Deutscher Diakon auf Lesbos: Flüchtlinge sind mehr als nur eine Nummer

Der Plan, Diakon zu werden, schien für Günther Jäger zunächst nicht realisierbar. Noch während seiner Berufstätigkeit in München begann er in Würzburg ein Theologiestudium im Fernkurs. Ein schwerer Unfall kam dazwischen, das Studium musste abgebrochen werden. Jahre vergingen, doch er fand keine Ruhe und versuchte es erneut. Die Erzdiözese München lehnte ihn wegen seines Alters ab, doch ein späterer Umzug nach Passau machte einen neuen Anlauf möglich. Der Passauer Bischof Stefan Oster ließ ihn schließlich mit 63 Jahren zum Diakon weihen. Was er danach machen wolle, fragte ihn Oster. An die Ränder gehen, antwortete Jäger. Der Aufruf von Papst Franziskus habe den heute 69-Jährigen besonders berührt. Er nahm die Worte wörtlich und landete schließlich über Umwege auf der griechischen Insel Lesbos, wo er sich in der Flüchtlingshilfe engagiert. Das eigens mit Flüchtlingen hergestellte Olivenöl, das bei den Chrisammessen in Passau und München verwendet wird, ist eine Geschichte für sich, über die er im Interview mit katholisch.de spricht.
Frage: Herr Jäger, Sie wollten als Diakon mehr als nur in der Liturgie das Evangelium verkünden. Für mehrere Wochen sind Sie nach Lesbos geflogen, um im Flüchtlingslager zu helfen. Wie kam es dazu?
Jäger: Schon lange vor meiner Weihe zum Diakon habe ich mir überlegt, was ich anschließend tun werde und wie und wo ich mich als Diakon sehe. Ich habe mit meinem Bischof darüber gesprochen und ihm gesagt, was mich bewegt. Da ist der Satz aus dem Jakobusbrief, der mich bis heute bewegt und anspornt: "Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst!" (Jak 1,22). Des Weiteren hat mich die Aussage von Papst Franziskus zu Beginn seines Pontifikats sehr berührt: "Ich möchte, dass die Kirche an die Ränder geht." So wichtig und schön für mich die Arbeit in der Pfarrei auch ist, ich wollte an die Ränder gehen und bin am Ende auf der Insel Lesbos gelandet.
Frage: Wie oft sind Sie auf Lesbos?
Jäger: Seit Mai 2021 bin ich in jährlich in regelmäßigen Abständen insgesamt 15 bis 20 Wochen auf Lesbos. Seit Herbst 2021 bin ich auch Mitglied der Münchner Hilfsorganisation "Support International e.V." und verantwortlich für die Aktivitäten auf der Insel Lesbos. Hier arbeiten wir mit der dort ansässigen Hilfsorganisation "Home for all" zusammen. Wir versorgen kranke Flüchtlinge im Camp mit unserem täglich gekochten Essen. Außerdem besuche ich die Menschen regelmäßig in ihren Unterkünften, um mir ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Wir lachen und weinen zusammen. Manchmal kann man auch nur die Hand des anderen halten – und auch das ist oft schon eine große Hilfe. Für mich sind diese Menschen nicht nur eine Flüchtlingsnummer.
Frage: Sie helfen nicht nur mit Essen …
Jäger: Ja, wir wollen mehr tun, als ihnen im Lager "nur" mit Essen zu helfen. Wir begleiten sie auch zum Arzt oder organisieren medizinische Hilfe, wenn es nötig ist. Aber für uns gehört noch mehr dazu. Deshalb haben wir Anfang/Mitte 2022 zwei Projekte gestartet – eins davon die biologische Landwirtschaft. Dafür konnte "Home for All" ein fünf Hektar großes Grundstück günstig erwerben. Aus dem Brachland wurde innerhalb von zwei Jahren eine blühende Landwirtschaft mit biologischem Gemüseanbau. Dann haben wir gesagt, wir wollen die Flüchtlinge bei uns anstellen, damit sie Geld verdienen und sich ein eigenständiges Leben aufbauen können, um sich und ihre Familien zu versorgen.

Diakon Günther Jäger beim Besuch von Familien im Camp.
Frage: Wie viele Menschen haben eine Arbeit bei Ihnen?
Jäger: Heute arbeiten acht Flüchtlinge bei uns. In unserem Projekt "Home Village" haben wir ebenfalls begonnen, unser eigenes Olivenöl zu produzieren. Dazu wurden zunächst einige Olivenhaine in den Bergen von Lesbos gepachtet. Um jedoch von den Pachtflächen unabhängig zu werden und die Pachtkosten zu sparen, haben wir seit 2022, mit Hilfe von Spenden, auf der Bio-Farm bisher etwa 1.000 junge Olivenbäume gepflanzt. Eine bescheidene Ernte hatten wir bereits in diesem Winter.
Frage: Wie geht die Arbeit voran?
Jäger: Seit dieser Saison können wir auch unser eigenes Olivenöl herstellen. Wir haben nun die Möglichkeit, von der Olive am Baum bis zum Öl in der Flasche alles selbst in der Hand zu haben und unser bio-zertifiziertes Olivenöl mit den Flüchtlingen selbst herzustellen. Der Verkauf dieses Olivenöls, der auch schon in Deutschland angelaufen ist, hilft uns, unsere Geflüchteten für ihre Arbeit zu bezahlen.
Frage: Stichwort Olivenöl: Letztes Jahr wurde dieses Olivenöl aus der Flüchtlingshilfe in der Diözese Passau bei der Chrisammesse an Gründonnerstag verwendet. Wie sieht es in diesem Jahr aus?
Jäger: Was mich sehr freut, ist, dass uns der Bischof von Passau enorm unterstützt. Er ist von dem Projekt sehr angetan. So dürfen wir auch in diesem Jahr wieder unser Bio-Olivenöl für die Weihe der Heiligen Öle in der Missa Chrismatis nach Passau liefern. Zum ersten Mal auch in die Erzdiözese München-Freising. Dafür sind wir alle sehr, sehr dankbar.

Diakon Günther Jäger mit Josif Printesis, dem Erzbischof von Naxos, Andros, Tinos und Mykonos.
Frage: Für die Zukunft war ein größeres Zelt in der Nähe des Flüchtlingslagers geplant, in dem Gottesdienste stattfinden sollten. Wie weit sind die Planungen?
Jäger: Es gibt ein Gemeindeleben vor Ort, also in der Hauptstadt von Lesbos. Dort gibt es eine kleine katholische Gemeinde, in der sonntags Gottesdienst gefeiert wird. Leider ist nicht immer ein Priester da, deshalb gibt es viele Wortgottesdienste, zu denen auch Flüchtlinge aus dem Lager kommen. Vor kurzem war auch Josif Printesis, der Erzbischof von Naxos, Andros, Tinos und Mykonos und Apostolischer Administrator der Diözese Chios bei uns und hat mit uns Gottesdienst gefeiert. Anschließend wollte er sich, wie jedes Jahr, die Landwirtschaft und unsere Olivenproduktion anschauen und war sehr angetan.
Frage: Und die Gottesdienst-Situation …
Jäger: Leider werden wir auch in Zukunft kein Zelt dafür aufstellen können. Das ist sehr schwierig, weil wir mit der Religiosität im Camp aufpassen müssen. Aber was wir machen, und da sind wir gerade dran, ist, dass es in der Nähe des Camps leerstehende Räume gibt, die wir versuchen anzumieten, um dort eben unsere Gottesdienste feiern zu können. Damit die Flüchtlinge nicht immer in die Stadt fahren müssen, die etwa drei Kilometer entfernt ist.
Frage: Nehmen denn auch Flüchtlinge anderer Religionen an den Gottesdiensten teil?
Jäger: Das hatten wir immer wieder, aber da bin ich sehr vorsichtig. Wir hatten einmal zwei Muslime, die es so schön bei uns fand. Die wollten dann, dass ich sie mitnehme, und das habe ich auch gemacht. Sie waren sehr angetan - nicht nur von den Liedern, sondern auch von den Gebeten. Die muslimischen Flüchtlinge müssen natürlich sehr aufpassen, dass sich das im Lager nicht herumspricht. Sonst könnte es Repressalien gegen sie geben, denn es gibt auch eine Moschee, in der gebetet wird. Trotzdem: Es kommen ab und zu solche Anfragen, und dann nehme ich sie gerne mit.
„Niemand den ich kenne, hat aus Jux und Tollerei seine Heimat verlassen. Alle haben dramatische Situationen hinter sich.“
Frage: Wie viele Flüchtlinge halten sich derzeit im Camp auf?
Jäger: Bei meiner Heimreise Ende Oktober 2024 waren etwa 1.300 Flüchtlinge im Lager. Als ich am 3. Februar 2025 Februar wieder gekommen bin, waren es etwa 4.000. Es kommen sehr, sehr viele Menschen über das Meer aus der Türkei. Im Moment ist die Situation schlimm, weil so viele Menschen da sind, sehr viele Kinder und auch einige Behinderte, um die ich mich gerade besonders kümmere.
Frage: Können Sie von einer Begegnung erzählen?
Jäger: Ich habe täglich viele Begegnungen im Flüchtlingslager, die mich oft sehr nachdenklich machen – wie die kleine Beheshta. Einmal war ich mit unserem Versorgungsfahrzeug im Camp unterwegs und musste halten, weil ein Vater mit seiner kleinen Tochter die Straße überquerte. Mit beiden Händen versuchte er sie zu halten. Dann blickte er zu mir – mit einem versuchten Lächeln, mehr aber einem verzweifelten Lächeln. Später erzählte er mir, sie mussten Afghanistan verlassen, weil sie die damals 12-jährige Tochter nicht einem Taliban-Krieger zur Frau geben wollten und dafür mit dem Tode bedroht wurden. Mit den beiden Kindern und der Großmutter waren sie 12 Monate auf der Flucht. Die jüngste Tochter kann von Geburt an nicht laufen, hat keine Muskeln an Beinen und Armen. Sie ist schwer behindert und unterwüchsig, muss mehrmals täglich von der Mutter zur Toilette getragen werden. Die Mutter aber kann nicht mehr … Die Familie ist verzweifelt, weil ihnen niemand hilft.
Frage: Was haben Sie dann getan?
Jäger: Ich habe am nächsten Tag von Spendengeldern einen geeigneten Buggy gekauft. Nun kann die Mutter ihr Kind ohne Mühe auch über die steinigen Wege im Lager schieben. Behesta ist auch unterernährt… Jetzt bekommt sie täglich gesundes und frisches Essen. Alle sind so dankbar und froh, dass sie nicht allein gelassen werden. Jeden zweiten Tag besuchte ich die Familie. Sie sind jetzt irgendwie auch meine Familie geworden. Ein anderes Beispiel: Bei meiner täglichen Runde kam ein Mann auf mich zu und bat um Hilfe für seinen Mitbewohner. Der hatte tagelang nichts gegessen und getrunken, keinen Arzt gesehen und konnte so wohl nicht überleben. Wir haben dann einen Polizisten angesprochen und innerhalb von zwei Stunden war ein Arzt da, der den Mann mit Medikamenten versorgt hat.

Diakon Günther Jäger mit Flüchtlingen auf Lesbos.
Frage: Lebt der Mann noch?
Jäger: Als ich ihn einige Tage später besuchte, war er wieder auf den Beinen. Er war voller Freude, umarmte mich und lud mich in die Unterkunft ein. Wir haben zusammen gefeiert und gegessen. Der Mann ist aus Gaza. Alles, was er hatte, ist zerstört. Sein Sohn wurde getötet und er wusste nicht mehr weiter. Er ist dann mit anderen über Ägypten und die Türkei nach Lesbos geflohen und versucht jetzt, sich irgendwie durchzuschlagen. Einen anderen Familienvater aus Gaza haben wir eingestellt. Er ist der achte Mitarbeiter, dem wir ermöglicht haben, bei uns zu arbeiten und sein Leben wieder aufzubauen. Im Moment arbeiten wir daran, seine Familie, die noch in Ägypten ist, hierher zu holen.
Frage: Sie sind also eine Art Zufluchtsort für Menschen …
Jäger: Es geht nicht um mich. Ich will mich nicht in den Vordergrund drängen. Es geht darum, zu den Menschen zu gehen, aber nicht nur Essen zu bringen und wegzugehen. Wie ich schon sagte, Zeit schenken und den Menschen wieder ihre Würde geben. Viele brauchen jemanden, mit dem sie reden können. Für viele ist es schon eine große Hilfe, wenn man ihnen zuhört, wenn man sich in den Arm nehmen kann. Und wenn dann die Muslima sagt - Bitte segne mich! - und ich darf einer Muslima die Hand auflegen, dann ist das für mich mehr, als ich mir je hätte träumen lassen.
Frage: Vor der Bundestagswahl wurde in Deutschland heftig über die Migrationspolitik diskutiert. Was sagen Sie dazu?
Jäger: Ich kann nur jedem empfehlen, mit negativen Äußerungen über Flüchtlinge vorsichtig zu sein. Niemand den ich kenne, hat aus Jux und Tollerei seine Heimat verlassen. Alle haben dramatische Situationen hinter sich. Und wer geht schon freiwillig von zu Hause weg, manchmal hunderte, oft tausende Kilometer weit, und nimmt diese Flucht mit einer Überlebenschance von vielleicht fünfzig Prozent auf sich? Man erzählt mir immer wieder: Die meisten Menschen sterben nicht im Mittelmeer, sondern auf dem Weg dorthin. Viele haben mir stundenlang ihre Dramen erzählt. Einer sagte, es sei besser das Risiko einzugehen, die Flucht vielleicht zu überleben, als daheim getötet zu werden oder zu verhungern.
Erst vor kurzem hat mir ein junger Mann aus dem Sudan erschreckende Bilder gezeigt. Bewaffnete Männer kamen in sein Heimatdorf und haben Bewohner gezwungen ihre Häuser zu verlassen und ihnen ihr Hab und Gut zu überlassen. Wer sich geweigert hat wurde an Ort und Stelle erschossen. Darunter waren auch seine Nachbarn und die besten Freunde. Die Bilder sind schockierend. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen, die bei uns gegen Flüchtlinge hetzen, sich diese Dramen anhören. Natürlich weiß ich auch, dass wir nicht alle aufnehmen können – das verstehe ich und habe dafür auch keine Patentlösung. Aber was ich hier tun kann, ist zu versuchen, den Menschen das Leben ein bisschen leichter zu machen und vielleicht ein bisschen Hoffnung zu geben.