Der lange Weg der Aufarbeitung

Katholische Kirche will bundesweiten Missbrauchsbericht vorlegen

Veröffentlicht am 19.10.2024 um 12:00 Uhr – Von Matthias Jöran Berntsen (KNA) – Lesedauer: 

Frankfurt ‐ Missbrauch in der katholischen Kirche und dessen Aufarbeitung bleiben auf der Tagesordnung. Im November soll es als Zwischenbilanz dazu einen ersten bundesweiten Bericht geben. Dennoch vergehen wohl noch Jahre bis zu einer Gesamtbilanz.

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Fast schon im Monatsrhythmus wird in einem der 27 deutschen Bistümer ein weiterer Missbrauchsbericht präsentiert. Kürzlich etwa ein Zwischenbericht im Bistum Osnabrück oder 2025 wieder der jährliche "P.I.A. Jahresbericht" im Bistum Trier, wobei die Buchstaben für Prävention, Intervention und Aufarbeitung stehen. Die in solchen Berichten aufgezählten Taten liegen oft Jahrzehnte zurück. Doch beim Thema Missbrauch in der katholischen Kirche wird es noch lange keinen Schlussstrich geben. Erst in zwei Jahren könnte es erstmals eine Gesamtbilanz geben – wenn es nach Kerstin Claus geht, der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung.

Eine sogenannte "Zwischenevaluation" soll jedoch bereits im November veröffentlicht – und darin die Arbeit der Aufarbeitungskommissionen der Bistümer dargestellt – werden. Bei einer Konferenz in Frankfurt wurde der Bericht jetzt diskutiert; Presse und interessierte Öffentlichkeit waren dabei jedoch nicht zugelassen. Zu der Konferenz eingeladen hatte der Bundesvorstand der Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der Bistümer. "Insgesamt sind 23 Unabhängige Aufarbeitungskommissionen in allen (Erz-)Diözesen aktiv", berichtete der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp. Alle 27 Bistümer seien darin vertreten, da einige gemeinsame Kommissionen mehrerer Bistümer ins Leben gerufen wurden. In den "meisten" Kommissionen, so Kopp weiter, arbeiten sowohl Fachleute als auch Betroffene.

Verbesserung der Arbeitsprozesse

Nach rund drei Jahren Arbeit haben die Kommissionen in Frankfurt ihre Erfahrungen ausgetauscht. Diese scheinen sehr verschieden zu sein. Kerstin Claus war bei dem Treffen dabei und sprach anschließend im Deutschlandfunk auch von Differenzen: "Die Kommissionen sind unterschiedlich gut ausgestattet – bezogen auf die Ressourcen." Unterschiede scheint es auch hinsichtlich der gesetzten Schwerpunkte zu geben; manche Aufklärungskommissionen scheinen sich vor allem Prävention und Intervention zu widmen. Claus kritisierte außerdem je nach Bistum unterschiedlich hohe Aufwandsentschädigungen für die Arbeit Betroffener in den Beiräten. Zahlreiche Betroffenenvertreter nahmen an der Konferenz teil; dort waren dem Vernehmen nach diese Summen auch ein Thema.

Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung
Bild: ©Barbara Dietl/UBSKM

Ziel müsse sein, dass sich alle Betroffenen auf vergleichbare Kriterien der Aufarbeitung verlassen könnten, meint Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.

Bereits im Vorfeld des Treffens hatte Claus im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) eine Verbesserung der Arbeitsprozesse in den Kommissionen nach bundesweit einheitlichen Standards angemahnt. Ziel müsse sein, dass sich alle Betroffenen auf vergleichbare Kriterien der Aufarbeitung verlassen könnten. In Teilen würden die Aufarbeitungskommissionen zwar "gut von ihrem Bistum unterstützt". Allerdings gebe es auch Bistümer, in denen die Zusammenarbeit noch nicht optimal gelinge, fügte die Beauftragte hinzu.

Aus Teilnehmerkreisen war zudem Kritik an einer Präsentation im Rahmen des Treffens zu hören. Unter anderem hieß es, die bisher vorliegende Datengrundlage für die Evaluation sei von einigen Beobachtern als "etwas undurchsichtig" wahrgenommen worden. Auch hätten bisher noch nicht alle 23 Kommissionen ausreichend Material geliefert. Zudem seien die gestellten Fragen nicht für alle einheitlich zu beantworten gewesen.Ein offizielles Pressestatement der Kommissionen zu den Erkenntnissen gab es nicht. "Ergebnisse der aktuellen Fachkonferenz werden in einem Tagungsband im November veröffentlicht", stellte Sprecher Kopp nach dem Treffen in Aussicht. Gemeinsam mit der Evaluation zur Aufklärungsarbeit.

Vereinbarung zwischen Kirche und Bund

Deren Basis ist eine mit dem damaligen Beauftragten der Bundesregierung Johannes Wilhelm Rörig vereinbarte "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland". Sie stammt aus dem Jahr 2020. Die katholische Kirche war die erste große Institution, die solch eine Vereinbarung mit dem Bund getroffen hat. Eine Vereinbarung, die auch von Missbrauchsbetroffenen beachtet wird. So stellten etwa Angela Marquardt und Karl Haucke vom Betroffenenbeirat der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung mit Blick auf die Aufklärung heraus, dass eine glaubwürdige Aufarbeitung nur zusammen mit den Betroffenen erfolgen könne: "Verstanden haben die diözesanen Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen die Notwendigkeit der Betroffenenbeteiligung."

Klare Erwartungen formulierte der bundesweite Zusammenschluss von Betroffenenbeiräten aus etlichen Bistümern schon im Vorfeld des Treffens: Für die Aufarbeitung seien mehr Transparenz, eine Begründungspflicht der Anerkennungsbescheide und eine sensiblere Erinnerungskultur notwendig. Das Handeln der Aufarbeitungskommissionen sowie der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) müsse nachvollziehbarer werden und Betroffene stärker beteiligt werden. Auch eine Karte der Orte, an denen Missbrauch stattfand, könnte nach Ansicht vieler Betroffenenbeiräte Teil aktiver Aufarbeitung sein und gesellschaftliche Auseinandersetzungen fördern. Straßen, Plätze oder Institutionen, die nach Tätern benannt wurden, müssten umbenannt werden. Ebenso sei der Umgang mit Kunstwerken oder mit Musik von Tätern zu hinterfragen.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Claus kritisierte außerdem je nach Bistum unterschiedlich hohe Aufwandsentschädigungen für die Arbeit Betroffener in den Beiräten.

Ob über all das in Frankfurt auch gesprochen wurde? Das war nicht zu erfahren. In jedem Falle müsse die unabhängige Aufarbeitung weitergehen, damit Betroffene "Mut finden, aus dem Dunkelfeld herauszutreten", betonte der Aachener Bischof Helmut Dieser im Rahmen der Konferenz. Zusammen mit Dieser leitet der Freiburger Erzbischof Stephan Burger die Fachgruppe der Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen. "Wir sind den Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen und allen mitwirkenden Betroffenen sehr dankbar für ihre Arbeit", erklärte Burger. Klar scheint auch, dass die Konferenz noch nicht alle offenen Fragen beantworten konnte. "Im Rahmen der Fachtagung wurden zentrale Fragen gestellt, die im nun folgenden Prozess dringend beantwortet werden müssen", sagte etwa das Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundes, Heiner Keupp, der KNA.

Neues Gesetz für 2025

"Wie kann eine echte institutionelle Unabhängigkeit der Kommissionen von der jeweiligen Diözese gesichert werden?", fragte der Sozialpsychologe weiter und ergänzte: "Ist es auf Dauer sinnvoll, die Kommissionen vom jeweiligen Diözesanbischof zu beauftragen?" Offen sei auch noch, wie die Erkenntnisse der Kommissionen zu konkreten Veränderungen in Bereichen führen können, in denen kirchliche Instanzen versagt haben und Angehörige im kirchlichen Dienst zu Tätern wurden. "Das Versagen der kirchlichen Strukturen beim Umgang mit den Verbrechen, die an Kindern und Jugendlichen durch Angehörige der Kirche begangen wurden, fordert eine unter staatlicher Kontrolle verpflichtende Aufarbeitung dieser Fälle von Systemversagen", ergänzte Keupp. Dies müsse gesetzlich geregelt werden.

Kerstin Claus kündigte  gegenüber KNA für 2025 ein neues Gesetz einer oder eines Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs an. Darüber werde derzeit im Bundestag beraten. Dieses Gesetz solle unter anderem Berichtspflichten zur Aufarbeitung und Ausführungen zur Dunkelfeld-Forschung enthalten. Währenddessen hat die Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch eine Online-Kampagne mit Kritik an den Bistumsleitungen gestartet. "Die Kirche nutzt juristischen Spielraum im bürgerlichen Zivilrecht im Abwehrkampf gegen höhere Entschädigungszahlungen aus", begründete Sprecher Matthias Katsch das Vorgehen. Die Folgen seien oft "Retraumatisierungen, weitere Abkehr von der Kirche und Hoffnungslosigkeit".

Weg zur Gesamtbilanz noch lang und steinig

Die Petition fordert unter anderem, dass Bistümer und Ordensgemeinschaften für Missbrauchstaten ihrer Priester und Ordensleute haften und nicht argumentieren, die sogenannte Amtshaftung gelte nur für den dienstlichen Bereich. Auch sollten sie bei lange zurückliegenden Taten auf die Einrede der Verjährung verzichten, um Schmerzensgeldprozesse vor Gerichten nicht zu verhindern. Der Eckige Tisch protestierte zwar in Frankfurt für sein Anliegen, war zur Konferenz selbst jedoch nicht zugelassen, so Kerstin Claus im kirchlichen Kölner Internetportal domradio.de. Bei einem "Vortreffen" hätten aber die Anliegen der Initiative hinterlegt werden können.

Der Weg bis zu einer Gesamtbilanz der Aufarbeitung ist also noch lang und steinig. Bis dahin werden wohl noch zahlreiche Berichte wie der "P.I.A." veröffentlicht werden. Dort schrieb der Trierer Bischof Stephan Ackermann im Jahresbericht 2022: "Dieser Prozess ist für viele nicht leicht. Denn wenn er ernsthaft angegangen wird, kommt eben auch vieles zu Tage, was ernüchtert, bestürzt und wütend macht." Ackermann hatte 2022 nach zwölf Jahren das Amt des Beauftragten der Bischofskonferenz für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Bischof Dieser und Erzbischof Burger abgegeben.

Von Matthias Jöran Berntsen (KNA)