Was Pfarrer in der Predigt sagen dürfen – und was nicht
Es war der erste kirchliche Aufreger des noch jungen Jahres: Mitte Januar wurde bekannt, dass der Erdinger Stadtpfarrer Martin Garmaier nach einer AfD-kritischen Predigt von einem pensionierten Polizisten wegen Volksverhetzung und übler Nachrede angezeigt worden war. Der Mann, der der AfD nahestehen soll, begründete seine Anzeige laut Medienberichten unter anderem damit, dass der Pfarrer die AfD, deren Bundessprecherin und Kanzlerkandidatin Alice Weidel und damit auch die Mitglieder und Anhänger der Partei auf eine Stufe mit Terroristen gestellt und sie unverhohlen als Verbrecher tituliert habe.
Garmaier hatte in seiner Silvesterpredigt in einem Rückblick auf das Jahr 2024 unter anderem den Terroranschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt und die Reaktionen darauf thematisiert. Konkret äußerte sich der Geistliche dabei kritisch über Weidel und "viele andere", die den Anschlag, bei dem sechs Menschen getötet worden waren, für ausländerfeindliche Stimmungsmache genutzt hätten, obwohl solche Taten in Deutschland keineswegs nur von Ausländern begangen würden. Wörtlich fügte der Priester an: "So werden sie auf ihre Weise zu Verbrechern. Zu Verbrechern an unserer Gesellschaft."
Haben Priester ein besonders weitgehendes Äußerungsrecht?
Die Auseinandersetzung – übrigens nicht die erste zwischen Garmaier und dem Mann, wie der Pfarrer in einem Interview mit katholisch.de erläuterte – warf einmal mehr die Frage auf, was Pfarrer in ihren Predigten sagen dürfen und was nicht. Haben Priester etwa aufgrund des Grundrechts der Religionsfreiheit ein besonders weitgehendes religiöses Äußerungsrecht? Oder unterliegt auch ihre priesterliche Meinungsäußerungsfreiheit Grenzen?
Die kurze Antwort: Vor dem Gesetz sind auch katholische Geistliche normale Bürger, für die mit Blick auf die Meinungsfreiheit Artikel 5 des Grundgesetzes maßgeblich ist: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten." Anders als mitunter etwa von Querdenkern oder anderen Schwurblern behauptet, gilt das Grundrecht der Meinungsfreiheit jedoch nicht schrankenlos. "Auch die Meinungsfreiheit ist an Grenzen gebunden – insbesondere dann, wenn es sich um strafbare Äußerungen etwa im Sinne einer Volksverhetzung handelt", erläutert der stellvertretende Vorsitzende der Bundes Katholischer Rechtsanwälte, Sven-Joachim Otto, im Gespräch mit katholisch.de – und verweist auf den mitunter wenig beachteten zweiten Absatz von Artikel 5: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre."
Dass auch Geistliche sich in ihren Predigten diesen Schranken beugen müssen, wurde 2011 sogar höchstrichterlich bestätigt. Damals stellte das Bundesverwaltungsgericht in einem Beschluss fest, dass die religiöse Äußerungsfreiheit – auch wenn es um Äußerungen in einer Predigt gehe – "keinen absoluten Vorrang vor den Belangen des Persönlichkeits- und Ehrenschutzes" genieße (BVerwG 7 B 41.11). Bei der gebotenen Abwägung des religiösen Äußerungsrechts mit "widerstreitenden Belangen", so die Bundesrichter, seien insbesondere die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Ausgleich von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht entwickelten Gesichtspunkte heranzuziehen, die Kriterien und Vorzugsregeln für die konkrete Abwägung vorgäben.
Bischof Müller gegen Kirchenkritiker Schmidt-Salomon
Im konkreten Fall ging es um eine Predigt, die der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller im Mai 2008 gehalten hatte. Darin hatte Müller über eine "neue aggressive Gottlosigkeit" gesprochen, die sich nur zum Schein auf die Wissenschaft berufe, und in diesem Zusammenhang den kirchenkritischen Autor Michael Schmidt-Salomon und dessen Thesen angegriffen. Dieser legitimiere Kindstötungen, Abtreibung und therapeutisches Klonen, indem er durch einen Verweis auf den Naturtrieb von Berggorillas diese Verhaltensweisen als nicht verwerflich darstelle, so Müller. Das Problem: Anders als von Müller suggeriert hatte Schmidt-Salomon die ihm unterstellten Aussagen nicht getätigt, sondern das Verhalten der Berggorillas in einem Buch sogar im Gegenteil als "für unsere Vorstellungen zutiefst unethisch" bezeichnet. Der Vorstandssprecher der humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung klagte daraufhin auf Unterlassung.
„Wenn es in einer Predigt um die Auslegung des Alten oder Neuen Testaments oder um einen Heiligen geht, dann reicht das Recht zur freien Meinungsäußerung bei Priestern sehr weit.“
Es folgte eine juristische Auseinandersetzung in drei Akten und Instanzen, die der Rechtsanwalt David Ziegelmayer 2011 für das juristische Onlineportal "Legal Tribune Online" genauer nachgezeichnet hat. Nachdem das Bistum im ersten Akt vor dem Verwaltungsgericht Regensburg noch gewonnen hatte, entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im März 2011 zugunsten von Schmidt-Salomon. Zur Begründung führte das Gericht an, dass auch Prediger in der Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Gegnern korrekt zitieren müssten. Falsche Tatsachenbehauptungen zu Lasten Dritter seien nicht durch die religiöse Äußerungsfreiheit gedeckt. Betroffene müssten eine unrichtige, verfälschte oder entstellte Wiedergabe ihrer Äußerungen nicht hinnehmen. Wie die Medien hätten Religionskörperschaften eine gesteigerte Verantwortung. Sie seien zwar nicht zur Neutralität verpflichtet, aber zur Wahrung von Sorgfalt, Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit.
Das Bistum Regensburg sah in dem Urteil einen erheblichen Eingriff in die Meinungsfreiheit und speziell in das Verkündigungsrecht. Der Verwaltungsgerichtshof habe der im Grundgesetz garantierten religiösen Äußerungsfreiheit unzulässige Grenzen gesetzt. "Das darf und kann die Kirche nicht hinnehmen", so die Diözese. Nur wenn die religiöse Äußerungsfreiheit auch in der allgemeinen Rechtsprechung geschützt werde, könne eine Predigt anlassbezogen, in freier Rede und als persönliches Glaubenszeugnis vorgetragen werden. Die vom Bistum beantragte Revision gegen das Münchner Urteil wurde dann jedoch im dritten und letzten Akt der Auseinandersetzung vom Bundesverwaltungsgericht mit seinem Beschluss vom August 2011 abgeschmettert.
Recht zur freien Meinungsäußerung bei Priestern geht "sehr weit"
Laut Rechtsanwalt Otto ist eine Lehre aus dem Beschluss, dass Aussagen von Geistlichen umso mehr geschützt sind, je näher sie der eigentlichen Religionsausübung stehen. "Wenn es in einer Predigt um die Auslegung des Alten oder Neuen Testaments oder um einen Heiligen geht, dann reicht das Recht zur freien Meinungsäußerung bei Priestern sehr weit", so der Anwalt. Bei politischen Aussagen liege der Fall anders, da man hier "eine gewisse Entfernung" vom Kernbereich der Religionsausübung unterstellen müsse. Letzteres gelte sicher auch für die "sehr pointierte Äußerung" von Pfarrer Garmaier, die deshalb ein Grenzfall sei.
Und doch: Gänzlich unpolitisch müssen Predigten nicht sein – auch nicht aus Sicht der Kirche selbst. Zwar heißt es in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" einerseits, dass die Kirche "in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden" dürfe und Politik und Kirche "voneinander unabhängig und autonom" seien. Wenige Sätze danach macht das Dokument aber klar, dass die Kirche immer und überall das Recht in Anspruch nehme, "in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen".
Der Homiletiker Thomas Vogl äußerte sich vor einem Jahr in einem katholisch.de-Interview ähnlich: "Es gibt immer wieder die Kritik, eine Predigt dürfe nicht politisch sein. Das stimmt so aber nicht: Christ sein bedeutet eben auch, Werte zu vertreten, die uns von der Botschaft Jesu her anvertraut sind und damit ist auch immer eine Positionierung in der Welt verbunden." Insofern seien Predigten zu aktuellen Ereignissen in Kirche, Gesellschaft und Politik legitim. Allerdings sollten diese "kein Sprachrohr für persönliche Meinungen sein, die darüber hinausgehen oder gar gegen das Grundgesetz wären".
Predigt als Teil des legitimen politischen Meinungskampfes?
Im Fall des Erdinger Stadtpfarrers argumentiert Anwalt Otto, dass man dessen Predigt dem legitimen politischen Meinungskampf zurechnen könne, bei dem Zuspitzungen durchaus erlaubt seien, sofern niemand in seiner Ehre herabgewürdigt werde. In diesem Zusammenhang komme es entscheidend auf die Bewertung des Begriffs "Verbrecher" an, den der Geistliche in seiner Predigt benutzt hatte. Allerdings könne man sicher mit guten Gründen unterstellen, "dass der Pfarrer diesen Begriff nicht im wortwörtlichen Sinne verwendet hat, so als ob Frau Weidel wirklich ein strafbares Verbrechen vorgeworfen hätte, sondern eher als Zuspitzung". Unangreifbarer wäre es nach Ansicht des Anwalts aber gewesen, wenn der Pfarrer auf die Verwendung des Begriffs "Verbrecher" verzichtet hätte. "Wenn er etwa gesagt hätte, dass sich Frau Weidel mit ihrer Reaktion auf den Terroranschlag an Migranten versündigt hat, wäre das aus juristischer Sicht völlig unproblematisch gewesen", sagt Otto.
Mit Blick auf die Anzeige rät der Anwalt Pfarrer Garmaier dennoch zu Gelassenheit. Er gehe davon aus, dass dessen Aussagen in der Silvesterpredigt von der Meinungsfreiheit gedeckt seien und nicht den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllten. „Wenn ich Staatsanwalt wäre und diesen Fall zu bearbeiten hätte, würde ich keine Strafe für den Pfarrer fordern", so Otto. "Ich würde sagen, dass seine Äußerung hinzunehmen ist."