Religionsfreiheit: Tut die Ampelregierung genug für das Menschenrecht?
Eigentlich ist Dirk Bingener ein besonnener Typ, der nicht für harsche Töne bekannt ist. Wer den Präsidenten von missio Aachen und des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" bei Auftritten erlebt oder Beiträge von ihm liest, nimmt einen Priester wahr, der zwar engagiert für die Arbeit und Ziele seiner beiden katholischen Hilfswerke wirbt – seine Worte dabei aber stets sorgsam abwägt und bei persönlichen Begegnungen ebenso freundlich wie diplomatisch auftritt.
Insofern fiel Bingeners jüngster "Standpunkt" bei katholisch.de durchaus aus dem Rahmen. Mit deutlichen Worten kritisierte der 52-Jährige darin Anfang September Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), weil diese bei einer kurz zuvor von ihr absolvierten Pakistan-Reise kein Wort zur Religionsfreiheit und zur Lage religiöser Minderheiten in dem Land geäußert habe. "Man reibt sich ungläubig die Augen! Erst vor wenigen Wochen jährten sich die Ausschreitungen in der pakistanischen Stadt Jaranwala, bei denen ein islamistischer Mob mehr als 25 Kirchen und hunderte Wohnhäuser von Christen plünderte und brandschatzte. Den staatlichen Institutionen in Pakistan gelingt es schlicht nicht, religiöse Minderheiten gegen islamistische Gewalt zu schützen", schrieb Bingener in seinem Kommentar.
Bingener: Was braucht es noch, damit die Ministerin den Mund aufmacht?
Selbst der Beauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, der im Entwicklungsministerium angesiedelt ist, habe in seinem "Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit" Ende vergangenen Jahres die Missstände in Pakistan benannt. "Für die Ministerin spielt dies aber entweder keine Rolle, oder im Ministerium weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut", zürnte Bingener. Er frage sich, was es noch brauche, damit die Entwicklungsministerin einer Bundesregierung, die sich eine "wertegeleitete Außenpolitik" auf die Fahnen geschrieben habe, in Pakistan beim Thema Religionsfreiheit den Mund aufmache.
„Es braucht einen Einsatz für das Menschrecht auf Religionsfreiheit auf ganzer Breite und aus einem Guss.“
Auf Nachfrage von katholisch.de erneuerte Bingener – wieder diplomatischer im Ton – jetzt seine Kritik an der Bundesregierung: "Insgesamt lässt sich sagen, dass die aktuelle Bundesregierung die politische und gesellschaftliche Rolle, die Religion in vielen Regionen der Erde nach wie vor spielt, nicht ausreichend im Blick hat. Das schlägt sich auch beim Engagement für das Thema Religionsfreiheit nieder." Zwar schätze er grundsätzlich die Arbeit des Religionsfreiheitsbeauftragten Frank Schwabe (SPD) sehr. In seinem Bericht vom vergangenen Jahr habe dieser für 41 Länder klar die Probleme benannt, die bei der Durchsetzung des Menschrechts auf Religionsfreiheit bestünden. "Abgesehen davon mangelt es aus meiner Sicht aber immer noch an einer echten Verzahnung der Arbeit des Bundesbeauftragen mit anderen Stellen der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik", so der missio-Präsident.
Dies sei auch deshalb dramatisch, weil das Menschenrecht auf Religionsfreiheit weltweit unter enormem Druck stehe. "Die Ursachen hierfür sind vielfältig und komplex. Das kann zum einen ein religiöser Fundamentalismus sein, der sich direkt gegen bestimmte Glaubensgruppen richtet, zum anderen aber auch ein Nationalismus, der eine ethnisch-religiöse Homogenität anstrebt und Religionszugehörigkeit als Legitimation missbraucht, um bestimmte Gruppen auszugrenzen", so Bingener. Auch das Erstarken autoritärer und totalitärer Kräfte führe in vielen Ländern dazu, dass Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt würden.
"Es braucht einen Einsatz für Religionsfreiheit aus einem Guss"
Problematisch ist aus Sicht Bingeners zudem, dass der Einsatz für Religionsfreiheit in westlichen Ländern immer wieder instrumentalisiert zu werden drohe, indem das Menschenrecht nur für die "eigene Klientel" eingefordert werde. Religionsfreiheit sei jedoch ein universelles Menschenrecht und gelte somit für alle. "Gerade deshalb darf das Thema innerhalb der Bundesregierung kein Schattendasein führen. Es braucht einen Einsatz für das Menschrecht auf Religionsfreiheit auf ganzer Breite und aus einem Guss", forderte Bingener.
Mit seiner Kritik steht Bingener nicht alleine da. In einem katholisch.de-Interview erklärte der Moraltheologe Peter Schallenberg Ende September, dass er sich den Aussagen des missio-Präsidenten nur anschließen könne. "In der Tat fällt auf, dass die Regierung in Sachen Religionsfreiheit und Christenverfolgung äußerst still ist. Das war unter den christdemokratisch geführten Regierungen der jüngeren Vergangenheit ganz anders." Er halte das Verhalten der Ampel für einen schweren Fehler, "schließlich sehen wir weltweit starke Einschränkungen der Religionsfreiheit", so der Theologe. Für die Ampel scheine Religion jedoch auch im globalen Maßstab eine zu vernachlässigende "private Spielwiese" zu sein.
Der ehemalige Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Volker Kauder (CDU), der sich seit vielen Jahren für Religionsfreiheit engagiert, will den Einsatz der Bundesregierung für das Menschenrecht gegenüber katholisch.de dagegen nicht pauschal kritisieren. Schließlich habe die Ampel das erst in der vergangenen Legislaturperiode geschaffene Amt des Religionsfreiheitsbeauftragten und die damit verbundenen Berichte über die Situation in der Welt fortgeführt. "Das war eine wichtige Entscheidung, um das Thema Religionsfreiheit in unserem Land sichtbar zu machen", so der 75-Jährige, der heute Honorarprofessor für Politische Ethik und Religionsfreiheit an der Freien Theologischen Hochschule Gießen ist.
Er stimme aber zu, so Kauder weiter, dass die Religionsfreiheit als Menschenrecht in der Ampelregierung unterbelichtet sei. "Die Außenministerin kritisiert immer wieder Menschenrechtsverletzungen in der Welt, sie formuliert eine feministische Außenpolitik. Aber die Religionsfreiheit wird explizit nicht angesprochen. Ich würde mir schon wünschen, dass bei Begegnungen mit ausländischen Staatschefs nicht nur die Menschenrechtslage allgemein, sondern die Religionsfreiheit im Besonderen ausdrücklich angesprochen wird", sagt Kauder.
„Angesichts dessen, dass etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung religiös gebunden sind und die Einschränkung der zivilgesellschaftlichen Handlungsräume weltweit zunimmt, spielen die Themen Religion und Religionsfreiheit eine tragende Rolle.“
Und was sagt die Bundesregierung? Gegenüber katholisch.de weist das thematisch federführend zuständige Entwicklungsministerium die Kritik an einem zu mangelhaften Engagement für die Religionsfreiheit zurück. "Angesichts dessen, dass etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung religiös gebunden sind und die Einschränkung der zivilgesellschaftlichen Handlungsräume weltweit zunimmt, spielen die Themen Religion und Religionsfreiheit eine tragende Rolle", erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. So habe das Ministerium eine eigene Strategie und ein Referat, in denen das Thema "Religion und Entwicklung" aufgegriffen werde. Zudem spiele das Thema in der Entkolonialisierungsdebatte eine zentrale Rolle.
Ministerium: Religion ist menschenrechtlich gesehen keinesfalls nur "Privatsache"
Auch gegen den Vorwurf des Theologen Schallenberg, die Bundesregierung sehe Religion auch im globalen Maßstab als zu vernachlässigende "private Spielwiese" wehrt sich das Ministerium. Der Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit vom vergangenen Jahr belege das Gegenteil. "Insbesondere stellt er klar, dass Religion menschenrechtlich gesehen keinesfalls nur 'Privatsache' ist und knüpft ausdrücklich an aktuelle Debatten zur sozialen und politischen Bedeutung von Religionen an", erklärt die Sprecherin.
Positiv betrachtet das Ministerium auch die bisherige Arbeit des Religionsfreiheitsbeauftragten Frank Schwabe – dabei hört man im politischen Berlin immer wieder Kritik an der Performance des 53-jährigen Sozialdemokraten. Er habe es bislang nicht geschafft, dem Menschenrecht der Religionsfreiheit mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und eine starke Stimme etwa für verfolgte Christen zu werden, sagen Kirchenvertreter und Oppositionspolitiker in vertraulichen Gesprächen. Auch medial ist der Beauftragte nur wenig präsent: Eigene Pressemitteilungen Schwabes oder Interviews finden sich für das laufende Jahr nur wenige.
Das Ministerium zeigt sich gleichwohl davon überzeugt, dass Schwabe mit seinen thematischen Schwerpunkten "Indigene Religionsfreiheit" und "Religion und Entwicklung" "das menschenrechtliche Profil des Amtes erweitert und vertieft" habe. Obendrein habe er sich für Fragen der Weltanschauungsfreiheit eingesetzt, zahlreiche Reisen unternommen, Gespräche geführt und sich zum Teil auch bewusst ohne Öffentlichkeit für unter Menschenrechtsverletzungen leidende Personen eingesetzt. "Anders als viele Regierungsbeauftragte hat Frank Schwabe eine eigene mehrsprachige Website und arbeitet mit einem eigenen X-Account. Sein Stab wurde personell aufgestockt im Vergleich zu seinem Vorgänger. Vor diesem Hintergrund ist der Vorwurf, das Ministerium vernachlässige das Thema, nicht überzeugend", so die Ministeriumssprecherin gegenüber katholisch.de.
Will die Union das Amt des Beauftragten abschaffen?
So oder so dürfte sich mit Blick auf die nicht mehr allzu ferne Bundestagswahl bald die Frage nach der weiteren Zukunft des Amtes des Religionsfreiheitsbeauftragten stellen – und diese Diskussion könnte durchaus spannend werden. Denn obwohl laut den aktuellen Umfragen nach der nächsten Wahl eine von der Union angeführte Regierung wahrscheinlich ist und das Amt des Beauftragten 2018 von CDU und CSU initiiert wurde, scheint dessen Fortbestand unter einem Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) unsicher zu sein. Immerhin hat Merz jüngst beim CSU-Parteitag eine Verkleinerung des Staatsapparats gefordert. Gemeint sei vor allem "der aufgeblasene und aufgeblähte Wasserkopf, den wir in den Berliner Amtsstuben sehen, einschließlich dieser ganzen Beauftragten, die da rumlaufen und im Grunde genommen mehr Probleme schaffen, als sie jemals in der Lage sind zu lösen", so Merz.
Es könnte also durchaus sein, dass Pfarrer Dirk Bingener nach der Bundestagswahl erneut und vielleicht sogar noch lauter mehr Engagement für die Religionsfreiheit fordern muss.