Interview über mögliche Vermittlung des Vatikan im Ukraine-Krieg

Kirchenhistoriker Ernesti: Papst schlägt bei Diplomatie keine Türen zu

Veröffentlicht am 03.04.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Augsburg ‐ Immer wieder wird der Papst für seine diplomatischen Aussagen im Ukraine-Krieg kritisiert. Kirchenhistoriker Jörg Ernesti sieht im Vergleich zu früheren Kriegen dagegen eine "schon fast fieberhafte Aktivität" des Vatikan, sagt er im Interview.

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Der Augsburger Theologe und Kirchenhistoriker Jörg Ernesti hält die Kritik an den diplomatischen Aktivitäten des Papstes im Ukraine-Krieg für nicht gerechtfertigt. Im Interview beschreibt er, welche Chancen er für eine Vermittlung des Vatikan sieht. Ernesti hat vor kurzem ein Buch über die Außenpolitik und die Friedensbemühungen des Vatikan seit 1870 veröffentlicht.

Frage: Professor Ernesti, angesichts des Krieges in der Ukraine hat sich Papst Franziskus von Anfang an als Diplomat eingeschaltet. Aber gerade das stieß auf Kritik. Manche werfen ihm zuviel Zurückhaltung gegenüber Russland vor. Sollte der Papst hier weitergehen?

Ernesti: Franziskus wird von den meisten Zeitgenossen als der große Neuerer erlebt, der mit vielen alten Traditionen bricht. Das gilt nach meiner Einschätzung nicht für die Außenpolitik. Hier steht er ganz auf den Schultern seiner Vorgänger. Zwar verurteilt er den Ukrainekrieg und die Gewalt gegen Unschuldige, doch hält er sich mit Anklagen gegen den Aggressor und seine Helfer zurück. Diese Vorgehensweise hat im Vatikan Tradition. Würde man eine der Kriegsparteien verurteilen, wäre an eine Friedensvermittlung nicht mehr zu denken. Ich persönlich bin überzeugt, dass der Papst hier nicht die Türen zuschlagen möchte.

Frage: Sie haben kürzlich mit ihrem neuesten Buch "Friedensmacht" einen Überblick über die Friedensdiplomatie der Päpste gegeben. Können Sie Beispiele für erfolgreiche Friedensvermittlung nennen?

Ernesti: Einen ersten Erfolg konnte man 1885 vorweisen, als Leo XIII. zwischen Spanien und dem Deutschen Reich im Streit um die pazifischen Karolinen-Inseln vermittelte. Johannes Paul II. trug 1980 durch seinen Schiedsspruch dazu bei, dass es nicht zu einem Krieg zwischen Argentinien und Chile wegen des Beagle-Kanals kam. 2014 leistete der Heilige Stuhl Geburtshilfe, damit es zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Kuba und den USA kommen konnte.

Frage: Und wo sind die vatikanischen Friedensbemühungen gescheitert?

Ernesti: Auch wenn sie dem Papsttum viel moralisches Prestige einbrachte, fand die Friedensnote Benedikts XV. vom 1. August 1917 bei den Kriegsparteien im Ersten Weltkrieg keinen Anklang. Paul VI. hätte gern im Vietnamkrieg vermittelt und wäre sogar bereit gewesen, selbst in das Land zu reisen. Die Großmächte hatten aber kein Interesse an einer päpstlichen Intervention. Ähnliche Erfahrungen musste auch Johannes Paul II. machen. Der Papst aus Polen hat sich massiv dafür eingesetzt, dass es nicht zum zweiten und dritten Irak-Krieg kam.

 Jörg Ernesti
Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA

Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg.

Frage: Während in Russland die Orthodoxie zumindest öffentlich treu an der Seite der Regierung steht, gilt das auch für die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine. Zugleich finden Orthodoxe und unierte Katholiken in der Ukraine zusammen ...

Ernesti: Die griechisch-katholische Kirche, die besonders stark in der Ukraine vertreten ist, hat in der Sowjetunion eine schlimme Verfolgungszeit erlebt. Die Kommunisten wollten die romtreuen Christen der russisch-orthodoxen Kirche einverleiben, und diese war froh, einen lästigen Konkurrenten loszuwerden. Seit 1989 können sich die unierten Christen in der ehemaligen Sowjetunion wieder frei betätigen. Viele Wunden sind aber seitdem verheilt. Ich persönlich finde es beeindruckend, dass die griechisch-katholischen und die orthodoxen Christen in der Ukraine angesichts des Krieges zusammengefunden haben.

Frage: Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Videokonferenz des Papstes und des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. ein?

Ernesti: Johannes Paul II. wusste darum, dass Religionen Unfrieden stiften können – er war aber auch überzeugt, dass sie ein ganz starkes Friedenspotenzial entwickeln können. Aus diesem Geist hat er Kirchen- und Religionsführer 1986 zum ersten Weltfriedenstreffen nach Assisi eingeladen. Daran hat Franziskus erkennbar angeknüpft, als er Kyrill um ein Gespräch gebeten hat. Der Patriarch ist inhaltlich überhaupt nicht auf die vatikanische Linie eingeschwenkt, insofern er den Krieg nicht eindeutig verurteilt hat. Aber das Gespräch hat schon darin seinen Wert, dass es überhaupt stattgefunden hat.

Frage: Wie beurteilen Sie die Aussichten auf eine diplomatische Vermittlung durch den Papst?

Ernesti: Im Vergleich zu früheren Kriegen entfaltet der Vatikan im Moment eine schon fast fieberhafte Aktivität. Zweimal hat der Papst mit dem ukrainischen Präsidenten telefoniert, er hat zwei enge Mitarbeiter in das Land entsandt, Kardinalstaatssekretär Parolin hat mit dem russischen Außenminister Lawrow telefoniert. Aber gegen den Willen des Moskauer Patriarchen wird der Papst nicht ins Spiel kommen. Vielleicht bietet gerade der Einsatz des Heiligen Stuhls, der keine eigenen politischen oder wirtschaftlichen Interessen hat, für beide Seiten eine gute Möglichkeit, gesichtswahrend aus dem Konflikt herauszukommen.

Frage: Wird Franziskus die Einladung von Präsident Selenskyj, in sein Land zu reisen, annehmen?

Ernesti: Ich persönlich glaube, dass er sicher gerne nach Kiew fahren würde. Aber solange noch eine Chance für eine Friedensvermittlung besteht, wird er von einem Besuch absehen. Denn seine Anwesenheit in Kiew würde in Russland sicher als Parteinahme zugunsten der Ukraine gedeutet.

Von Simon Kajan (KNA)