Religionspädagogin über missbräuchliches Verhalten in der Gemeindepastoral

"Du verschenkst Deine Berufung": Wenn Katecheten übergriffig werden

Veröffentlicht am 07.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Katechese stand bisher kaum im Fokus der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Doch auch hier kann es Grenzverletzungen geben – bisweilen sogar unbewusst, erklärt Religionspädagogin Judith Könemann im katholisch.de-Interview.

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Seit rund 15 Jahren ist die katholische Kirche in Deutschland mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals beschäftigt. Ein Bereich, der bisher weniger im Fokus stand, ist die Katechese. Auch in Erstkommunion- oder Firmvorbereitung geschieht wohl Missbrauch, sagt die Judith Könemann im Interview mit katholisch.de. Sie ist Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Damit rückt eine ganz neue Tätergruppe ins Visier: die Laien. Doch noch gibt es wenig gesicherte Erkenntnisse.

Frage: Frau Könemann, findet das Feld der Katechese in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals ausreichend Beachtung?

Könemann: Die bisherigen Studien zum sexuellen Missbrauch richteten sich auf das Handeln von Klerikern in der Pastoral. Dabei rückte vor allem die Messdienerarbeit in den Fokus. Die Katechese stand bisher nicht explizit im Vordergrund, wahrscheinlich auch, weil sie heute überwiegend von Laien gestaltet wird.

Judith Koenemann im Portrait
Bild: ©privat

Judith Könemann ist Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Frage: Wo in Katechese und Pastoral ist die Gefahr von Übergriffen besonders groß? Wie sieht es zum Beispiel bei Erstkommunion- und Firmvorbereitung aus?

Könemann: Beides sind Felder, in denen es zu Missbrauch kommen kann und vermutlich auch kommt. Das schließt sexuellen wie geistlichen Missbrauch ein. Bisher gibt es dazu aber keine belastbaren Zahlen. Ein Feld, das inzwischen größere Beachtung findet, ist die geistliche Begleitung, die ja vor allem Erwachsene in Anspruch nehmen. Geistliche Begleitung setzt die Öffnung des Inneren dessen, der oder die Begleitung sucht voraus und ist von daher hochgradig anfällig für Missbrauch.

Frage: Wie groß oder verbreitet ist das Problem von Grenzüberschreitungen in der Katechese – handelt es sich um Einzelfälle oder gibt es auch grenzverletzende Strukturen?

Könemann: Wie schon gesagt, wir haben wenig genaue Kenntnis von missbräuchlichem Verhalten in der Katechese. Für die Katechese gelten aber letztlich die gleichen Strukturen wie in anderen Feldern, die durch bisherige Studien bereits untersucht wurden: Wir haben auch hier das Phänomen des Klerikalismus. Hinzu kommt, dass Eltern ihre Kinder über lange Zeit im guten Glauben kirchlichen Mitarbeitern anvertraut haben. Gläubige, auch Kinder und Jugendliche, gehen zunächst einmal davon aus, dass der Pfarrer oder Katechet vertrauenswürdig ist, billigen ihnen eine hohe Kompetenz und Autorität zu. Dieses strukturell asymmetrische Machtverhältnis trägt die Anfälligkeit für Missbrauch in sich

Frage: Sie haben es schon erwähnt: die Sakramentenkatechese wird in der Regel von Laien durchgeführt. Sind diese ausreichend auf diese Situation vorbereitet?

Könemann: Im Bereich der Prävention und Bewusstseinsbildung gibt es sicher noch einen großen Fortbildungsbedarf. Seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals sind für die Pfarrseelsorge institutionelle Schutzkonzepte entwickelt worden, die Schulungen für alle vorsehen, die in der Jugendarbeit und Katechese tätig sind. Inwieweit diese Konzepte allerdings schon flächendeckend entwickelt und in die Realität umgesetzt werden, ist eine zweite Frage. In der Präventionsarbeit ist noch viel zu tun – vor allem, was den spirituellen Missbrauch angeht. Dieses Feld ist bisher nur wenig im Bewusstsein, zumal hier – anders als beim sexuellen Missbrauch der gesellschaftliche Druck fehlt. Außerhalb der Kirche wissen die wenigsten, was geistlicher Missbrauch überhaupt ist. Bei spirituellem Missbrauch wird psychischer Druck religiös legitimiert. Sätze wie "Gott hat mir gesagt was gut für dich ist" – gibt es im Sportverein nicht, wohl aber in der Katechese.

Frage: Was sind Beispiele für Grenzverletzungen in Firm- oder Kommunionvorbereitung?

Könemann: In der Firmvorbereitung oder auch der Jugendarbeit allgemein gibt es immer wieder Fälle von überengagierten Katecheten und Katechetinnen, die die Jugendlichen vehement davon überzeugen wollen, Priester zu werden oder einem Orden beizutreten. Hier muss man unterscheiden: Natürlich ist es vollkommen legitim, das einmal zur Sprache zu bringen. Missbräuchlich wird es, wenn einengende Formulierungen verwendet werden, die nicht mehr die freie Entscheidung des Gegenübers zulassen – Sätze wie "Du verschenkst Deine Berufung" oder "Du wirst nicht glücklich werden in Deinem Leben". Ein anderes Beispiel ist die Erstkommunionvorbereitung, zu der ja auch die Beichte gehört. Heute wissen wir, dass die Beichte einer der anfälligsten Orte für Missbrauch ist. Wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Kind im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung zur Beichte geht und der Pfarrer dann bestimmt, es von der Erstkommunion auszuschließen, ist das nicht in Ordnung. Damit nutzt der Priester seine Autorität, um darüber zu entscheiden, wer welches Sakrament empfangen darf und wer zu welchem Sakrament zugelassen wird. Generell darf eine Katechese nie so gestaltet sein, dass sie den Teilnehmenden Angst macht. Aber auch das gibt es.

„Erstkommunion- und Firmvorbereitung sind Felder, in denen es zu Missbrauch kommen kann und vermutlich auch kommt. Das schließt sexuellen wie geistlichen Missbrauch ein.“

—  Zitat: Judith Könemann

Frage: Passieren solche Übergriffigkeiten immer bewusst?

Könemann: Es gibt nicht nur vorsätzliches grenzverletzendes oder missbräuchliches Handeln, manches geschieht auch unbewusst oder aus Gedankenlosigkeit. Paternalistische oder maternalistische Muster können sich in die Katechese einschleichen  – das betrifft ja auch Frauen. Menschen werden übergriffig, in der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun. Beispiel Trösten: Dabei jemanden in den Arm zu nehmen, ist sicherlich gut gemeint, aber passiert möglicherweise ohne zu prüfen, ob das Gegenüber das auch in diesem Moment möchte. Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene, wenn sie in einer schwächeren Position sind, lassen es eher über sich ergehen als davon zu profitieren.

Frage: Es gab nach dem letzten Weltjugendtag Berichte, dass jungen Leuten die Mundkommunion sozusagen aufgezwungen wurde...

Könemann: In dem Moment, in dem ein Priester die Handkommunion verweigert, greift er in die freie Entscheidung des Gegenübers ein. Das geht aus meiner Sicht nicht. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel aber auch, dass Grenzverletzungen im Kleinen oder auch in Grauzonen beginnen. Vor allem spiritueller Missbrauch ist in seinen Anfängen manchmal schwer zu greifen. Es mag Worte geben, die der eine schon als übergriffig empfindet, der andere aber nicht.

Frage: Wie können Jugendliche oder auch Eltern das Thema proaktiv ansprechen, zum Beispiel vor der Fahrt eines Kindes in eine kirchliche Ferienfreizeit? 

Könemann: Eltern oder auch Jugendliche sollten das ganz unbedingt im Vornhinein ansprechen: Was sind hier die Standards, was ist das Schutzkonzept? Das alte Muster war es zu sagen: Das ist Kirche, das wird schon alles gut gehen. Heute sollten Eltern deutlich machen: Wir sind sensibilisiert, wir möchten, dass es klare Regeln gibt, wie mit den Kindern umgegangen wird. Eltern oder auch Jugendliche sollten das noch viel häufiger ganz klar einfordern.

Frage: Die Kirche ist jetzt seit fast 15 Jahren mit der Aufarbeitung des Missbrauchs beschäftigt. Warum wurde ein großes Feld wie die Katechese bisher nicht stärker beachtet?

Könemann: Der Fokus der Aufarbeitung lag richtigerweise zunächst einmal bei Geistlichen als Tätern. Damit rückten Betroffene in den Vordergrund, mit denen Priester viel im Kontakt stehen, zum Beispiel Messdienerinnen und Messdiener. Die klassischen Bereiche der Katechese – Firm- oder Erstkommunionvorbereitung, aber auch der Bibelkreis für Erwachsene – waren da zunächst einmal nicht explizit im Blick. Mit der Aufarbeitung des spirituellen Missbrauchs rücken nun auch andere Gruppen von Betroffenen in den Fokus: junge Erwachsene, Frauen, Ordensfrauen und geistliche Gemeinschaften. Damit weitet sich auch der Blick für mögliche Felder des Missbrauchs. Und auf der Seite der Beschuldigten stehen nicht mehr nur Kleriker, sondern auch männliche wie weibliche Laien oder Ordensangehörige.

Von Gabriele Höfling