Argentinier war erster Pontifex vom Kontinent

Der bleibende Eindruck von Papst Franziskus in Lateinamerika

Veröffentlicht am 24.04.2025 um 00:01 Uhr – Von Fabian Retschke – Lesedauer: 6 MINUTEN

Bogotá ‐ Papst Franziskus war der erste Nachfolger Petri aus Lateinamerika. Was bedeutet das für die Menschen vor Ort? Der Jesuit Fabian Retschke lebt in Kolumbien. Von dort schildert er den mittelbaren wie unmittelbaren Franziskus-Effekt.

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Wer heute durch den Simon-Bolivar-Park in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá spaziert, findet vielleicht keine sichtbaren Spuren oder Installationen vom Besuch von Papst Franziskus 2017. Doch die Einwohner kennen noch den Ort, eine Art eucharistischen Pavillon, an dem er mit etwa 1,3 Millionen Gläubigen am 7. September eine Messe im Freien zelebrierte. Viel wichtiger, so kann man wohl sagen, sind ohnehin die Botschaften, die ein Kirchenoberhaupt im Rahmen so einer Reise hinterlässt und was von ihnen im Land Widerhall findet.

Bei einer Begegnung zum Gebet um Versöhnung richtete der Papst folgende Worte an die Menschen hier: "Kolumbien, öffne dein Herz als Volk Gottes, lass dich versöhnen. Fürchte dich weder vor der Wahrheit noch vor der Gerechtigkeit. Liebe Kolumbianer: Habt keine Angst, um Vergebung zu bitten und sie zu gewähren. Widersetzt euch nicht der Versöhnung, die euch als Brüder und Schwestern einander nähern und wiederfinden hilft und die Feindschaften überwinden lässt. Es ist an der Zeit, Wunden zu heilen, Brücken zu bauen und Unterschiede einzuebnen. Es ist an der Zeit, den Hass auszulöschen, auf Rache zu verzichten und sich dem Miteinander zu öffnen, das auf Gerechtigkeit, Wahrheit und auf der Schaffung einer authentischen Kultur der solidarischen Begegnung gründet".

Für die Bedeutung dieser Worte muss man den Zusammenhang von der Geschichte und der Politik des Landes her verstehen. Kolumbien ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts in einen nicht enden wollenden internen Konflikt versunken, dessen hauptsächliche Akteure Rebellengruppen wie die FARC, die ELN und von Großgrundbesitzern angeheuerte Bürgerwehrmilizen waren bzw. sind. Die weithin überaus fruchtbaren Böden in einem der Länder mit der größten Ungleichheit in Lateinamerika, knapp nördlich des Äquators zwischen Pazifik und Karibik liegend und von drei andinischen Gebirgsketten durchzogen, sind vom Blut Hunderttausender getränkt. Millionen Binnenflüchtlinge wurden gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben und sind – ohne echte Perspektive und Chancen – vor allem in den überbordenden Großstädten gelandet. Im Jahr 2025 ist das kaum anders, vielmehr eskalieren neue Konflikte.

Aufruf zur Versöhnung

Der kolumbianische Staat bemüht sich freilich, Frieden zu schließen und die Waffengewalt zu beenden. Doch nach dem Friedensvertrag von 2016, im Hintergrund von Vertretern des Heiligen Stuhls mit vorangetrieben, der der Bevölkerung einen gerechten Frieden und den ehemaligen FARC-Rebellen eine Reintegration in die Gesellschaft ermöglichen sollte, wendete sich eine knappe Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum im selben Jahr gegen dieses Friedensabkommen. Das Votum war nicht bindend, aber Ausdruck des demagogischen Geschicks der politischen Opposition, den Schmerz und den Hass in ein undeutliches Nein zu kanalisieren. Vor diesem Hintergrund klingen die Worte von Papst Franziskus also verständnisvoll und mitfühlend, doch zugleich erscheinen sie als eindeutiger Aufruf zur Versöhnung, der aus der Tiefe der christlichen Botschaft kommt.

Auch in seiner Predigt in Bogotá wusste der Pontifex diese Geschichte der Gewalt in einen größeren Zusammenhang der "Finsternis" einzuordnen, die aus sozialer Ungerechtigkeit, Korruption und der Missachtung des menschlichen Lebens besteht. Während die rechtskonservative, etablierte Elite Kolumbiens vielleicht glaubte, sie hätte eine unverbrüchliche Allianz mit der katholischen Kirche, so musste sie wohl diese Worte doch als eher harten Brocken herunterschlucken. Dass man aber "die Wahrheit nicht zu fürchten" habe, klingt heute geradezu prophetisch, wo bestimmte gesellschaftliche Kreise die Aufarbeitungsarbeit der "Wahrheitskommission" (2018-2022) über besagten Konflikt im Land als politisch motivierte Verzerrung verunglimpfen und dessen Vorsitzenden, den Jesuitenpater Francisco de Roux, mit unwürdigen Anschuldigungen verleumden. Die mutige Stimme des Papstes hallt also nach, weit über dessen Besuch hinaus. Nicht umsonst bezeichnete ihn der aktuelle Präsident, Gustavo Petro, offenkundig besorgt über seine Gesundheit, als "wahren Freund", "Seelenverwandten" und "Anführer", der "die Spiritualität an die Seite der Menschheit, der Natur, des Lebens und der einfachen Menschen stellte".

Bild: ©Privat

Der Jesuit Fabian Retschke stammt aus Deutschland und lebt in Kolumbien.

Das gilt auch für einen anderen wesentlichen Impuls des Papstes, den er mit seiner Enzyklika Laudato Si’ 2015 gegeben hat. In einem der Länder mit der größten Artenvielfalt der Welt, das in sich sämtliche Klimazonen vereint und unter der Ausbeutung fossiler und seltener Rohstoffe sowie der gewaltsamen (Brand-)Rodung empfindlich großer Waldbestände, ebenso wie unter der Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie dem enormen Plastikmüllaufkommen leidet, verstärkt sie den Schrei der Armen und an den Rand Gedrängten in der Schöpfung Gottes. Musste vielleicht erst ein Papst vom anderen Ende der Welt, aus dem Globalen Süden, in die Führungsposition der zu oft auf Europa zentriert scheinenden Weltkirche kommen, um diese globale Ungerechtigkeit der Ausbeutung, Verseuchung und Verelendung Lateinamerikas und anderer vernachlässigter Weltregionen im Gewissen der Gläubigen zu verankern?

"Wir sind Papst"

Ähnlich wie in Deutschland 2005, so titelten einige Medien in Argentinien euphorisch und augenzwinkernd "Wir sind Papst" nach der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Oberhaupt der katholischen Kirche 2013. Sie ahnten damals wohl noch nicht, was es bedeuten könnte, dass endlich die Mehrheit der Katholiken, die nämlich in den strukturell benachteiligten Kontinenten lebt, im Papstamt repräsentiert wird. Einige Jahre später, bei der Amazonassynode 2019, die sich den sozialen und ökologischen Bedürfnissen dieser besonders bedrohten Region und der gegenseitigen globalen Abhängigkeit in Zeiten von Klimawandel und Artensterben widmete, wurde dies beispielhaft deutlich. Gleichzeitig hat Franziskus damit auch den respektvollen Dialog mit der indigenen Bevölkerung fortgesetzt und vertieft.

In dieser bezüglich der Strukturen eher traditionellen, konservativen und mehr am Klerus orientierten Kirche bedeutet der von Papst Franziskus in Gang gebrachte Weg hin zur Synodalität eine Erneuerung, die ihre Wirkung sicher erst im Laufe der folgenden Jahre und nach seinem Pontifikat entfalten wird. Dazu tragen auch die unter Franziskus ernannten Bischöfe und Kardinäle in Lateinamerika bei, die diese Gestaltung von Kirche unterstützen. Im ganzen Kontinent sieht sich die katholische Kirche gleichwohl mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, etwa in der Frage der Missbräuche von Amtsträgern, dem rasanten Wachstum vielfältiger evangelikaler Gemeinschaften im Garagenformat, sowie mit Entwicklungen der Glaubensmüdigkeit, die wie in Europa von der Pandemie eher beschleunigt wurden.

In all diesen Fragen bleibt das Zeugnis von Franziskus als einem Pilger der Hoffnung, der viele anspornt, sich weiter auf den Weg der gemeinsamen Suche und geistlichen Unterscheidung nach den Richtungsweisern zu begeben, die Gott der Kirche mitgibt. Das empfinde ich auch persönlich so. Zwar gilt unser Gehorsam dem Papstamt unabhängig von dem, der es ausübt. Doch mit Franziskus sah ich in all seinen Jahren einen überaus inspirierenden, charismatischen und sanft, aber sorgfältig wandelnden Papst.

Er war sich seiner Fehler und der Kritik seiner Feinde bewusst und scheute sich dennoch nicht, mutig auf den Punkt zu bringen, was viele am eigenen Leibe erfahren: "Diese Wirtschaft tötet". Für mich bleibt er für immer ein wahrhaft prophetischer Papst, ein Hirte mit einem erstaunlichen Bild von Kirche: "Mir ist eine 'verbeulte' Kirche lieber, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, als eine Kirche, die durch ihre Verschlossenheit und ihre Bequemlichkeit krank ist". Unbequem, offen, verwundet, beschmutzt und verbeult, aber an der Seite eines heilenden Jesus auf der Straße: Wenn dieser Wunsch für unsere Kirche in uns weiterlebt, wäre es Franziskus wohl lieber als irgendein Monument.   

Von Fabian Retschke