Deutscher Auschwitz-Seelsorger plädiert für Vergebung im Ukraine-Krieg
Versöhnung zwischen Menschen in Deutschland und Polen, Christen und Juden: Das ist die Lebensaufgabe des Aachener Priesters Manfred Deselaers. Seit über 30 Jahren arbeitet er am katholischen Zentrum für Dialog und Gebet am Rand der Gedenkstätte Auschwitz im polnischen Oświęcim. Durch seine Erfahrungen in der Versöhnungsarbeit weiß er, wie schwer es ist, nach Krieg und Zerstörung über Vergebung zu sprechen. Trotzdem hat er mit Christinnen und Christen aus Deutschland, Polen und der Ukraine einen Offenen Brief an orthodoxe Russen geschrieben, der sie zu Umkehr, Bekehrung und Frieden aufruft. Im katholisch.de-Interview erklärt er, warum.
Frage: Herr Deselaers, was hat Sie dazu bewegt, den Brief zu verfassen?
Deselaers: Im Zusammenhang von Ausschwitz ist oft die Rede davon, dass es Täter, Opfer und eben auch Bystander gab, also Menschen, die bei einer Gewalttat tatenlos zu schauen. Ich fühle mich in Bezug auf die Ukraine und Russland so wie jemand, der danebensteht – aber ich will nicht so tun, als ging es mich nichts an. Lange habe ich überlegt, was ich als Manfred mit meinen Kontakten machen kann. Aus meinen Begegnungen mit Menschen aus der Ukraine und aus Russland ist die Idee des Briefes entstanden. Der Gedanke dahinter ist, nicht nur über Russland zu sprechen, sondern Christen in Russland direkt anzusprechen.
Frage: Was kann ein Brief über Versöhnung mitten im Krieg bewirken?
Deselaers: Wir dürfen nicht warten, bis der Krieg zu Ende ist. Ich kann meine Glaubensperspektive jetzt schon teilen. Es werden zu viele todbringende Raketen über Grenzen geschossen, es fehlen lebenspendende Botschaften. Der Brief allein wird den Krieg zwar nicht beenden, aber er kann die Atmosphäre vielleicht mehr beeinflussen als Millionen von Dollar für neue Waffen.
„Viele Menschen spüren, wie gefährlich der Hass ist, der aus der ganzen Vernichtung und Zerstörung entsteht.“
Frage: Was wollen Sie den russischen Christen mit diesem Brief sagen?
Deselaers: Die entscheidende Frage des Krieges ist nicht, wohin Waffen abgeschossen werden, sondern warum Waffen abgeschossen werden. Die russisch-orthodoxe Kirche bezeichnet diesen Krieg als "heiligen Krieg". Es sei die "Verteidigung des heiligen Russlands" vor dem "satanischen Westen". Als Christ sage ich, dass diese Begründung falsch ist. Mit ihr wird das Christentum selbst zerstört. Ich möchte den russischen Lesern sagen: Rettet das Christentum in Russland. Lasst es euch durch die Instrumentalisierung in diesem Krieg nicht wegnehmen. Seid gewiss, dass wir euch in eurem christlichen Engagement auf der Suche nach Wegen zum Frieden unterstützen. Wir glauben daran, dass langfristig ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Das ist unser christlicher Glaube.
Frage: Wie kann es Vergebung zwischen Russen und Ukrainern geben?
Deselaers: Vergebung hängt immer mit Schuld zusammen, die die Beziehung zerstört hat. Damit eine Beziehung wieder heilen kann, ist es wichtig, die Schuld zu bekennen und das zugefügte Leid ernst zu nehmen. Ohne die Dinge beim Namen zu nennen und ohne zu der eigenen Verantwortung zu stehen, gibt es keine echte Versöhnung. Das gilt auch für den Brief. Wir haben sehr direkt geschrieben, wie wir auf die Lage in der Ukraine schauen: Dieser Krieg wird von Russland geführt, um die Selbstständigkeit der Ukraine zu vernichten. Das wirkt für uns wie ein Völkermord, der täglich Leben kostet. Aber trotzdem wollen wir die Hand zu einer möglichen Versöhnung reichen.
Frage: Sind die Menschen in der Ukraine überhaupt bereit, über Vergebung zu sprechen?
Deselaers: Ich war selbst überrascht, wie oft und wie sehr ich diesem Thema bei Besuchen in der Ukraine begegnet bin. Erst letztens wurde ich zu einer Konferenz von römisch-katholischen Christen in Lwiw eingeladen, um einen Vortrag über Vergebung zu halten. Ich fand es sehr beeindruckend, während des Krieges über Vergebung reden und nachdenken zu wollen. Viele Menschen spüren, wie gefährlich der Hass ist, der aus der ganzen Vernichtung und Zerstörung entsteht. Das macht auch die Hassenden krank. Die Perspektive der Vergebung offen zu halten und zu sehen, dass nicht alle Russen gleich schuldig sind, ist sehr wichtig. Der Glaube an Versöhnung ist eine Kraft, die wir zum Friedenschaffen brauchen.
Frage: Woher ziehen Sie diese Hoffnung nach über 1.000 Tagen Krieg?
Deselaers: Die Hoffnung kommt aus meinem Glauben und aus meinen Begegnungen. Ich war selbst in den letzten drei Jahren dreimal in Russland und dreimal in der Ukraine. Beim Gedanken an beide Seiten habe ich konkrete Menschen im Kopf. Ein Krieg hat immer menschliche Gründe. Und Menschen können sich verändern. Das geht nicht schnell und auch nicht einfach. Aber so ein Prozess ist möglich. Der zweite Weltkrieg hat länger als drei Jahre gedauert. Dennoch hat die deutsch-polnische oder auch die christlich-jüdische Beziehung wieder eine neue Basis gefunden. Das erhoffe ich mir auch für die russisch-ukrainische Beziehung, die für uns in Europa von zentraler Bedeutung ist.
Frage: Was für Rückmeldungen haben Sie auf den Brief bekommen?
Deselaers: Bisher sind die Reaktionen erstaunlich positiv. Vor allem war mir wichtig, auch die Meinung von Ukrainern zur Initiative zu hören. Meine Gesprächspartner haben mir gesagt, dass sie den Brief unterstützen. Das hat mich ermutig, den Brief zu veröffentlichen. Sogar ein russischer Priester hat mir erzählt, dass er den Brief in seinem Bekanntenkreis weiter verteilen möchte. Besonders überrascht hat mich dann, dass auch einige Menschen aus Russland den Brief unterschrieben haben.
Frage: Wie soll es mit dem Brief weitergehen?
Deselaers: Ich hoffe, dass der Brief bekannter wird und Unterstützer findet. In Deutschland, Polen und in der Ukraine gibt es viele, die keine ewige Feindschaft wollen. Das muss in Russland gehört werden. Zusammen sollten wir Christen die Welt auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens gestalten. Dafür ist aber wichtig, dass viele diese Idee weitertragen.
Der Offene Brief
Den vollständigen Brief finden Sie hier.