Auch Katholiken an der Basis müssen in den Clinch mit der AfD gehen
Ein halbes Jahr ist vergangen seit dem unerwarteten Coup der deutschen Bischöfe gegen den grassierenden Rechtspopulismus, den sie identifizierten als "schillernden Rand des Rechtsextremismus, von dem er ideologisch aufgeladen wird". Die Erklärung "völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar" wurde über große kirchenpolitische Differenzen hinweg geradezu spektakulär einstimmig vom Episkopat verabschiedet und erwischte die AfD kalt: Gerade erst hatten Massendemonstrationen gegen menschenverachtende "Remigrations"-Fantasien ihren Anspruch, die Stimme des Volkes zu sein, erschüttert, da riss ihr auch noch die abendländisch-konservative Institution schlechthin die Maske einer "konservativen" Partei herunter.
Dass die Bischöfe einleitend die Formulierung "mit großer Sorge" nutzten, erinnerte an die Enzyklika "Mit brennender Sorge", in der Pius XI. 1937 den Nationalsozialismus verurteilte. Die Erklärung 2024 steht also kategorial nicht in der Tradition sozialethischer "Wahlprüfsteine", anhand derer die Gläubigen die verschiedenen Parteien beurteilen sollten, sondern stellt eine neue Qualität von Grenzmarkierung dar, die deutlich macht: Hier geht es nicht mehr um mehr oder weniger christliche Schnittmengen mit politischen Akteuren, sondern "ums Eingemachte". Politologisch gesagt: nicht mehr um "policy" (politische Sachfragen), sondern um die "polity": Grundregeln, nach denen das staatliche Leben abzulaufen hat, also die Systemfrage. Und im katholischen Horizont nicht um klerikal übergriffiges "Politisieren", sondern um das vom Zweiten Vatikanischen Konzil beanspruchte Recht der Kirche, "in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen… und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen".
"Anker des Grundgesetzes"
Dementsprechend "zweigleisig" argumentierte die Erklärung der Bischöfe: Sie legt dar, dass die neurechte Ideologie in säkularer Sicht Prinzipien unserer Verfassung angreift und in religiöser Perspektive die Idee der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, den christlichen Universalismus und das Solidaritätsprinzip der katholischen Soziallehre attackiert. In starken Bildern wird die Menschenwürde verteidigt als "Anker des Grundgesetzes" und "Glutkern" christlichen Glaubens. Erst nach der grundsätzlichen Unterscheidung der Geister kommt man auf die Partei des völkischen Nationalismus zu sprechen.
Spätestens seit diesem starken Aufschlag, der die 2017 unter Kardinal Marx gezogenen "roten Linien" (Rassismus, Antisemitismus, Überhöhung der eigenen Nation, Gleichgültigkeit gegenüber der Armut in der Welt, Verunglimpfung anderer Weltreligionen, Verächtlichmachung der repräsentativen Demokratie, Feindseligkeit/Hassrede) bekräftigte und zuspitzte, kann sich kein glaubenstreuer Katholik beim Thema AfD mehr relativistisch herausreden mit einem "die einen sagen so, die anderen sagen so". Zumal auch Papst Franziskus seit 2017 wiederholt nicht nur die oben genannten ideologischen Übel geißelte, sondern große Gefahren durch den weltweiten Populismus beschwor und Parallelen zum Aufstieg Hitlers und zu dessen Reden zog.
Der sensus fidelium – katholisch für "Schwarmintelligenz" – entspricht der lehramtlichen Positionierung: Katholiken, vor allem kirchennahe gemäß Gottesdienstbesuch und Selbstidentifikation, wählen die AfD in West und Ost weniger als Protestanten und Konfessionslose. Jüngst eruierte eine Auszählung der Mitte-Studie 2023 durch Andreas Zick und Marco Eden AfD-Sympathie bei acht Prozent der Muslime, neun Prozent der Katholiken und je 17 Prozent der Protestanten und Konfessionslosen. Das erinnert an Analysen des Wahlverhaltens in der Weimarer Republik: In (nahezu) rein katholischen Wahlkreisen blieb die NSDAP 1932 im Durchschnitt unter 20 Prozent.
Konfessionelle Verallgemeinerungen dieser relativen Resistenz deutscher Katholiken gegenüber rechter Ideologie – etwa weil der Universalismus der römischen Weltkirche Nationalismus konterkariere – wären allerdings im Blick auf historische und aktuelle rechtsautoritäre Bewegungen und Regimes in Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich oder Polen kurzschlüssig. Schon in der Weimarer Republik gab es einen virulenten Rechtskatholizismus, der in der Deutschnationalen Volkspartei oder am rechten Rand des Zentrums (Franz von Papen) siedelte, die erste deutsche Demokratie mit sturmreif schoss und den Bischöfen vorwarf, zu Zentrums-nah zu sein und die Autonomie der Laien in politischen Fragen zu missachten.
Unheilige Allianzen
Auch die neue rechte Welle seit 2013 schwappte ins Kirchenschiff hinein. Trotz eindringlicher Warnungen und Unvereinbarkeitserklärungen nicht nur der Bischöfe und des Papstes, sondern auch katholischer Verbände, Laiengremien und Wissenschaftler neigen laut Umfrageanalysen zwischen zwei und sieben Prozent der katholischen Kirchennahen der AfD zu. Das ist unter 100 deutschen Katholiken zwar nur ein "Geisterfahrer", der die anderen in die falsche Richtung fahren sieht. In der Gesamtzahl handelt es sich aber um etwa 200.000 Personen, viele davon mit ausgeprägt missionarischem Eifer, guter Vernetzung und Lautstärke im Internet und in Sozialen Medien, wo mangels professioneller und berufsethischer Filter Spreu nicht vom Weizen getrennt wird. Hochmotivierte Halbgebildete agitieren ihresgleichen und Ungebildete in Online-"Blasen" fast widerspruchsfrei. Andersdenkende werden weggeblockt, Differenzierte ziehen sich selbst zurück und Grobkörnige dominieren zunehmend die Szene. Dieser "Siebungseffekt" führt in Kirchennischen zu Radikalisierungsspiralen wie unter säkularen Rechten.
Mit diesen ging man denn auch unheilige Allianzen ein. Schon früh schrieben rechtskonservative Katholiken für die "Junge Freiheit", heute eine Art inoffizieller Parteizeitung der AfD, oder ließen sich gar auf ein Interview in der "Sezession" des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek ein. Andere findet man beim rechten Internetportal "Achse des Guten", manche agitieren auf einem eigenen Blog. Lob für Orban, Trump, Le Pen & Co., bis 2022 sogar für Putin, ist in der rechtskatholischen Szene üblich. Der Sozialethiker Pater Wolfgang Ockenfels stellte sich als Referent eines AfD-"Extremismuskongresses" und jahrelang für das Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung zur Verfügung. Die Publizistin Gabriele Kuby scheute trotz der russischen Invasion der Krim nicht davor zurück, 2014 an einer Kreml-Konferenz mit dem Titel "Große Familien und die Zukunft der Menschheit", mitzuwirken, die rechte "Pro Family"-Aktivisten aus den USA boykottierten.
Als Köder für solche Allianzen wirken primär die Themen "Familie" (oft nur Chiffre für Aversion gegen nicht heterosexuelle Liebe) und Abtreibung, gefolgt von Islam- und Medienkritik – ungeachtet der je anderen Motive Rechtsradikaler, die wenig mit christlicher Anthropologie, Kultur und Lebensschutzgeboten im Sinn haben, sondern kollektivistisch von völkischer Demographie und ethnischer Homogenität her denken. In der Pandemie oder der Flüchtlingskrise war es mit dem Pro-Life-Vorrang so manches "Lebensschützers" schnell vorbei, auch bei rechten Paradekatholiken, ungeachtet lehramtlicher Weisungen. Wahrscheinlich wurzeln die säkulare und die religiöse Variante der Rechtsausleger in der gleichen Struktur: der autoritären Persönlichkeit, oft verbunden mit geistes- und humanwissenschaftlichen Bildungsdefiziten oder Bitterkeit durch biographische Frustrationen.
Wer einer Gesellschaft geistig-moralische Orientierung geben will wie die Kirchen, der hat zuerst vor der eigenen Tür zu kehren. Katholikenvereine und -medien, die als Scharniere zwischen Kirchenmilieus und der AfD dienen, neurechte Autoren publizieren und normalisieren, im AfD-Sound gegen die liberale Demokratie als Quasi-Diktatur polemisieren, ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten verächtlich machen und sich trotzdem noch als Gralshüter katholischer "Lehramtstreue" aufspielen, sollten von bischöflichen Zurechtweisungen nicht verschont werden. Dies geschieht aber aus einem allzu betulichen Verständnis von Dienst an der kirchlichen Einheit heraus. Man beehrt sie als Oberhirte nicht mit Pontifikalämtern, Gastartikeln oder Interviews, sondern redet ihnen ins Gewissen in der Klarheit und Schärfe Jesu gegen "Heuchler", "getünchte Gräber" und "Schlangenbrut". In der Klarheit und Schärfe des Heiligen Vaters gegen den bloßen "Anschein von Religiosität", hinter dem sich eine "spirituelle Weltlichkeit" verberge, "eine subtile Art, den eigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi zu suchen (Phil 2,21)", ein "narzisstisches und autoritäres Elitebewusstsein", das sich gerne verliert in "einer ostentativen Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche", doch "ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten" (Evangelii Gaudium 93-95). Bei dieser Art Unterscheidung der Geister innerhalb der Kirche gibt es unter einigen Mitren durchaus noch Luft nach oben.
Streitbare Bürgerloyalität in der Demokratie
Es ist notwendig und hat – unter wütendem Protest – begonnen, offene Unterstützer der AfD oder ihrer menschenfeindlichen und damit nach Mt 25,40 gottlosen Ideologie von kirchlichen Ämtern und Diensten fernzuhalten oder aus ihnen zu entfernen. Dies reicht aber nicht. Nach der fundamentalen Klärung durch die Bischöfe und wissenschaftlichen Gutachten zur AfD-Programmatik durch katholische Sozialethiker sind nun auch Pfarrer und Prediger vor Ort, geistliche Gemeinschaften und kirchliche Gruppen an der "Basis" gefragt, Zeugnis zu geben und dabei notfalls "in den Clinch" zu gehen, unter Inkaufnahme von Blessuren.
Den lehramtlichen Selbstkorrekturen des 20. Jahrhunderts zu Demokratie und Menschenrechten hin müssen alle Glieder der Kirche gerecht werden, auch gegen Widerstände. Die Wahrung der Einheit ist für den Katholizismus nicht das höchste Gut. Ein kulturkämpferischer, identitärer Christianismus verdunkelt die Botschaft des Evangeliums. Man kann ihn durchaus als häretisch begreifen. Damit ist der Bekenntnisfall (status confessionis) gegeben. Er verlangt, sich geistlich zu wappnen, sozialethisch zu bilden und politisch zu engagieren, mindestens als Wähler demokratischer Parteien und durch ein unerschrockenes Zeugnis im sozialen Umfeld. Die Fortsetzung des kirchlichen Widerstandes in den deutschen Diktaturen ist streitbare Bürgerloyalität im demokratischen Rechtsstaat.