Suche nach einfachem Leben
"Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche" sinnierte der griechische Philosoph Sokrates beim Gang über den Athener Markt. Diogenes, ebenfalls ein Philosoph der griechischen Antike, wird bis zur heutigen Zeit als Repräsentant der Bedürfnislosigkeit zitiert. Er soll in einer Tonne gehaust und dort über das Leben nachgedacht haben. Mehr als 400 Jahre später empfahl Jesus Christus seinen Jünger, keine Schätze auf der Erde zu sammeln (Matthäus 6,19).
Im 13. Jahrhundert mahnte der Mönch und Ordensgründer Franz von Assisi : "Wenn jeder einzelne darauf verzichtet, Besitz anzuhäufen, dann werden alle genug haben." Im rechten Maß zu leben, war immer schon oberstes Gebot für Mönche und Nonnen. Das "Ora et labora" des Heiligen Benedikt bestimmt bis heute den klösterlichen Alltag. Dazu gehören neben dem regelmäßigen Beten klare Tagesstrukturen und ein diszipliniertes, pflichterfülltes Leben. Menschen, die einmal einige Tage in einem Kloster verbracht und sich eine Auszeit gegönnt haben, spüren hautnah, wie gut ein solcher Lebensstil tut. Manche bewegt es – zumindest eine Zeit lang - ihr Leben zu vereinfachen, um so zu ihrer Mitte zu finden.
Gegenprogramm zum "Immer mehr"
Vom einfachen Leben zu träumen, setzt allerdings einen gewissen Wohlstand voraus. Wo Not und Mangel herrschen, haben Menschen alle Hände voll zu tun, ihre Existenz zu sichern. Der Traum von Einfachheit erweist sich hier als Farce. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Gesetz des Wirtschaftswachstums. Alle waren froh, dass es wieder aufwärts ging. Arbeit und Wohlstand wuchsen stetig.
Ein Bewusstseinswandel – vor allem in der jungen Generation – machte Ende der 1960-er Jahre von sich reden. In den USA bildeten sich erste Kommunen der Hippies. Diese Welle schwappte nach Europa über. Die Hippies kultivierten die Bedürfnislosigkeit, verachteten die Konsumgesellschaft und stellten die Lebensentwürfe ihrer Eltern und Großeltern infrage. Sie lehnten sich auf gegen das bürgerliche Leben mit seinen Konventionen und dem Besitz- und Sicherheitsdenken. Angesichts des Vietnamkrieges lautete die Parole "Make love, not war".
Nach einigen Jahren des Misstrauens und der Anfeindungen arrangierte sich die Gesellschaft mit den Aussteigern. Hippie-Kleidung, -musik und –filme wurden produziert, die Vorstellungen einer Welt ohne Machtstreben und Besitzansprüche damit relativiert. Ein wenig Gegenwind erfährt die Gesellschaft heute von der Friedensbewegung, von Umweltorganisationen, von Tierschützern, von christlichen Initiativen, die sich gegen das Mehr, Größer und Schneller unserer modernen Zeit zur Wehr setzen und Gegenprogramme entwerfen.
Die Sehnsucht nach Einfachheit
Das Thema "Einfach leben" zieht sich heute durch alle Altersgruppierungen und Gesellschaftsschichten. Immer mehr Menschen krempeln ihr Leben um. In seiner Sendereihe 37 Grad berichtete das ZDF von einem Opernsänger, der mit 40 Jahren seinen Beruf an den Nagel hing, um die Familienalp, auf der er aufgewachsen war, weiterzuführen: Statt Großstadtleben und Oper gab es nun Rinder, Schafe und Ziegen. Promis wie Hape Kerkeling nehmen sich Auszeiten und pilgern auf dem Jakobsweg . Erfolgreiche Projekte wie der monatlich erscheinende "einfach-leben-Brief" des Benediktinerpaters Anselm Grün befriedigen die Sehnsucht nach einem neuen, einfachen Lebensstil.
Die dazu passenden Bücher schaffen es auf die Bestsellerlisten. Auch Zeitschriften, die das Leben auf dem Land und Nähe zur Natur anpreisen, haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt.
Auf der Suche nach Lebenssinn
Was bewegt Männer und Frauen, Junge und Alte auszusteigen aus ihren bisherigen Alltagsstrukturen? Was lässt sie bescheidener werden im Konsum und nachdenklicher, wenn sie von Missständen in Textilfabriken hören, in denen die Ärmsten der Armen unter unsäglichen Bedingungen Kleidungsstücke für europäische Modekonzerne herstellen? Immer mehr sehen die Notwendigkeit einer Abkehr vom Wachstumsdenken angesichts globaler Krisen und sind bereit, ihre Art zu leben und zu wirtschaften auf den Prüfstand zu stellen.
Innerhalb der letzten Jahre wächst das Unbehagen am materiellen Fortschrittsdenken. Die Mahnung vieler Umweltorganisationen ist scheinbar angekommen. Immer mehr Menschen haben erkannt, dass es so nicht mehr weiter geht. Manche versuchen ökologisch bewusster zu leben, indem sie vom Auto aufs Fahrrad umsatteln, ihren Energieverbrauch reduzieren, weniger Fleisch essen, regionaler einkaufen.
Doch die Sehnsucht nach einem einfachen Leben kommt nicht nur im ökologischen Gewand daher. Menschen befinden sich heute zunehmend auf der Suche nach Sinn in ihrem Leben. Mark Aurel, ein römischer Kaiser und Philosoph im zweiten nachchristlichen Jahrhundert sagte einmal zu sich selbst: "Lass keine Unruhe in dir aufkommen, werde einfach." Die moderne Glücksforschung bestätigt, was die alten Weisheitslehrer predigten: Wer einfach und damit zufrieden leben möchte, muss etwas in seinem Inneren ändern. Denn dort lauert ein starker Gegenspieler – der Wunsch nach Mehr, die Habgier. Die beste Gegenstrategie: sich immer wieder Zeiten der Selbstbeschränkung auferlegen und versuchen, ein Leben nach Maß zu führen. Dazu gehört, sich um Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Freizeit, Ruhe und Bewegung, Essen und Fasten, Kaufen und Verzichten zu bemühen.