Eine Organspende ist die letzte Stufe zur Heiligkeit
"Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten." Dieser Schlusssatz der gemeinsamen Schrift "Organtransplantationen" der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus dem Jahr 1990 ist wohl das bekannteste kirchliche Zitat zur Organspende. Daneben gibt es weitere, ähnlich lautende Zitate der beiden Kirchen. Zuletzt schrieben DBK und EKD im Jahr 2020 in einer gemeinsamen Stellungnahme, Organspende "verdient aus christlicher Perspektive höchste Anerkennung als Akt der Nächstenliebe".
Auch Päpste haben sich in der Vergangenheit immer wieder in ähnlicher Weise zur Organspende geäußert. Johannes Paul II. (1978-2005) etwa schrieb in der Enzyklika "Evangelium vitae" (1995), dass die Organspende eine "besondere Wertschätzung" verdiene. Papst Benedikt XVI. (2005-2013) bezeichnete die Organspende später als "eine besondere Form des Zeugnisses der Nächstenliebe" und der amtierende Papst Franziskus nannte sie einen "edlen und verdienstvollen Akt".
Hinterbliebene lehnen eine Organspende eher ab
Als Klinikseelsorger bin ich gelegentlich nach der Feststellung des Hirntodes eines Patienten bei den Gesprächen mit Angehörigen dabei. Wenn der Hirntote eine schriftliche Willenserklärung Für oder Wider die Organspende hinterlassen hat, ist die Sache klar und bedeutet für die Hinterbliebenen eine große Entlastung. Die Jahresberichte der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) der Jahre 2022 und 2023 geben allerdings an, dass weniger als 25 Prozent der Hirntoten eine solche Willenserklärung vor ihrem Tod abgegeben hatten. Bei weniger als 20 Prozent lag eine mündliche Willenserklärung vor. Somit mussten in den meisten Fällen die Hinterbliebenen gefragt werden, was ihrer Meinung nach der Wille des Hirntoten gewesen sei.
In den Gesprächen zeigt sich, dass die Hinterbliebenen die Organspende eher ablehnen (rund 70 Prozent) als ihr zuzustimmen (rund 55 Prozent), weil sie im Namen des Verstorbenen keine falsche Entscheidung treffen wollen. Somit können insgesamt nur in rund der Hälfte der Fälle überhaupt Organe entnommen werden. Dabei befürworten bei repräsentativen Umfragen stets zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten die Organspende. Demnach entscheiden also 30 bis 40 Prozent der Hinterbliebenen mit ihrem "Nein" falsch.
„Die Entscheidung, ob im Falle des Hirntodes Organe gespendet werden, sollte nicht zuerst den Hirntoten im Blick haben, sondern den Organpatienten.“
Dies zeigt, wie wichtig es ist, das Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen und mit der eigenen Entscheidung den Organspendeausweis auszufüllen. Da es keine endgültige Entscheidung ist, sollte dies ein Leichtes sein. Wenn man morgen zu einer anderen Erkenntnis gelangt, kann man den Ausweis vernichten und einen neuen mit der aktuellen Entscheidung ausfüllen. Gleiches gilt auch für das Organspende-Register.
Bei der Frage, ob man bereit ist, im Falle seines Hirntodes Organe spenden zu wollen, betonen Kirche und Staat, dass die Beratung auf dem Weg zu einer Antwort ergebnisoffen und neutral erfolgen soll. Die Entscheidung, einer Organentnahme zuzustimmen oder ihr zu widersprechen, sei gleich richtig; beide Entscheidungen hätten gleiche Gültigkeit. Doch stimmt dies? Obwohl die überwiegende Mehrheit der Menschen eine Organspende grundsätzlich befürwortet, liegt nur bei rund der Hälfte der Fälle eine Zustimmung zur Organspende vor. Wie ist das unter ethischen und theologischen Gesichtspunkten zu bewerten?
Den Blick auf das Ende lenken
"Quidquid agis, prudenter agas et respice finem." – "Was auch immer du tust, tu es klug und bedenke die Folgen." Dieses Zitat wird Herodot zugeschrieben. Ähnliches Gedankengut findet sich aber auch in der Bibel. "Was du auch tust, bedenke das Ende, so wirst du nicht sündigen in Ewigkeit." (Sir 7,36) Ausgehend von diesen Zitaten sollte der Blick auf das Ende gelenkt werden.
Die Entscheidung, ob im Falle des Hirntodes Organe gespendet werden, sollte nicht zuerst den Hirntoten im Blick haben, sondern den Organpatienten. Zwar gibt es für Nieren-Patienten – trotz aller Beschwernisse und Einschränkungen – die Dialyse als Nieren-Ersatztherapie; eine Nierentransplantation würde die Lebensqualität jedoch erheblich steigern und das Leben verlängern. Für Herz-, Lungen- und Leber-Patienten gibt es dagegen nichts Vergleichbares. Für sie gibt es, wenn sie kein Organ erhalten, mittelfristig nur den Tod.
Am Ende entscheidet das "Ja" oder "Nein" eines potentiellen Organspenders oder seiner Hinterbliebenen über Leben oder Tod eines Organpatienten. Wenn man bedenkt, dass ein Organspender durchschnittlich 3,1 Organe spendet, kann man sagen, dass ein Organspender drei Organpatienten vor dem drohenden Tod bewahren kann. Somit multiplizieren sich die Folgen um den Faktor 3. Damit kann man aber nicht sagen, dass bei der Frage zur Organspende das "Ja" gleich gültig zum "Nein" sei. Vielmehr muss man sagen, dass dieses "Ja" oder "Nein" eines Hirntoten für drei Menschen über Leben und Tod entscheidet.
Organspende ist kein Selbstzweck. Sie dient nicht dem eigenen Wohl, sondern dem Wohl eines fremden Menschen, dessen Namen die Hinterbliebenen in Deutschland noch nicht einmal erfahren dürfen. Über die DSO können jedoch die Organempfänger an die Hinterbliebenen des Organspenders einen anonymen Dankesbrief schreiben. Diese können dann ebenfalls über die DSO antworten. So sind unter Beibehaltung der Anonymität schon Brieffreundschaften entstanden.
Das Leben Jesu ist voller Heilungswunder
Bei Ethik wird gerne auf Immanuel Kant und seinen kategorischen Imperativ verwiesen. Es lautet: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." Gemäß dieser Losung würde es bei 100 Prozent Zustimmung zur Organspende die Umfrageergebnisse besser treffen als die momentane Lage. Bei 100 Prozent Ablehnung hingegen wären Organtransplantationen undurchführbar. Sie wären ein Traumschloss, eine Seifenblase, die bei der kleinsten Berührung zerplatzt.
Die Bibel kennt zwar den Begriff "Organspende" nicht, aber das Leben Jesu ist voller Heilungswunder. Jesus heilte Menschen an Leib und Seele. Dabei ist eine Gruppe der Heilungswunder besonders hervorzuheben, nämlich die der an einem Sabbat getätigten Heilungswunder. Dabei gehört das Sabbatgebot zu den 10 Geboten. Es zu übertreten, wurde mit dem Tod bestraft (Ex 31,14-16). Sogar die an einem Sabbat maximal zurückzulegende Weglänge war mit der Angabe "Sabbatweg" begrenzt (Apg 1,12). Trotz dieser Regelungen heilte Jesus mehrfach auch am Sabbat, was von den Juden als Sabbatschändung empfunden wurde (Mt 12,9-13). Jesus rechtfertigte sein Handeln mit den Worten: "Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat." (Mk 2,27).
„Wir sind zur Nachfolge Christi und damit zur Heiligkeit berufen, ebenso zur Organspende. Wir haben die freie Wahl, ob wir diesem Ruf folgen oder eigene Wege gehen.“
Bei den Heilungswundern machte Jesus keine religiösen oder nationalen Unterschiede. Er heilte den Diener eines Hauptmanns (Mt 8,5-13), den Besessenen von Gadara (Mt 8,28-34), die Tochter einer kanaanäischen Frau (Mt 15,21-28), die Tochter einer Syrophönizierin (Mk 7,24-30). Jesus lehrte und praktizierte sogar echte Feindesliebe (Lk 10,25-37). Nichts hielt ihn davon ab, einem Notleidenden zu helfen. Das Zeichen der Nächstenliebe verpflichtete ihn dazu, jedem Notleidenden zu helfen. Jesus half ihm, weil er ein Mensch ist, ein Kind Gottes. Als Kinder dieses einen Gottes sollten auch wir uns verpflichtet fühlen, Notleidenden zu helfen. Als Christen, die wir uns in der Nachfolge Jesu sehen, sind wir aufgerufen, wie Jesus zu handeln. Dabei sollte auch uns nichts abhalten, dem Notleidenden zu helfen.
Jesus wurde einmal gefragt, was das wichtigste Gebot sei. Jesus gab zur Antwort: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Mt 22,37-39) Auf die Frage, wer dieser Nächste sei, antwortete Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der in Not geratene Mensch sei der Nächste. Beim Thema Organspende ist es folglich der bei Eurotransplant auf der Warteliste stehende kranke Mensch. So wenig, wie der Samariter den halbtoten Juden, dem er half, kannte, so wenig kennen wir die bei Eurotransplant auf der Warteliste stehenden Patienten, die auch den eigenen Tod vor Augen haben und auf rechtzeitige Hilfe hoffen.
Gibt es eine "Christenpflicht", Organe zu spenden?
Gibt es somit eine "Christenpflicht", nach dem eigenen Tod seine Organe zu spenden? So wird immer wieder gefragt. Ich nehme eine andere Pflicht in den Blick. Papst Johannes Paul II. sprach mehrfach von einer "Pflicht zur Heiligkeit". Papst Franziskus sprach wiederum davon, dass wir "alle zur Heiligkeit berufen" sind. Sein Apostolisches Schreiben "Gaudete et exsultate" von 2018 handelt vom "Ruf zur Heiligkeit". Nach Canon 387 CIC soll der Diözesanbischof alles daransetzen, die Heiligkeit der Gläubigen zu fördern. Nach dem Katechismus ergeht an alle Getauften der "Ruf zur Heiligkeit". Mit Blick auf die Organspende kann man davon sprechen, dass an alle Getauften der Ruf zur Heiligkeit ergeht, ebenso der Ruf zur Organspende. Beide Themen zusammenbringend, lässt sich sagen: Organspende ist eine letzte Stufe zur Heiligkeit.
Gott und auch der Gesetzgeber überlässt unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts jedem Einzelnen die Wahl, mit einem "Ja"der Organspende zuzustimmen oder mit einem "Nein" ihr zu widersprechen. Es ist jedoch ein Trugschluss, davon abzuleiten, dass beides gleich gültig sei. Um den Menschen dies zu verdeutlichen, sollte die katholische Kirche sich dazu entschließen, allen Organspendern den Status eines Seligen zuzusprechen. Damit würde deutlicher: Wir sind zur Nachfolge Christi und damit zur Heiligkeit berufen, ebenso zur Organspende. Wir haben die freie Wahl, ob wir diesem Ruf folgen oder eigene Wege gehen. Gleich gültig sind beide Wege keinesfalls.
Der Autor
Pater Klaus Schäfer SAC lebt und arbeitet in der Kommunität der Pallottiner im Vorderen Bayerischen Wald. Er war fünfzehn Jahre Krankenhausseelsorger in den St. Vincentius-Kliniken in Karlsruhe, mehrere Jahre Rektor der Hausgemeinschaft des Paulusheims in Bruchsal und ist seit 2017 in Regensburg wieder als Klinikseelsorger tätig. Schäfer hat zahlreiche Schriften veröffentlicht und hält auf Anfrage Vorträge und Schulungen. Dabei reichen seine Themen von Hirntod und Organtransplantation bis zu Krankheit, Stillgeburt, Sterben, Tod und Trost.