"So schaffen wir das!"
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Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2015 über die Aufgaben sprach, die angesichts der hohen Flüchtlingszahlen zu bewältigen sind, ließ sie einige der großen Herausforderungen Revue passieren, denen sich unser Land in den letzten 25 Jahren stellen musste: Deutsche Einheit, Energiewende, Finanzkrise. Vor dem Hintergrund des bislang Erreichten prägte sie den mittlerweile viel zitierten Slogan: "Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!" Und tatsächlich: Allen Unkenrufen zum Trotz hat Deutschland es innerhalb einer kurzen Zeitspanne geschafft, über eine Million schutzsuchender Menschen aufzunehmen und zu versorgen. Die Mitarbeiter der zuständigen Stellen in Bund, Ländern und Kommunen, in den Wohlfahrtsverbänden, kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen haben Beeindruckendes geleistet. Dank des Engagements der vielen Ehrenamtlichen konnte in Deutschland eine von Zuversicht und Tatkraft geprägte "Willkommenskultur" entstehen. Diese gilt es nun zu einer dauerhaften "Integrationskultur" weiterzuentwickeln.
Sicherlich wünschen sich die Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, meist nichts sehnlicher, als eines Tages in Sicherheit und Frieden in ihr Heimatland zurückkehren zu können. Eine baldige Rückkehr wird jedoch für einen Großteil von ihnen nicht möglich sein. Deshalb müssen wir uns darauf einstellen, dass viele Menschen mit anderen kulturellen und religiösen Prägungen langfristig bei uns bleiben werden. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden wir unter diesen Umständen nur dann wahren können, wenn wir von vornherein die richtigen Weichen für ihre Integration stellen. Anders gesagt: Wir müssen jedem, der in unserem Land lebt, eine realistische Perspektive auf gesellschaftliche Teilhabe eröffnen. Flächendeckende Sprach- und Integrationskurse sind hier ebenso gefragt wie die Möglichkeit, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen - und zwar unabhängig davon, ob eine dauerhafte Bleibeperspektive besteht oder nicht. Zwei eng miteinander verzahnte Handlungsfelder sind in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz: Arbeit und Bildung.
Wenn Menschen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, dient dies sowohl ihrem persönlichen Wohlbefinden als auch dem sozialen Frieden. Für viele Menschen mit Migrationshintergrund ist der Arbeitsplatz der zentrale Ort der gesellschaftlichen Integration: Neben dem kollegialen Austausch, der über kulturelle Grenzen hinweg stattfindet, ermöglicht ihnen die Teilhabe am Berufsleben ein eigenständiges und selbstverantwortetes Leben. Auch aus Sicht der katholischen Soziallehre ist Arbeit ein hohes Gut: Indem der Mensch tätig ist, entfaltet er die in ihm und seiner Umwelt angelegten Möglichkeiten und hat damit zugleich am Schöpfungswerk Gottes teil. Ohne falsche Idealisierung und mit gewisser Vorsicht kann man sagen: Seine Fähigkeit zur schöpferischen Tätigkeit verweist in besonderer Weise darauf, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Die Forderung, dass jeder Mensch in unserem Land die Möglichkeit zu einer sinnvollen Beschäftigung haben muss, ist also nicht nur ein pragmatisches Gebot der Stunde. Sie zielt auch auf die Wahrung der individuellen Menschenwürde ab.
Sicherlich ergeben sich bei der Umsetzung dieses Vorsatzes handfeste Schwierigkeiten. In einer hochgradig komplexen Gesellschaft und Wirtschaft kann dies auch gar nicht anders sein. Entscheidend ist jedoch, dass alle zuständigen Stellen gemeinsam ein starkes und unmissverständliches Signal aussenden: Wir wollen niemandem Steine in den Weg legen, kein Mensch darf in eine Haltung der Passivität und Frustration hineingedrängt werden. Stattdessen wollen wir Bildungs- und Erwerbsbiographien aktiv fördern. Zu diesem Zweck müssen flexible und kreative Lösungen auf der Tagesordnung stehen, die den zu uns kommenden Menschen so früh wie möglich eine konkrete Perspektive eröffnen. Vorschriften und Verwaltungsabläufe, die diesem Ziel entgegenlaufen, gehören darum rasch auf den Prüfstand. Abstrakte Vorrangprüfungen, die Asylbewerbern oft von vornherein den Zugang zu bestimmten Arbeitsstellen verwehren, zählen dazu ebenso wie Hürden bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen oder anderen im Ausland erworbenen Qualifikationen.
Erfolgreiche Integrationspolitik mit entwicklungspolitischem Mehrwert
Bereits bewährte Arbeitsmarktinstrumente sollten auch zur beruflichen Förderung von Flüchtlingen angewandt und weiterentwickelt werden. Dabei dürfen wir nicht allzu kleinlich darauf schielen, wie lange jemand die Förderung, die ihm hier zuteilwurde, zum Nutzen unserer Gesellschaft fruchtbar machen kann. Wer nach einiger Zeit wieder in seine Heimat zurückkehrt, kann die bei uns erworbenen Kompetenzen zum Wohle seines Herkunftslandes einsetzen. Auf diese Weise schafft eine erfolgreiche Integrationspolitik auch einen entwicklungspolitischen Mehrwert.
Linktipp: Was die Kirchen tun
Die Kirchen in Deutschland haben ihre Hilfe für Flüchtlinge deutlich ausgebaut. Viele Bistümer und Landeskirchen haben - zum Teil millionenschwere - Sonderetats für die Betreuung der Asylsuchenden eingerichtet. Katholisch.de gibt einen Überblick.Die katholische Kirche in Deutschland leistet bereits heute einen Beitrag zur beruflichen Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Mit Angeboten der Berufsorientierung, Ausbildungsbegleitung, Ausbildungs- und Berufsvorbereitung sowie auf den Beruf ausgerichteten Sprachkursen sind zahlreiche kirchliche Einrichtungen in diesem Bereich aktiv. Dieses Engagement wollen wir in nächster Zeit deutlich ausbauen. In ihren "Leitsätzen des kirchlichen Engagements für Flüchtlinge" betonen die deutschen Bischöfe, dass auch kirchliche Einrichtungen, die als Arbeitgeber oder als Träger von Berufsbildungsstätten fungieren, ihre Anstrengungen zur beruflichen Förderung von Flüchtlingen intensivieren müssen.
Was für die berufliche Integration gilt, betrifft ebenso den Zugang zu Bildung: Sie ist ein Schlüssel zur gesellschaftlichen Integration und ein fundamentales Menschenrecht. Auch in diesem Bereich verfügt die katholische Kirche über wichtige Gestaltungsmöglichkeiten, die sie zum gesamtgesellschaftlichen Wohl einsetzt. Zugleich muss die Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Flüchtlinge auf Bildungsangebote zurückgreifen können, die ihrem Alter und ihrer Qualifikationsstufe entsprechen.
Zu wenig Plätze in den Kindertagesstätten
Versäumnisse, die im Bildungsbereich bereits vor den aktuellen Fluchtbewegungen bestanden haben, treten derzeit umso deutlicher zutage. Trotz der enormen Anstrengungen, die in den letzten Jahren unternommen wurden, fehlt es in den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung nach wie vor an Plätzen. Gerade wenn in einer Familie kein oder nur wenig Deutsch gesprochen wird, ist der Besuch einer Kindertagesstätte ein wichtiger Integrationsschritt. In einigen Bundesländern zeichnet sich schon seit Längerem ein gravierender Lehrermangel ab. Flüchtlingskinder werden sich jedoch nur dann im deutschen Schulsystem zurechtfinden können, wenn genügend pädagogisches Fachpersonal zur Verfügung steht. Hier ist innerhalb kürzester Zeit nicht mehr und nicht weniger als ein bildungspolitischer Kraftakt gefordert. Wenn wir die gegenwärtige Krisensituation nutzen, um unsere Schulen mit besseren Ressourcen auszustatten und Ansätze des interkulturellen Lernens zu stärken, dann kommt dies letztlich allen Kindern in unserem Land zugute.
Auch der Zugang zu Berufsschulen und Hochschulen ist für Flüchtlinge mit einigen Hürden verbunden. Vor allem Personen, die noch auf ihren Asylbescheid warten oder die lediglich eine Duldung erhalten haben, bleibt der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen über eine oft unerträglich lange Zeitspanne hin verwehrt. Zudem ist für die meisten von ihnen eine Ausbildung oder ein Studium schlechterdings nicht finanzierbar. Statt an bisherigen Beschränkungen festzuhalten, sollten wir uns von dem Grundsatz leiten lassen: Wer auch immer eine Ausbildung oder ein Studium aufnehmen will, wird in diesem Vorhaben bestärkt und unterstützt.
Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Flüchtlinge und Asylbewerber. Fragen von guter Arbeit und guter Bildung sind letztlich immer für das Wohl der gesamten Gesellschaft von hoher Relevanz. Auch manchen, die seit jeher in unserem Land leben, droht der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe auf längere Sicht versperrt zu bleiben. Statt die Anliegen der Flüchtlinge und der sozial benachteiligten Menschen gegeneinander auszuspielen, sollten wir gerade in der gegenwärtigen Situation einen besonders wachen Blick für die Bedürfnisse all derer haben, die an den Rändern der Gesellschaft stehen.
Angemessener und bezahlbarer Wohnraum notwendig
Neben den bereits angesprochenen Themen rückt hier ein drittes Handlungsfeld ins Zentrum: Echte gesellschaftliche Teilhabe ist nur dann möglich, wenn angemessener und bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Dies ist in einigen Ballungsgebieten längst nicht mehr für alle Menschen gewährleistet. Dass die Bundesregierung sich nun wieder stärker im Bereich des sozialen Wohnungsbaus engagieren will, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Mit den katholischen Siedlungswerken, die zur Linderung der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden, verfügt auch die Kirche über geeignete Instrumente, um sich an der Schaffung von Wohnraum zu beteiligen. Dabei müssen Ghettobildungen vermieden werden. Ohne verbesserte und beschleunigte Genehmigungsverfahren werden viele zukunftsweisende Projekte aber nicht rechtzeitig auf den Weg gebracht werden können. Auch hier besteht politischer Handlungsbedarf.
Arbeit, Bildung, Wohnraum - auf diesen drei Handlungsfeldern kann und muss vieles bewegt werden, damit gesellschaftliche Integration gelingt. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend ist: Wir brauchen eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung. Ebenso wie die Zuwanderer gehalten sind, die Werte und Umgangsformen der Aufnahmegesellschaft wertzuschätzen, muss auch die Aufnahmegesellschaft den Zuwanderern und ihren Prägungen mit Wertschätzung begegnen. Von beiden Seiten ist die Bereitschaft verlangt, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bietet ein solides Fundament für das friedliche Zusammenleben höchst unterschiedlicher Menschen.
Weitere Gastbeiträge folgen
Zu den weiteren Autoren des Debatten-Formats auf katholisch.de zählen unter anderem Caritas-Präsident Peter Neher, Reinald Wolff vom Bund Katholischer Unternehmer, die Sozialethikerin Maria Heimbach-Steins und die stellvertretende Verdi-Bundesvorsitzende Eva Welskop-Deffaa.Die christlichen Kirchen haben die Vorzüge von Religionsfreiheit, Demokratie und Pluralismus erst in einem langwierigen Prozess kennen und schätzen gelernt. Heute sind wir mit gutem Grund davon überzeugt, dass sich von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen eine direkte Linie zur Achtung der Menschenwürde ziehen lässt. Der Weg zu dieser Erkenntnis war oft schwierig und schmerzhaft - dies sollten sich Christinnen und Christen immer wieder vor Augen halten. Vielleicht hilft uns diese Erfahrung, als Brückenbauer zwischen religiösen und säkularen Wertvorstellungen zu fungieren? Jedenfalls hat sie eine besondere Sensibilität für das Spannungsverhältnis zwischen "geistlichen" und "weltlichen" Angelegenheiten wachsen lassen. In der gegenwärtigen Lage kann sie sich als wichtige Ressource für den interreligiösen Dialog erweisen.
Wem an den grundlegenden Werten unseres Gemeinwesens gelegen ist, der tut gut daran, sie nicht in Kampfbegriffe umzumünzen, sondern sie als Einladung zu formulieren. Die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf soziale Teilhabe – sie alle sind keine statischen und exklusiven Besitztümer der Aufnahmegesellschaft. Vielmehr handelt es sich um einen sehr anspruchsvollen Ordnungs- und Orientierungsrahmen, den wir tagtäglich aufs Neue mit Leben füllen müssen - und zwar gemeinsam: Aufnahmegesellschaft und Zuwanderer.