Regens Pohlmann: "Es erfordert viel Mut, heute Priester zu werden"

Die Zahl der Priesterweihen ist in Deutschland schon seit Jahrzehnten im Sinkflug – doch so dramatisch wie zuletzt, waren die Zahlen noch nie: Nur 29 Männer wurden 2024 in der Bundesrepublik zu Priestern geweiht. Wie blicken die Leiter des Erfurter Priesterseminars auf diese Zahl? Wie stellt sich die Situation in ihrem Seminar dar? Und was kann getan werden, um bei den Weihezahlen vielleicht eine Trendumkehr zu erreichen? Über diese und andere Fragen sprechen Regens Ansgar Paul Pohlmann und Subregens Egon Bierschenk im Doppelinterview von katholisch.de.
Frage: Regens Pohlmann, Subregens Bierschenk, im vergangenen Jahr wurden in Deutschland nur 29 Männer zu Priestern geweiht – ein neuer Tiefstand. Was löst diese Zahl bei Ihnen aus?
Pohlmann: Die Zahl der Priesterweihen ist hierzulande ja bereits seit Jahrzehnten stark rückläufig. Deshalb ist die aktuelle Entwicklung nicht überraschend. Und doch erschreckt mich die Zahl, weil damit im vergangenen Jahr im Schnitt nur etwa ein neuer Priester für jedes deutsche Bistum geweiht wurde. Das ist schon eine extreme Entwicklung! Es erfordert allerdings auch sehr viel Mut, in der heutigen gesellschaftlichen und kirchlichen Situation Priester zu werden. Als ich mich vor über 40 Jahren für das Priesteramt entschieden habe, war das ein normaler und angesehener Beruf. Das ist heute nicht mehr so.
Frage: Wie hat sich denn bei Ihnen im Erfurter Priesterseminar die Zahl der Seminaristen in den vergangenen Jahren entwickelt?
Bierschenk: In den gut zehn Jahren, die wir beide in der Leitung des Hauses tätig sind, ist die Zahl der Priesterkandidaten in den ostdeutschen Diözesen interessanterweise weitgehend gleich geblieben. Derzeit befinden sich 27 junge Männer in der Priesterausbildung, vor zehn Jahren waren es 30. Von den 27 leben aktuell aber nur fünf hier im Haus.
Frage: Und die anderen 22?
Bierschenk: Die absolvieren ihre Ausbildung an verschiedenen Standorten. Vier Seminaristen sind derzeit zum Beispiel im Propädeutikum, das wir in Kooperation mit der Bamberger Kirchenprovinz durchführen und das deshalb im Priesterseminar in Bamberg stattfindet. Andere sind im Spätberufenenseminar in Lantershofen, einer ist in München, einer in Frankfurt und zwei in Externitas, also im Freisemester, weitere sind bereits im Pastoralkurs.
Frage: Was für Männer kommen zu Ihnen ins Seminar, um Priester zu werden?
Bierschenk: Das ist ganz unterschiedlich und hängt von der jeweiligen Persönlichkeit und dem jeweiligen Lebensweg ab. Den einen Typ Mann, der Priester werden möchte, gibt es nicht. Es gibt zwar immer noch diejenigen, die als Kinder und Jugendliche in einer Pfarrgemeinde sozialisiert wurden, die dort Messdiener waren, eine Jugendgruppe geleitet haben und einen engen Draht zu ihrem Heimatpfarrer hatten. Das ist sozusagen der traditionelle Weg – doch der wird immer seltener. Ansonsten hatten wir hier schon Seminaristen, die erst als Jugendliche getauft worden waren oder Konvertiten waren oder die sich erst im Laufe ihres Theologiestudiums dafür entschieden haben, Priester zu werden.
„Sich als Priester mit Haut und Haaren einer Institution zu verschreiben, der von vielen der baldige Untergang vorausgesagt wird, ist nicht leicht.“
Frage: Regens Pohlmann, Sie haben eben gesagt, dass es sehr viel Mut braucht, um heute Priester zu werden. Können Sie etwas zur Motivation der Männer sagen, die in den vergangenen Jahren in Ihr Seminar eingetreten sind?
Pohlmann: Man kann wohl sagen, dass alle unsere Seminaristen im Laufe ihres Lebens zwei zentrale Erfahrungen gemacht haben: eine positive Kirchenerfahrung und eine persönliche Glaubenserfahrung.
Frage: Was bedeutet das?
Pohlmann: Unsere Seminaristen haben – zum Beispiel in ihrer Heimatpfarrei oder in einer geistlichen Gemeinschaft – Erfahrungen gemacht, die das negative Bild von Kirche, das in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrscht, bei ihnen positiv überschrieben haben. Und daneben haben sie an irgendeinem Punkt in ihrem Leben gemerkt, dass ihr Glaube lebensbedeutend wurde. Sie haben also die Relevanz ihres Glaubens für ihr eigenes Leben gespürt und erlebt, dass dieser Glaube wirklich etwas bewegen kann. Beides zusammen – die positive Kirchenerfahrung und die persönliche Glaubenserfahrung – kann dazu führen, dass Menschen sich dafür entscheiden, Priester zu werden.
Frage: Subregens Bierschenk, Sie haben es schon erwähnt: Sie beide sind seit gut zehn Jahren in der Leitung des Erfurter Seminars tätig. Haben sich die Seminaristen in dieser Zeit verändert?
Bierschenk: Auf jeden Fall. Als wir 2015 hier angefangen haben, waren die Seminaristen noch sehr von Papst Benedikt XVI. geprägt. Das war wirklich eine "Generation Benedikt" damals mit jungen, konservativen Männern, die ein besonderes Faible für die Liturgie hatten. Das hat sich dann aber sehr schnell geändert. Heute orientieren sich unsere Seminaristen erkennbar an Papst Franziskus und seinem missionarisch-suchenden Ansatz.
Frage: Auch wenn die Zahl der Seminaristen in Erfurt in den vergangenen Jahren weitgehend stabil geblieben ist – bundesweit ist der Trend klar negativ. Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit die Zahl der Priesteramtskandidaten wieder ansteigt? Oder ist der Negativtrend unumkehrbar?
Bierschenk (überlegt lange): Die Kirche ist hierzulande mittlerweile seit Jahrzehnten in einer Negativspirale gefangen, die auch den Priesterberuf nicht verschont hat. Die dramatisch gesunkene Zahl an Weihen macht das deutlich. Sich als Priester mit Haut und Haaren einer Institution zu verschreiben, der von vielen der baldige Untergang vorausgesagt wird, ist nicht leicht. Und doch glaube ich, dass es viel mehr junge Menschen gibt, die sich grundsätzlich vorstellen können, diesen Weg trotzdem zu gehen, als wir es vielleicht manchmal ahnen. Wenn wir diesen jungen Menschen ein positives und profiliertes Bild des Priesterberufs vermitteln könnten, wäre schon viel erreicht. Auch das Gebet um Berufungen sollte man pflegen.
Frage: Wie kann es gelingen, ein "positives und profiliertes Bild des Priesterberufs" zu vermitteln?
Bierschenk: Wichtig wäre aus meiner Sicht, wieder stärker die Vielfalt des Priesterberufs aufzuzeigen. In den vergangenen Jahrzehnten hat eine Engführung des Priesterbildes stattgefunden, die der Attraktivität des Berufes geschadet hat. Die meisten jungen Menschen können sich einfach nicht vorstellen, die nächsten Jahrzehnte als Pfarrer in einer überalterten Diasporagemeinde oder in einer Großpfarrei mit vielen Verwaltungsaufgaben tätig zu sein – zumal auch nicht jeder dafür geeignet ist. Aber das muss ja auch gar nicht sein! Es gibt so viele Einsatzgebiete für Priester – denken Sie allein nur an die Kategorialseelsorge. Wenn wir es schaffen, das Priesterbild wieder zu weiten und die vielfältigen Möglichkeiten dieses Berufes zu verdeutlichen, kann das für mehr junge Menschen attraktiv sein.

Das Haus des Priesterseminars in Erfurt.
Frage: In den vergangenen Jahren gab es kontroverse Diskussionen um die Zukunft der Priesterausbildung in Deutschland. Zuletzt ist die Debatte aber ein bisschen eingeschlafen. Wie ist der aktuelle Stand?
Pohlmann: In der Tat ruht die Debatte zurzeit weitgehend – und trotzdem ist viel in Bewegung. Denken Sie nur an das Bistum Fulda, das sein Priesterseminar inzwischen geschlossen hat. Solche Entscheidungen sind immer schmerzhaft und schwierig. Und doch vermute ich, dass wir in den kommenden Jahren weitere Schließungen erleben werden – auch wenn der Vorschlag der Bischofskonferenz, die Priesterausbildung in Deutschland auf nur noch wenige Standorte zu fokussieren, inzwischen wohl vom Tisch ist.
Frage: Sie sagen es: 2020 hatte eine Arbeitsgruppe der Bischofskonferenz vorgeschlagen, die Zahl der Ausbildungsstandorte bundesweit auf nur noch drei zu reduzieren. Das Erfurter Seminar wäre in diesem Fall geschlossen worden. Auch wenn diese Pläne wohl tatsächlich nicht umgesetzt werden: Wie sehen Sie die Zukunft des Standortes Erfurt?
Pohlmann: Im Augenblick sehe ich unsere Situation als gesichert an. Auch deshalb, weil wir den Kooperationsgedanken hier ja schon immer intensiv leben – schließlich ist Erfurt das gemeinsame Seminar aller ostdeutschen Diözesen. Und doch kann auch ich die Zukunft nicht voraussagen: Was passieren würde, wenn wir mal zwei oder drei Semester keinen neuen Kandidaten haben würden, weiß ich nicht.
Frage: Der Vorschlag, die Zahl der Ausbildungsstandorte zu reduzieren, war eine Reaktion auf die bundesweit stark gesunkene Zahl der Seminaristen. Dieses Problem besteht ja weiter. Deshalb bleibt auch die Frage aktuell, wie die Priesterausbildung in Deutschland künftig organisiert werden soll. Wofür plädieren Sie?
Pohlmann: Ich denke, dass es noch mehr Kooperationen zwischen den Diözesen braucht. In den vergangenen Jahren wurden bereits mehrere Kooperationen vereinbart – etwa beim Pastoralkurs und bei den Weihekursen. Bei Letzteren kooperieren wir inzwischen mit 14 nord- und ostdeutschen Diözesen, den Berufseinführungskurs wiederum veranstalten wir gemeinsam mit sechs Diözesen. Also, es gibt Kooperationen, und ich kann mir gut vorstellen, dass wir diese Form der Zusammenarbeit in den kommenden Jahren auch auf die Studienphase ausweiten. Hier hakt es noch, weil die Priesterausbildung mit der Fakultätenfrage verknüpft ist und die entsprechenden Regelungen oftmals in Konkordaten festgeschrieben sind, was Kooperationen erschwert. Ich denke aber, dass man sich – wenn der Wille da ist – auch in der Studienphase über Diözesangrenzen hinweg zusammentun kann.
Frage: Was macht Erfurt als Standort der Priesterausbildung im Vergleich mit anderen Standorten aus? Was ist das Alleinstellungsmerkmal Ihres Seminars?
Pohlmann: Ein wichtiger Punkt für uns ist die Theologische Fakultät an der Universität Erfurt, deren Räumlichkeiten am Kreuzgang des Domes liegen. Damit gibt es eine gewinnbringende Verknüpfung des kirchlichen und des universitären Ausbildungsstandortes. Das ist aus meiner Sicht ein Vorteil, den nicht alle Seminare so klar haben. Ein weiterer Punkt ist unser Kolleg-Konzept.
„Aktuell denken wir immer noch zu sehr in den alten Pfarreistrukturen. Von diesem territorialen Denken müssen wir wegkommen und mehr in Richtung missionarischer Zentren denken und dafür die pastoralen Mitarbeiter der Zukunft ausbilden.“
Frage: Was bedeutet das?
Pohlmann: Als Egon Bierschenk und ich hier angefangen haben, haben wir das Haus bald für andere Studierende geöffnet. Dadurch wohnen unsere Seminaristen seither Tür an Tür mit anderen Studentinnen und Studenten zusammen, die zwar das grundsätzliche Konzept des Hauses mittragen, aber nicht unbedingt katholisch sein und auch nicht Theologie studieren müssen. Durch diese Mischung haben wir eine andere Gesprächskultur im Haus etabliert, bei der kirchliche Themen nicht immer im Mittelpunkt stehen.
Frage: Die Seminaristen werden also schon im Seminar mit dem "wahren" Leben außerhalb der priesterlichen Blase konfrontiert?
Pohlmann: Ganz so würde ich es nicht formulieren, aber ja. Für das soziale Lernen unserer Seminaristen ist das Kolleg-Konzept unheimlich positiv. Vielleicht kann man es an einem Beispiel verdeutlichen: Die wichtigsten Räume auf beiden Etagen des Kollegs sind jeweils der Gemeinschaftsraum und die Küche. Hier kommen alle Bewohner des Hauses regelmäßig zusammen, hier wird diskutiert und auch mal gestritten – über normale Dinge des Alltags, aber auch über den Glauben. Für die Seminaristen ist das eine gute Schule, da sie auf diese Weise kommunikative Fähigkeiten und soziale Kompetenz lernen und vertiefen können.
Frage: Man hört immer mal wieder die These, dass die katholische Kirche im Osten in gewisser Weise Avantgarde sei, weil sie viele Entwicklungen schon durchlebt habe, die dem Westen erst noch bevorstünden – das Ende der Volkskirche, das Dasein in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, die extreme Diasporasituation. Spielt die besondere kirchliche Situation in den Ost-Bistümern in der Ausbildung in Erfurt eine Rolle?
Bierschenk: In der Fakultät auf jeden Fall. Dort wird schon sehr auf die Diaspora und die hiesige gesellschaftliche Situation geschaut. Hier im Seminar erleben die Seminaristen eher eine kirchlich geprägte Situation. Wenn sie in ihre Gemeindepraktika gehen, lernen sie die Realität in den hiesigen Pfarrgemeinden aber natürlich kennen. Das Gute hier im Osten ist: Wir haben hier schon in der dritten Generation Leute, die nichts mehr mit Kirche zu tun haben. Sie verbinden mit Kirche weder positive noch negative Erfahrungen, weswegen sie grundsätzlich offener und ansprechbarer sind.
Pohlmann: Im Rahmen der Ausbildung machen wir mit den Seminaristen immer wieder mal Exkursionen in ostdeutsche Pfarreien, und da erleben wir natürlich das spezifische kirchliche Leben vor Ort. Vor Kurzem waren wir zum Beispiel in Hoyerswerda, wo die Gemeindesituation eher familiär geprägt ist und die "Pfarreifamilie" eher unter sich bleibt. Das unterscheidet sich schon sehr von der Situation im Westen.
Frage: Wo sehen Sie das Erfurter Seminar in zehn Jahren?
Bierschenk: Ich denke, dass es die Priesterausbildung hier dann noch geben wird. Ich würde mir aber wünschen, dass wir bis dahin ein vielfältigeres Bild des Priesterberufs entwickelt haben und sich das auch in der Ausbildung widerspiegelt.
Pohlmann: Wir müssen in den kommenden Jahren noch stärker in Richtung Missionskirche denken. Aktuell denken wir immer noch zu sehr in den alten Pfarreistrukturen. Von diesem territorialen Denken müssen wir wegkommen und mehr in Richtung missionarischer Zentren denken und dafür die pastoralen Mitarbeiter der Zukunft ausbilden.