasfenster spiegelt. Die Kirche ist leer – und wird es bleiben. Denn Herz-Jesu in Wanne-Eickel im Erzbistum Paderborn ist geschlossen worden. Die Pfarrei "Hl. Christophorus" hat sich von vier ihrer neun Kirchen getrennt. Der Weg dahin war nicht einfach.

Alles beginnt 2016. Denn da ist klar: Neun Pfarreien in Wanne-Eickel werden drei Jahre später zu einer Großpfarrei zusammengeschlossen. Neun Pfarreien mit sehr unterschiedlichem Profil, sehr unterschiedlichen Gläubigen, sehr unterschiedlichen Seelsorgern. "Da haben wir uns von den verschiedenen Kirchenvorständen frühzeitig zusammengesetzt und uns schonmal einen Überblick verschafft, was auf uns zukommt", sagt Wolfgang Stummbillig. Der Architekt engagiert sich seit Jahren im Bauausschuss seiner Pfarrei und gehört zu den Aktiven, die sich des Gebäudebestandes annehmen. "Wir haben uns an jedem Standort getroffen und geschaut: In welchem Zustand sind die Gebäude und was müsste investiert werden?" In diesem Stadium geht es um die betriebswichtigen Gebäude einer Pfarrei, also die Kirche, das Gemeindezentrum und das Pfarrhaus – alle anderen Gebäude wie etwa vermietete Mehrfamilienhäuser in Kirchenbesitz spielen für diesen Text erst einmal keine Rolle, sie werden immer erst viel später betrachtet.

Bild: ©katholisch.de/cph

Wie in vielen Pfarreien gibt es auch in Wanne-Eickel in einer Gemeinde einen zusammenhängenden Komplex aus Kirche und Gemeindezentrum - beides ist in schlechtem Zustand.

Das Team setzt sich zusammen und macht erste Überlegungen, doch 2019 kommt der Schock, als die Zahlen vorliegen: Die neue Pfarrei hat ein Defizit von 150.000 bis 200.000 Euro. "Da war völlig klar: So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben", so Stummbillig. Gebäude müssen abgestoßen werden. Bei jeder Gemeinde wird nun eine Kosten-Nutzen-Liste der Gebäude geschrieben: Wie viel Geld ist da? Wie oft wird das Gemeindezentrum genutzt? Wie viele Leute kommen zum Gottesdienst? Wie nahe läge die nächste Kirche? Ließe sich die Kirche vermarkten oder wäre das wegen des Denkmalschutzes schwer? Das alles wird in einem Workshop zusammengefasst und danach ein erster Plan aufgestellt, wie die Zukunft der Pfarrei aussehen könnte.

"Wir wollten von Anfang an die Karten auf den Tisch legen", sagt die Pfarrgemeinderatsvorsitzende Christina Beckmann. Deshalb gibt es ein großes Plenum für alle Interessierten. Darin werden die Gebäude der Gemeinden mit einem Ampelsystem gekennzeichnet: Drei Kirchen sollen geschlossen werden. Darunter sind jene mit niedrigen Kirchenbesucherzahlen, zum Teil kommen nur zehn bis 25 Leute sonntags in die Messe. Zudem ist dort die nächste Kirche nicht so weit.

Zur nächsten Kirche ist es nicht weit

Das trifft zum Beispiel bei einer Gemeindekirche im Zentrum zu: Die Pfarrkirche ist nicht weit – und hat als Pfarrkirche mit Denkmalschutz gleich doppelte Bestandsgarantie. Das Gemeindezentrum ist zudem nicht mehr so gut besucht, auch dieses soll geschlossen werden. Bei einer anderen, ebenfalls nahe gelegenen Gemeinde soll ebenfalls das marode Gemeindezentrum geschlossen werden. Gleichfalls schließen soll eine weitere wenig besuchte Kirche und eine aus den 1960ern, die als Einheit mit ihrem Gemeindezentrum errichtet wurde und gleichsam renovierungsbedürftig ist. Damit würden drei von neun Kirchen der Pfarrei geschlossen. In anderen Gemeinden bleibt dagegen der gesamte Bestand erhalten: Etwa, weil viele Menschen zur Kirche kommen oder Standorte für die Gesamtpfarrei genutzt werden können, etwa als Bürofläche.

"Es geht darum, lang bekannte alte Zöpfe abzuschneiden", sagt Pfarrer Ludger Plümpe. "Die Masse an Gebäuden macht uns auf Dauer pleite und handlungsunfähig. Wir sind mit den Gemeinden ins Gespräch gekommen, jeder musste sich bewegen." Diese Bewegungen sehen unterschiedlich aus: Mancherorts werden weitere Gruppen gesucht, die sich nun im Pfarrzentrum treffen. Nun kann es erhalten bleiben. Eine andere Gemeinde entscheidet sich um und will statt der Kirche lieber einen Treffpunkt für die Gemeinde erhalten – zur Messe kann man auch anderswo. Damit sind nun vier Kirchen abgeschrieben, fast die Hälfte des Bestandes.

Bild: ©katholisch.de/cph

Ludger Plümpe ist Pfarrer von St. Christophorus.

Das sorgt für Protest: An einer Kirche gibt es mehrmals Schmierereien, "Sale" wird unter anderem auf die Türen gesprüht, die Schlösser mit Kaugummi zugeklebt und die Motorhaube des Pfarrers zerkratzt. Daneben: Lautstarke Ausbrüche bei Podiumsveranstaltungen, viele Tränen und ein paar aufgebrachte Briefe. "Das ist natürlich ein Verlust, der schmerzt", sagt Beckmann. Doch sie sagt auch: "Der Schritt ist notwendig, sonst könnten wir unsere Arbeit nicht aufrechterhalten." Das sieht auch Stefan Schönwasser aus dem Kirchenvorstand so. "Immobilien sind auch eine Last, die man betreuen muss. Da muss jemand da sein, um sie zu pflegen oder Handwerker hereinzulassen – und das alles muss bezahlt werden. Da ist uns jetzt etwas von den Schultern genommen worden. Das Geld steht nun für pastorale Projekte zur Verfügung."

Kirche in der Kleingartenanlage

Daneben werden auch kreative neue Lösungen gefunden. Wo um die Pfarrkirche zwei Kirchen schließen, bleibt in der Pfarrkirche nicht alles beim Alten. In der Adventszeit werden dort nun abwechselnd die Krippen aus den drei ehemals bestehenden Kirchen aufgebaut, außerdem wechseln sich dort nun die verschiedenen Chöre ab. Anderswo finden die Gottesdienste nun in der evangelischen Kirche die Straße hinunter statt, ein Kreuz und die Osterkerze stehen dort schon. Ein Ort für die Jugendarbeit ist nun in einer Kleingartenanlage eingerichtet. Dort beteiligt sich die Pfarrei an einem örtlichen Bündnis und finanziert Räume in der Anlage mit, unter anderem für Familiengruppen und die Messdiener. "Das ist ein schönes Beispiel für die Hingehkirche", sagt Plümpe. "Wir engagieren uns da, wo die Leute bereits sind."

Ein Sonderfall ist die Kirche mit der längsten Geschichte am Ort. Hier wurden schon 2018 im Rahmen eines Projekts die Bänke aus der Kirche geräumt und das Gotteshaus dadurch multifunktional. Die Gemeinde hat ihr Gemeindezentrum aufgegeben, die Küche aus dem Haus wurde in eine Ecke der Kirche eingebaut. Nun kann hier auch Essen zubereitet werden, zum Beispiel für das Agape-Mahl nach der Wort-Gottes-Feier. Mittelfristig soll der Raum aufgeteilt werden und auch Gruppenräume und eine Toilettenanlage beinhalten. Daneben gibt es hier schon Klangschalenabende, Frühstücke für Bedürftige und Essensausgaben. Doch auch hier gehen die Meinungen auseinander: Essen in der Kirche? Das gefällt nicht jedem. Es wurde schon von Besuchenden berichtet, die zwar in den Gottesdienst kommen, aber das Essen danach nicht anrühren.

Bild: ©katholisch.de/cph

Die Pfarrkirche steht unter Denkmalschutz und bleibt auch deshalb erhalten.

Als die Pfarrei die entscheidenden Pläne gemacht hat, kommt auf einmal eine neue Initiative aus dem Erzbistum Paderborn: Pfarreien sollten ein Immobilienkonzept erstellen – bis dahin gibt es für Baumaßnahmen keinen Zuschuss mehr aus der Diözese. "Da haben wir natürlich gleich dafür gesorgt, dass wir im ersten Durchgang dabei sind", sagt Schönwasser. Zur Pfarrei kommt nun ein Team aus Pastoral, Architektur und Finanzen und rechnet das Konzept noch einmal durch. Viel ändert sich dabei nicht, nur eine Marke kommt dazu: Die Pfarrei soll ein Drittel ihrer Fläche einsparen. Das Erzbistum hilft nun auch bei Vermarktung und Nachnutzung der Gebäude. Bei den Pfarrhäusern ist das am einfachsten: Die allermeisten sind schon vermietet und können einfach verkauft oder in Erbpacht vergeben werden. Auch an den Gemeindezentren muss nicht viel gemacht werden. Schwieriger ist es da bei den vier Kirchen, die nun seit Anfang 2024 geschlossen, aber bis Ende des Prozesses noch nicht profaniert sind.

Abriss immer schmerzlich

An manchen Orten versucht die Pfarrei gerade, andere Konfessionen als Nachnutzer zu gewinnen. Bis Ende des Jahres haben sie Zeit, sich Gedanken zu machen, ob sie den Unterhalt selbstständig stemmen können. Anderswo ist schon klar, dass die Kirchen nicht mehr als solche genutzt werden. Auch hier hat die Pfarrei einen Kriterienkatalog erarbeitet: Im besten Fall sollen die Kirchengebäude erhalten und lediglich umgenutzt werden. "Ein Abriss ist immer nochmal ein zusätzlicher Schmerz", sagt Beckmann. Man könnte sich aber auch Lösungen vorstellen, bei denen etwa nur der Turm erhalten bliebe, heißt es aus dem Kirchenvorstand. Genutzt werden dürfen die Gebäude und Grundstücke in einer Weise, die der christlichen Botschaft nicht widerspricht. Am liebsten hätten die Verantwortlichen eine soziale oder karitative Nutzung, auch Wohnraum ist in Ordnung. Weniger glücklich wäre man, wenn dort Büros entstehen oder alles für einen Verbrauchermarkt abgerissen wird.

Ein Kahlschlag also? Für manche Gemeindemitglieder auf jeden Fall. Doch die gemeinsame Arbeit der Gremien und Aktiven untereinander hat auch zusammengeführt, sagen die Verantwortlichen. Man spricht jetzt in der Pfarrei mehr miteinander, die Nachbargemeinde ist nicht mehr der Gegner, sondern auch ein Ort von Kirche, an dem man sich beteiligen kann. "Das ist jetzt unsere große Aufgabe", sagt Beckmann. "Wir müssen die Menschen ermutigen, auch mal woanders hinzugehen, die Breite zu erfahren. Dann sind wir fit für die Zukunft." Schönwasser sieht darüber hinaus aber auch die ganze Kirche in der Pflicht: "Wenn der Synodale Weg nicht Ergebnisse vorweisen kann, wird der Trend zum Kirchenaustritt nicht umgekehrt werden – und dann werden wir in zehn Jahren über weitere Reduzierungen sprechen müssen."

Von Christoph Paul Hartmann