Kritik am Alleingang der Landesregierung

Bistümer überrascht von neuer Corona-Schutzverordnung in NRW

Veröffentlicht am 04.06.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Düsseldorf/Münster/Essen ‐ Nur drei Tage Vorlauf hatten die Bistümer in Nordrhein-Westfalen, um zu Pfingsten alle Gottesdienstteilnehmer zu erfassen – ohne Rücksprache hatte die Landesregierung neue Regeln aufgestellt. Das kam nicht überall gut an.

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Für kirchliche Verhältnisse war die Kritik deutlich: "Wir haben unser Unverständnis darüber gegenüber der Staatskanzlei signalisiert, sowohl was den späten Zeitpunkt dieser Maßnahme als auch den nicht angemessenen Anlass betrifft", schrieb der Generalvikar des Bistums Münster, Klaus Winterkamp, in einem Brief an seine Mitarbeiter zur neuen Corona-Schutzverordnung von Nordrhein-Westfalen.

Am Mittwoch vor Pfingsten wurden die Bistümer des Landes von einer neuen Fassung der Verordnung überrascht: Schon ab dem 30. Mai, dem Samstag derselben Woche, sollten die neuen Regeln gelten. Die größte Neuerung für Gottesdienste: Das Land schreibt nun eine "Rückverfolgbarkeit" der Mitfeiernden vor. Waren zuvor nur "geeignete Vorkehrungen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Gewährleistung eines Mindestabstands" in von den Religionsgemeinschaften selbst verantworteten Hygienekonzepten verlangt, müssen bei Gottesdiensten nun auch Namen, Adressen und Telefonnummern aller Beteiligten erhoben werden, "mit deren Einverständnis", heißt es in der Verordnung. Die Bistümer seien darüber "nur informiert, nicht aber befragt worden", klagt Winterkamp in seinem Brief.

Domkapitular Antonius Hamers
Bild: ©KNA/Andreas Otto (Archivbild)

Antonius Hamers ist Leiter des Katholischen Büros NRW in Düsseldorf und Domkapitular im Bistum Münster. Das Katholische Büro ist die Kontaktstelle der fünf Bistümer zur Landespolitik.

Normalerweise herrscht zwischen der Landesregierung und den Bistümern eine gute Abstimmung. Zuständig dafür ist das Katholische Büro in Düsseldorf. "Irritiert hat uns, dass diese Maßgabe sehr kurzfristig kam und im Vorfeld nicht mit uns diskutiert worden ist", erzählt dessen Leiter, der Münsteraner Domkapitular Antonius Hamers, gegenüber katholisch.de. Bisher hatte die Landesregierung betont, dass in Nordrhein-Westfalen die Regeln für die Religionsgemeinschaften im Rahmen von Selbstverpflichtungen gestaltet wurden – "was wir begrüßen und was sich aus unserer Sicht bewährt hat", so Hamers. Im ganzen Bundesland seien Gottesdienste "verantwortungsvoll und umsichtig" gefeiert worden, auch vor der Neufassung der Corona-Schutzverordnung. An dem jetzt gewählten Weg, Religionsgemeinschaften direkt Vorschriften zu machen, meldet er rechtliche Zweifel an. Der Zugang zum Gottesdienst ist Teil der Religionsfreiheit. "Ob das Grundrecht im Wege einer Verordnung eingeschränkt werden kann, ist zumindest fraglich", so Hamers. Immerhin konnten seine Rückmeldungen erreichen, dass bei Beerdigungen im Freien die Rückverfolgbarkeit der Teilnehmer explizit nicht vorgeschrieben ist.

Datenschutzrechtliche Einordnung noch unklar

Auf eine explizite Auflage zur Rückverfolgbarkeit hätte Hamers am liebsten verzichtet, auch weil die Verordnung neben Fragen der Wirksamkeit und der Praktikabilität auch neue rechtliche Fragen aufwerfen, etwa nach dem Datenschutz. Dass die Formulierung in der Verordnung sowohl eine rechtliche Pflicht definiert als auch die Datenerhebung mit dem "Einverständnis" der Betroffenen verlangt, ist rechtlich ungewöhnlich. Normalerweise sieht das Datenschutzrecht vor, dass eine Datenverarbeitung auf Grundlage einer rechtlichen Verpflichtung keine Einwilligung der Betroffenen benötigt. Hamers denkt bei der Formulierung an die Situation zum Beispiel in kleinen Gemeinden. Möglicherweise könnte der Gesetzgeber verhindern wollen, dass dort ohne das Wissen der Betroffenen die Daten von bekannten Teilnehmenden erfasst werden, weil die Veranstalter alle Beteiligten kennen.

Das Siegel des Katholischen Datenschutzzentrums in Dortmund mit dem heiligen Ivo
Bild: ©katholisch.de/fxn (Symbolbild)

Beim katholischen Datenschutzzentrums in Dortmund, der kirchlichen Datenschutz-Aufsichtsbehörde für die nordrhein-westfälischen Bistümer, gibt es noch keine rechtssichere Einschätzung zur Umsetzung der neuen Corona-Schutzverordnung.

Wie Gemeinden die Verordnung für ihre Gottesdienste rechtssicher umsetzen sollen, ist daher noch nicht völlig klar. Verschiedene Bistümer haben zwar Musterformulare veröffentlicht – schließlich besteht die Rechtspflicht seit dem 30. Mai und muss erfüllt werden. Aber selbst der oberste katholische Datenschützer des Landes kann dazu noch keine Auskunft geben. Man berate derzeit noch intern, wie die Formulierung zu bewerten sei, teilte der Diözesandatenschutzbeauftragte für die NRW-Bistümer Steffen Pau auf Anfrage mit. Die Staatskanzlei reagierte auf eine Presseanfrage von katholisch.de bisher nicht. (Ergänzung, 5. Juni 2020: Mittlerweile liegt katholisch.de eine Stellungnahme der Staatskanzlei sowie eine Einschätzung des Diözesandatenschutzbeauftragten vor.)

Die für die Kirche überraschende Verordnung scheint mit heißer Nadel gestrickt zu sein. Der Jurist und Datenschutzexperte Alexander Golland bezeichnet die Formulierung der Verordnung gegenüber katholisch.de als "in gleich mehrfacher Hinsicht unglücklich". Die Formulierungen seien unklar und erforderten einige Interpretation: "Die Norm ist von legistisch mangelhafter Qualität", so Golland. Das verlangte "Einverständnis" interpretiert er als "Regelung einer ohnehin verbotenen Nötigung" – die Gottesdienstteilnehmer hätten somit die Wahl, ihre Daten erfassen zu lassen oder nicht zum Gottesdienst zugelassen zu werden. Der NRW-Gesetzgeber scheine zudem irrig davon auszugehen, dass bei einer nicht digitalen Datenerfassung das Datenschutzrecht nicht greife. Er bezweifelt daher auch die Konformität der Corona-Schutzverordnung mit dem europäischen Datenschutzrecht. Der Jurist, der Herausgeber einer Gesetzessammlung zum kirchlichen Datenschutzrecht ist, empfiehlt Gemeinden, die Daten der Teilnehmenden auf Papier zu erfassen und als Rechtsgrundlage nicht auf Einwilligungen, sondern auf den Bezug auf eine rechtliche Verpflichtung zu setzen. In jedem Fall seien Gottesdienstteilnehmern die gesetzlich geforderten Datenschutzinformationen zur Verfügung zu stellen.

Kritik auch aus Paderborn, keine Probleme in Essen und bei evangelischer Kirche

Ähnliche Kritik wie aus Münster kommt aus dem Erzbistum Paderborn, wo bisher keine Kontaktdaten erhoben wurden, während im Erzbistum Köln schon seit Beginn der Wiederaufnahme öffentlicher Gottesdienste Anfang Mai auf freiwilliger Basis die Daten der Gottesdienstgemeinde eingesammelt wurden, teilweise mit digitalen Ticket-Systemen. Auf evangelischer Seite dagegen bedeutete die Verordnung keine Umstellung, da dort ohnehin schon EKD-weite Rahmenrichtlinien galten, die eine Rückverfolgbarkeit der Gottesdienstbesucher vorsehen. Dementsprechend habe man auch gegenüber der Staatskanzlei keine Einwendungen erhoben, so der Sprecher der Evangelischen Landeskirche Rheinland gegenüber katholisch.de.

Eine Frau kniet in einer Kirchenbank im Essener Dom am 2. September 2019.
Bild: ©Harald Oppitz/KNA (Archivbild)

Im Bistum Essen – hier der Dom der Diözese – reagiert man überrascht, aber gelassen auf die neue Verordnung.

Wie die Kirchen die Rückverfolgbarkeit in der Praxis umsetzen, wird unterschiedlich geregelt. Bisweilen führen ehrenamtliche Einweiser Listen am Eingang der Kirche, anderswo tragen sich die Besucher selbst in Listen ein. Das Bistum Münster stellt seinen Gemeinden Druckvorlagen für Karten zur Verfügung, die von den Mitfeiernden ausgefüllt und nach dem Gottesdienst in ein verschlossenes Behältnis geworfen werden sollen. Zwar erwähnt die Verordnung auch die zusätzliche Möglichkeit einer digitalen Erfassung vor, besteht aber darauf, die Daten schriftlich zu erfassen. "Es tut mir leid, dass jene Pfarreien, die bereits jetzt im Vorfeld von Gottesdiensten Daten digital erheben, damit eigentlich eine überflüssige Arbeit leisten", schreibt dazu der Münsteraner Generalvikar in seinem Brief an die Verantwortlichen.

Im Bistum Essen reagiert man derweil gelassen auf die neue Schutzverordnung. Dort sei man ebenfalls von ihrer Neufassung überrascht worden, so ein Sprecher. Einen Anlass für eine kritische Rückmeldung gegenüber der Staatskanzlei habe man allerdings nicht gesehen. In den Pfarreien herrsche ein hohes Verantwortungsbewusstsein bei der "sehr behutsamen und vorsichtigen" Feier der ersten Gottesdienste nach der Pandemie-bedingten Pause. Ohnehin seien in manchen Gemeinden auf freiwilliger Basis bereits Gottesdienstbesucher erfasst worden. "Natürlich ist das aufwändig", gibt Generalvikar Klaus Pfeffer zu, "aber ich habe den Eindruck, dass diese Maßnahme auf großes Verständnis stößt - gerade weil die Listen eine große Hilfe sind, um im Falle einer Corona-Infektion sehr schnell alle betroffenen Menschen erreichen zu können." Die Erfassung aller Mitfeiernden habe er bei Messen, die er selbst gefeiert hat, nicht als Problem erlebt. "Viele kennen das ja inzwischen auch aus Restaurants und anderen Orten, an denen größere Gruppen zusammen kommen", so der Generalvikar.

Von Felix Neumann