Niemand ist eine Insel
Julie W. (Name geändert) lag mehrere Wochen tot in ihrer Bonner Wohnung, ohne dass sie jemand vermisste. Erst als die Wohnung von Amts wegen zwangsgeräumt wurde, fiel ihr Tod auf. Hannelore Schmitz von der Stadt Bonn berichtet: "An ihrem 32. Geburtstag war sie schon zwei Monate tot. Es sah entsprechend aus, ich musste die Beisetzung sofort veranlassen." Schmitz kümmert sich im Bonner Amt für Stadtgrün um ordnungsbehördliche Bestattungen für Verstorbene ohne Angehörige. Im Jahr sind das rund 180 Fälle, vor sechs Jahren waren es 80. Der Leiter der Verwaltungsabteilung im Amt für Stadtgrün, Heinz-Josef Houf, sagt: "Die Zahl der Fälle, in denen sich keiner kümmert, nimmt dramatisch zu." Dann kommt die Stadt Bonn ins Spiel. Wenn keine zahlungsfähigen Angehörigen ermittelt werden können, begleicht die Stadt die Kosten für Bestatter, Trauerfeier und Beisetzung. Insgesamt stehen dafür rund 500.000 Euro pro Haushaltsjahr zur Verfügung.
Das Gedenken für die Unbedachten organisiert in Bonn die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. Dreimal im Jahr lädt die AG zu ökumenischen Gottesdiensten ein. Eine Feier in der Kirche St. Cyprian trägt die Überschrift "Ich habe keinen Menschen". Die altkatholische Pfarrerin Henriette Crüwell begrüßt mehr als 30 Christen: "Wir wollen jener Menschen gedenken, die allein gestorben sind und deren Tod niemand beklagt." Dabei handle es sich um Alte und Obdachlose, Alleinstehende und Verlassene. "Es sind Unbedachte, deren Namen schon vergessen sind, kaum dass sie verstorben sind." Die Botschaft der christlichen Kirchen lautet: Gott vergisst sie nicht. Crüwell sagt: "Wir sind alle in seine Hand hineingeschrieben." Der evangelische Pfarrer Ernst Jochum sagt: "Ich kenne nicht die Umstände, in denen sie gelebt haben. Es mögen Schuld und Versagen eine Rolle gespielt haben. Aber das ist kein Grund, sie auszuschließen."
82 Namen im "Buch des Lebens"
Die Christen tun das Gegenteil. Pfarrerin Crüwell und der evangelische Pastor Herwig Mauschitz verlesen die Namen aller 82 Unbedachten. Wolfgang Knoch (Ev. Kirchenkreis) und Claudia Hamelbeck (St. Cyprian) entzünden für jeden Verstorbenen eine Kerze und stellen sie in einen von fünf Tontöpfen vor den Altar. Die letzte Kerze stellt Pfarrerin Crüwell auf "für alle, die wir hier nicht genannt haben". Die 82 Namen stehen im "Buch des Lebens", das in einem Nebenraum der Kirche ausgestellt ist. Die Gottesdienstbesucher unterschreiben als Zeugnis ihrer Anteilnahme. Der Dichter John Donne hat treffend unter der berühmten Einleitung "Niemand ist eine Insel" geschrieben: "Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn mich betrifft die Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; es gilt dir selbst."
Claudia Hamelbeck sagt, so ein Gottesdienst mache einem bewusst, "wie gut es einem selbst geht". Eine andere Teilnehmerin meint: "Dass die niemand mehr haben!" Sie habe selbst erlebt, wie Menschen aus ihrem Umfeld spurlos verschwanden. Etwa der freundliche Klaus aus der Kneipe: "Plötzlich war er weg." Eine andere Christin sagt: "Im Anfang waren die Menschen, deren Namen heute genannt wurden, sehr willkommen in der Welt." Ein Christ erzählt von einer Großtante, die anonym bestattet wurde. "Später stellte sich heraus, dass sie eine sechsstellige Summe hinterlassen hatte. Als es was zu erben gab, waren sie alle da." Hannelore Schmitz von der Stadt stößt bei ihren Recherchen immer wieder auf haarsträubende Familiengeschichten. "Es gibt auch Fälle, in denen körperliche oder sexuelle Gewalt im Spiel war." Den Satz eines Sohnes wird Hannelore Schmitz nicht vergessen: "Ihr könnt meinen Vater von mir aus im Garten verscharren."
Die Kommunen greifen ein
Genau das macht die Stadt Bonn aber nicht. Das zeigt ein Besuch auf dem Nordfriedhof bei Walter Meyer, Gärtnermeister und Friedhofsverwalter seit 1978. Meyer erläutert, dass die ordnungsbehördlichen Bestattungen bisher als so genannte Erd- oder Körperbestattungen in pflegefreien Reihengräbern vorgenommen wurden. Seit einem entsprechenden Ratsbeschluss sind die weitaus günstigeren Feuerbestattungen die Regel. Trotzdem werden Wünsche von Verstorbenen oder religiöse Gründe für Erdbestattungen wie bei Muslimen oder Juden berücksichtigt. "Wenn kein Einwand vorliegt, wird eingeäschert", sagt Meyer beim Gang über den größten Bonner Friedhof. Er berichtet, dass die Beisetzungen Unbedachter häufig sehr anrührend seien: "Das sieht schon sehr armselig aus, wenn hinter dem Sarg nur der Pastor, zwei Messdiener und nur einige wenige Leute hergehen."
Im nördlichen Teil des Friedhofes befindet sich das pflegefreie Gräberfeld, auf dem quadratische Grabplatten liegen. "Jeder bekommt so einen Stein aus Belgisch Granit", sagt Meyer. Rolf, Christa, Ruth und Marie lauten einige Vornamen. 90 Prozent sind Unbedachte, schätzt Meyer. Da es künftig mehr Feuerbestattungen geben wird, bereiten Meyer und seine Mitarbeiter nun verstärkt viele kleine Urnenreihengräber auf diesem Teil des Friedhofs vor.
Trauriger Abschied von Max B.
Max B. (Name geändert) wird bald vergessen sein. Seine fünf Kinder dachten schon vor seinem Tod nicht mehr an ihn. Das berichtet seine Betreuerin Dora D. (Name geändert) vor der ordnungsbehördlichen Beisetzung auf dem Bonn-Beueler Friedhof. "Vor sechs Jahren habe ich am Grab von Frau B. gestanden. Da war auch kein Kind da." Nun sind es nur einige Nachbarn, die Max B. auf seinem letzten Weg begleiten. Daniel Müller hält am Grab die Trauerrede. Der Inhaber des Bestattungshauses Gottfried Büchel III sagt Sätze, die zwangsläufig an der Oberfläche bleiben wie "Alle, die Sie heute hier sind, hatten ein ganz eigenes Verhältnis zu dem Verstorbenen".
Müller erzählt von der Raupe und ihrer Wiederauferstehung als Schmetterling. Er verdeutlicht, was uns Lebende mit dem Toten verbindet: "Der Anblick der Grabstelle mahnt uns, an unsere eigene Sterblichkeit zu denken." Nach dem Vaterunser lässt Müllers Mitarbeiter Jürgen Bachmann die Urne an zwei Bändern in das Grab sinken. Jeder wirft eine Handvoll Rosen hinterher. So klein diese Gruppe auch ist, sie nimmt gemeinsam Abschied. Die Beisetzung selbst dauert eine Viertelstunde. Hannelore Schmitz von der Stadt Bonn hat schon viele zerstrittene Familien erlebt, die selbst der Tod nicht wieder an einen Tisch bringen konnte. Andererseits gab es unverhoffte Zusammenführungen wie bei zwei Halbgeschwistern, die erst nach dem Tod des Vaters voneinander erfuhren. Eins ist ihr besonders wichtig: "Wir sollten nie vergessen, dass wir es mit Menschen zu tun haben."