Zwischen Liturgie und Tierheilkunde: Amtsübergabe auf 800 Seiten
Als am 20. Dezember 1748 in Freising ein Soldat wegen Diebstahls zum Tode verurteilt und gehängt werden soll, kommt es zu einer überraschenden Wende: Der Strick reißt, der Mann überlebt. Bevor ein neuer Hinrichtungsversuch unternommen werden kann, entführen ihn Studenten ins Kloster Weihenstephan, wo er Zuflucht findet. Doch trotz Rückführungsbefehlen bleibt der Verurteilte verschwunden. Sein Beichtvater aber begleitet ihn in die Freiheit – in der Hoffnung, Gott möge ihm nun die Einsicht schenken, ein besseres Leben zu führen.
Die Geschichte des verurteilten und später geflohenen Soldaten beeindruckte den Fürholzener Pfarrer Johann Jakob Pämer so sehr, dass er sie in seinen Aufzeichnungen – einer Salbuch genannten Art Tagebuch – festhielt. Seit Kurzem ist dieses im digital zugänglichen "Salbuch" im Archiv des Erzbistums München und Freising zu lesen. Bei den Aufzeichnungen von Pfarrer Pämer handelt es sich aber weniger um stichpunktartige Notizen, sondern um ein 800-Seiten-starkes Buch, das mehr oder weniger als Übergabe an seine Nachfolger in der Pfarrei gedacht war. Darin gibt der schreibfreudige Geistliche tiefe Einblicke in das Leben der Menschen in der Region um die Mitte des 18. Jahrhunderts – und erzählt Geschichten wie die des Soldaten, von der ihm ein Franziskanerpater berichtete, als er sich in Freising aufhielt.
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Die Historikerin Lisa Kellerer forschte zum 800-seitigen Salbuch des Fürholzener Pfarrers Johann Pämer.
Neben solchen Geschichten und Anekdoten enthält das Buch auch kurze und knappe Einträge über die Kirchenverwaltung, Einnahmen und Ausgaben oder Güterverzeichnisse. Auch andere Themen wie die örtliche Liturgie, Naturkatastrophen oder Kriegserlebnisse finden im Pämerschen Buch Platz, das damit im historischen Sinn aus dem Rahmen fällt. Selbst der Speiseplan der Dienstboten im Pfarrhaus oder Verfehlungen der Dienstboten gehörten dazu, sagt die Historikerin Lisa Kellerer gegenüber katholisch.de. Auch ihr Mentor und Betreuer der Magisterarbeit über das Pämersche Salbuch, Professor Kramer aus München, betont die Einzigartigkeit dieser Quelle aufgrund der Themenvielfalt. Normalerweise würde man laut Kramer von einem Salbuch nur rechtliche und wirtschaftliche Verhältnisse erwarten. Hier aber, so die Historikerin weiter, könne man eher von einem Handbuch für die nachfolgenden Pfarrer sprechen, denn er schreibe über seine eigenen Tätigkeitsfelder: von der Landwirtschaft über Liturgie und Seelsorge bis hin zur Schlichtung von Konflikten, die im Buch viel häufiger Thema seien als das harmonische Zusammenleben.
Mit einem Hang zur Selbstdarstellung
In diesem Zusammenhang schildert Pämer einen sehr umfangreichen Konflikt mit seinem Erzfeind, dem Hofmarktpfleger von Ottenburg. Beide hätten sich laut Kellerer gegenseitig beschuldigt, wobei der Pfarrer beim Fürstbischof immer wieder betont habe, dass dieser unchristlich sei und seinen Pflichten als Christ nicht nachkomme. Andererseits sei Pämer als streitsüchtig bekannt gewesen, was sich aber nur schwer beweisen ließe. Oft habe man in dem Buch nur eine Sicht, nämlich die des Pfarrers. Dieser habe aber mit seinem Hang zur Selbstdarstellung die Gelegenheit genutzt, nicht nur für seine Nachfolger, sondern auch für die Nachwelt schriftlich festzuhalten, was er in Fürholzen alles bewegt und erreicht habe. Unerwartet ist allerdings der "Plauderton", den Pämer in seinem Werk anschlägt. Rund 500 Mal kommt das Wort "ich" vor, mehrere hundert Mal das Wort "mein". Damit, so Kellerer, wolle Pämer deutlich machen, dass er selbst der Gemeinde zu mehr Repräsentativität verholfen habe und oft als Geldgeber aufgetreten sei. Doch wie kam Pämer nach Fürholzen?
Der offenbar gut gebildete Geistliche aus wohlhabendem Hause soll ein gutes Auskommen gehabt haben, da er seine Pfarrei oft mit seinem eigenen Vermögen unterstützte. Er wurde 1688 als ältestes von 28 Kindern in Freising geboren. Seine Geschwister werden in seinem Werk selten erwähnt. Genannt werden aber seine drei Schwestern, die im Pfarrhaus arbeiteten. Zwei seiner Brüder waren Mönche, einer Kirchenmaler. Einige andere sollen schon in jungen Jahren gestorben sein. Der Vater soll in Freising als Registrator, eine Art Archivar, tätig gewesen sein und dadurch oft gute Kontakte zum Fürstbischof gehabt haben. Für seinen Sohn habe er die Pfarrei Fürholzen ausgehandelt, erzählt Kellerer. Der sei aber zunächst unzufrieden gewesen, weil ihm die Pfarrei im Vergleich zu seiner Tätigkeit in München zu heruntergekommen erschien. Und doch, so heißt es in dem Buch, sei die Pfarrstelle in Fürholzen eine gute gewesen, denn er habe maßgeblich den Neubau der Stephanskirche im Jahr 1723 initiiert. Dazu gehörte auch eine Kapelle in Deutenhausen. "Zur Repräsentativität einer Pfarrei gehörte für ihn, dass möglichst alle Ortsteile ein Gotteshaus haben", so Kellerer. Man merke ihm an, dass er seine 40-jährige Amtszeit genutzt habe, um zu zeigen, dass er über verschiedene Kompetenzen verfüge.
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Die Pfarrkirche St. Stephan in Fürholzen. Pfarrer Pämer hat den Neubau im Jahr 1723 maßgeblich initiiert.
Dazu gehörte auch der theologische und liturgische Teil, der rund 200 Seiten des Buches einnahm. Zu fast jedem katholischen Hochfest beschrieb Pämer den grundsätzlichen Ablauf des Gottesdienstes inklusive der Gebete, die vor allem für die Liturgie auf dem Land interessant erscheinen, da sie auch die Erntezeiten berücksichtigen. Kellerer erwähnt auch den Winter, in dem die Gottesdienstzeiten wegen des schlechten Wetters geändert wurden. Doch nicht nur in theologischen und liturgischen Fragen erwies sich der Geistliche als Experte. In einem rund zehnseitigen Kapitel am Ende des Buches schreibt er sogar über die häufigsten Tierkrankheiten in der Region und deren Bekämpfung. Veterinärmedizin im heutigen Sinne, so Historikerin Kellerer, habe es damals noch nicht gegeben. So waren es damals im deutschsprachigen Raum eher Handwerker wie Schmiede, die sich um die Pferde kümmerten, weil sie aufgrund ihres Berufs mit Tieren zu tun hatten.
Pämer vermerkte auch die Unwetter, die Fürholzen immer wieder heimsuchten, wie jenes von 1721, bei dem fast alle Pferde ertranken. Der Pfarrer war also ein wichtiger Chronist, auch wenn viele seiner Erzählungen und Aufzeichnungen mit Vorsicht zu betrachten seien, erklärte Kellerer. Viele Ereignisse wurden erst viel später niedergeschrieben und könnten daher ausgeschmückt worden sein. Dennoch müsse man die Arbeit des Pfarrers anerkennen, denn durch den Tod seines Vorgängers habe er sich fast alles selbst erarbeiten müssen. Das könnte einer der Gründe sein, warum das Buch für seine Nachfolger so dick und lang geworden ist. Eine andere Vermutung ist, dass Pämer das Buch wahrscheinlich um 1743 in der Zeit des Österreichischen Erbfolgekrieges bis zu seiner Pensionierung geschrieben hat. Da Fürholzen stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, wäre es auch logisch, dass er in dieser Zeit der Ungewissheit ein erhöhtes Schreibbedürfnis gehabt haben könnte.