Warum ein Priester auch im Urlaub nicht frei hat
Eine 58-jährige Frau will 850.000 Euro Schmerzensgeld vom Erzbistum Köln. Denn ihr ehemaliger Pflegevater, ein Priester der Diözese, habe sie als Kind massenhaft vergewaltigt. Der Priester U. wurde 2022 bereits wegen mehrfachen Missbrauchs verurteilt. Dennoch ist keineswegs sicher, dass die Frau entschädigt wird: Denn hat der Priester seine Taten im Zusammenhang mit seiner Arbeit verübt und kann die Erzdiözese deshalb belangt werden? Das Erzbistum Köln weist diese Amtshaftung und damit den Schmerzensgeldanspruch mit dem Argument zurück, die Missbrauchstaten seien in der Wohnung des Priesters begangen worden, ein Zusammenhang mit seinen Dienstpflichten als Priester sei nicht ersichtlich. Das wirft Fragen nach der Natur des Priesterseins auf.
Wer Priester wird, übernimmt – so will es die Lehre der Kirche – nicht lediglich einen Job oder ein Amt, durch das eine Funktion delegiert wird. Da passiert mehr, denn die Priesterweihe ist ein Sakrament: "Dieses zeichnet die Priester durch die Salbung des Heiligen Geistes mit einem besonderen Prägemal und macht sie auf diese Weise dem Priester Christus gleichförmig, so dass sie in der Person des Hauptes Christus handeln können." (KKK 1563) Schließlich spenden sie mit der Taufe oder der Eucharistie auch selbst Sakramente. Durch die Priesterweihe wird ein Mann also in seiner ganzen Natur verändert. "Denn der Priester gehört nicht mehr sich selbst, sondern ist durch das empfangene sakramentale Siegel (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1563, 1582) 'Eigentum' Gottes. Dieses sein 'einem Anderen zu gehören' muss durch ein klares Zeugnis für alle erkennbar sein. In seiner Art zu denken, zu sprechen, die Gegebenheiten der Welt zu beurteilen, zu dienen und zu lieben, mit den Menschen auch im Priestergewand in Beziehung zu treten, soll der Priester aus seiner sakramentalen Zugehörigkeit, aus seinem tiefsten Wesen prophetische Kraft beziehen." (Nr. 61) So formuliert es mit Rückgriff auf Worte von Papst Benedikt XVI. das "Direktorium für Dienst und Leben der Priester" des vatikanischen Klerusdikasteriums aus dem Jahr 2013, eine Art Berufshandbuch für Priester.
"Ein Priester ist immer Priester, er ist immer im Dienst", sagt der Freiburger Kirchenrechtler Georg Bier zu dieser so ausgedrückten Totalexistenz des Priesters. "Da gibt es kein Privatleben im landläufigen Sinn. Natürlich kann ein Priester etwas machen, was nicht direkt mit seinen Amtspflichten zu tun hat, natürlich geht er bisweilen in Urlaub – er ist aber auch dann immer Priester und als solcher im Dienst." Denn durch die Weihe sei der Priester von den Laien ontologisch, also von seiner prinzipiellen Natur aus, unterschieden. "Es geht um immerwährende Verfügbarkeit und ganzheitliche Hingabe."
Regeln für jede Lebenssituation
Dieser Gedanke wird beim Blick in das Direktorium unterstrichen. Denn in jeder Lebenssituation gibt es Regeln für den Priester. So ist ihm zum Beispiel aussagekräftige Kleidung "als unmissverständliches Zeichen seiner Hingabe und seiner Identität als Träger eines öffentlichen Amtes" aufgetragen. Weiterhin heißt es: "Der Priester muss vor allem durch sein Verhalten erkennbar sein, aber auch durch seine Bekleidung, so dass jedem Gläubigen und überhaupt jedem Menschen seine Identität und seine Zugehörigkeit zu Gott und zur Kirche unmittelbar erkenntlich ist." (Nr. 61)
Weiter ausgeführt wird das im Kirchenrecht. Dort ist festgehalten, dass ein Priester jeden Tag die Eucharistie feiern und das Stundengebet halten soll (Can. 276 CIC). Zudem heißt es: "Die Kleriker haben sich gemäß den Vorschriften des Partikularrechts von allem, was sich für ihren Stand nicht geziemt, völlig fernzuhalten" (Can. 285 § 1 CIC). Das heißt: Hochwürden vor dem Bordell oder der Spielhölle ist keine gute Idee. Doch auch öffentliche Ämter mit weltlicher Macht sowie Gewerbe und Handel sind Priestern explizit untersagt.
Der geschichtliche Grund dafür liegt in der Nachfolge der Reformation, beim Konzil von Trient 1545-1563. Dieses reagierte auf die Anfragen der sehr bibelkundigen Reformatoren unter anderem mit einer Bildungsinitiative. "Damals wurde das Berufspriestertum geschaffen, wie wir es noch heute kennen. Dazu gehörte, dass eine formelle Ausbildung beschlossen wurde, durch die die Priester auch Teil einer gesellschaftlichen Elite werden sollten. Dazu gehörten aber auch die Erkennungszeichen, die bis heute im Katechismus und im Kirchenrecht stehen", sagt der Berliner Dogmatiker Georg Essen. "Da gab es immer mal wieder Moden: So kam die Soutane Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Mode, in der zweiten Hälfte hatte sie dann wieder Aufwind." Dies wiederum stand im Zusammenhang mit der antimodernistischen Bewegung der Kirche in dieser Zeit: Auf eine säkularer werdende Moderne reagierte man mit einem Rückzug in sich selbst.
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) hatte sich dann ein Priesterverständnis etabliert, das weit weniger auf Abgrenzung setzte. "Das funktionierte aber auch nur in der volkskirchlichen Zeit", so Essen. Heute würden junge Priester angesichts einer christlichen Minderheitenposition dagegen wieder auf identitätsbetonende Kleidung setzen. "Trotz aller Moden und Ausprägungen: Das alles ändert nichts an der Grundkonzeption des Priesteramts", gibt Essen zu bedenken. "Die Sonderrolle ist bis heute konstant." Die Kirche hält an der Totalexistenz ihrer Priester fest. Der ihnen aufgelegte Zölibat gilt also auch an freien Tagen und im Urlaub. "Man muss sich vor Augen führen: Im Priester begegnen die Menschen Jesus Christus, deshalb diese ganzen Regeln."
Divergenz zur postmodernen Welt
Dass es freie Tage und Urlaub überhaupt gibt, zeigt eine Divergenz, die in der postmodernen Welt entstanden ist. Denn obwohl das kirchliche Lehramt behauptet, der Priester sei jeder funktionalen Ausdifferenzierung entzogen, spricht die Realität eine andere Sprache: Priester sind genauso Staatsbürger wie alle anderen, sie pflegen eventuell Angehörige, sind vielleicht Mitglied in einem Sportverein. Zudem – und das macht auch der laufende Prozess klar – ist die Übernahme eines Pflegekindes auch eine Funktion, die sich mit dem Priesteramt reibt. "Da wird das kirchliche Bild zu einer Fiktion", so Essen. "Diesen gesellschaftlichen Rollen, die alle mit einer bestimmten Sprache und Kleidung einhergehen, kann sich niemand entziehen."
Es entsteht also ein widersprüchliches Bild: Da ist einerseits eine komplexe Gesellschaft mit vielen Rollenzuweisungen für jeden und andererseits das lehramtliche Bild des in ungebrochener Kontinuität stehenden Priesters als Totalexistenz. Um wenigstens einige dieser Reibungspunkte abzuschwächen, kommt der Staat den Kirchen zum Teil entgegen. So dürfen Priester über Inhalte aus der Beichte die Zeugenaussage verweigern und der Staat akzeptiert das kirchliche Arbeitsverständnis ihrer Priester.
Gerade hier liegt auch ein Knackpunkt des momentan laufenden Prozesses, sagt Bier. Denn es sieht danach aus, als könnte das Gericht der Kirche Recht geben. Der Richter hat bereits angedeutet, dass das Erzbistum vermutlich nicht für die Taten des Priesters haften müsse, weil er diese nicht der Ausübung seines Dienstes begangen habe. Mehrere Kirchenrechtler haben an dieser Haltung bereits Kritik geübt. "Würde die Auffassung des Richters Schule machen, dann hätten Betroffene in Deutschland keine zivilrechtliche Chance", sagte dazu etwa der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller. Auch Bier kritisiert diese Haltung. "Anders als sonst legt der Richter hier ein staatliches Arbeitsverständnis für einen Priester an, indem er definiert, dass etwa gemeinsames Baden ins Privatleben gehört. Kirchlich ist das unmöglich – und das sollte eigentlich auch der Staat anwenden." Erstaunlich dabei: Die Kirche schlägt in dieselbe Kerbe und widerspricht dieser Interpretation nicht. "Das halte ich an sich schon für skandalös. Konsistent mit der Lehre ist das nicht", so Bier. Am 17. September soll das Urteil gesprochen werden – dann ist klar, welche Interpretation sich durchgesetzt hat.