Von fröhlichen Zechern und tragischen Sängern
August Broichschütz war ein geselliger Mensch. Einer, der wusste, wo es am schönsten ist: an der Theke. Die meiste Zeit seines Lebens hat der Kölner in einer Kneipe verbracht. Immer in der Nähe eines wärmenden Ofens, immer ein leckeres Bier in Reichweite, bis er im Alter von 52 Jahren starb.
Das ist mittlerweile 136 Jahre her. Die bierselige Frohnatur starb im Jahr 1874. Und doch ist die Erinnerung an ihn lebendig. Jeden Tag wird aufs Neue seine Geschichte auf dem Kölner Melaten-Friedhof erzählt – von seinem Wirt. Zwar hat dieser auch schon längst das Zeitliche gesegnet, ließ es sich aber zuvor nicht nehmen, seinem guten Kunden ein stilechtes Denkmal zu errichten. Broichschütz' Grabstein weist nicht nur seine Lebensdaten aus, sondern auch einen kurzen Hinweis auf seine Lieblingsbeschäftigung. Krönendes Element des Steines ist ein Modell eben jenes Ofens, an dem es sich der Zecher immer gemütlich machte.
Broichschütz' Grab liegt am südlichen Rand des 43 Hektar großen Gräberfeldes. Nur eine ein Meter dicke Betonmauer trennt die von Büschen umfasste letzte Ruhestätte von der Aachener Straße, einer der zentralen Verkehrsachsen Kölns. Zehntausende Autos brettern täglich neben der Mauer her. In den vergangenen 200 Jahren ist die Stadt um den Friedhof herum gewachsen. Bei seiner Einweihung 1810 durch Dompfarrer Michael Joseph DuMont lag der Friedhof noch weit vor den Toren der Stadt. Eine Anordnung Napoleons, der damals das Rheinland besetzt hielt, untersagte aus hygienischen Gründen Beerdigungen innerhalb von Städten, Dörfern und geschlossenen Gebäuden. So entstand nach Plänen des Botanikers und Theologen Ferdinand Franz Wallraf auf dem Gelände des ehemaligen Asyls für Leprakranke ein Friedhof.
Engagierte Bürger kämpfen für das Gesamtensemble Friedhof
Heute ist Melaten, umgeben von der hektischen Großstadt, eine Oase der Ruhe und ein Platz der Andacht. Ein Ort des Todes sei der Friedhof aber nicht, findet jedenfalls Susanne Franke. "Melaten ist ein Ort des Lebens", sagt die Mitgründerin des gleichnamigen Freundeskreises, "und dazu noch unglaublich spannend." Die gebürtige Gelsenkirchenerin verbringt viel Zeit auf dem Friedhof. Nicht nur zurzeit, da sie eine kleine Ausstellung zur Historie der Anlage betreut. Ihr Engagement für Melaten sei "quasi aus Wut" entstanden. Wut über die Stadt Köln, die im Jahr 2008 wieder damit begonnen habe, Gräber mit abgelaufenen Ruhefristen einzuebnen und deren Grabsteine zu entsorgen. Ein Unding, finden Franke und die anderen rund 140 Friedhofsfreunde. Für sie ist der Friedhof als Gesamtensemble erhaltenswert.
Von Broichschütz‘ letzter Ruhestätte am Rand des Friedhofs führen Wege in das Herz Melatens. Diese Wege, wären nicht Gräber an ihren Rändern, würden jedem Naherholungsgebiet Ehre machen. In der Tat hatte Wallraf den Gottesacker bewusst als Erholungsstätte angelegt. Meterhohe Platanen, Ahorne, Birken und andere Bäume wölben sich um die Gräber herum, fast so als wollten sie das zeitlose Andenken an die Verstorbenen vor der schnelllebigen Gegenwart außerhalb der Friedhofsmauern schützen. In der Tat werden die Geräusche der Autos auf der Aachener Straße umso leiser, je mehr sich der Besucher in das Innere der grünen Oase begibt.
Der Gang durch große, prächtige Alleen und kleine, verschlungene Pfade, die von rund 55.000 Gräbern gesäumt sind, ist ein Ausflug in lebendig gewordene Geschichte. Dekadent anmutende Gräber bekannter Kölner Familien entführen den Friedhofsbesucher in die Ära großbürgerlichen Selbstbewusstseins im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zum Beispiel das Monumentalwerk der Familie Deichmann, eine Bankiersfamilie, deren Patriarch Wilhelm Ludwig (1798 - 1876) zu den Gründern der Deutschen Bank gehörte. Stolze 16,5 Meter ist das Grab lang. "Das hat schon Ausmaße einer Kegelbahn", scherzt Franke.
Auf der Millionärsallee wird geprotzt, was das Zeug hält
Die im Volksmund so genannte Millionärsallee, entlang der neben Deichmann auch andere Prominente aus Politik, Wirtschaft und Kultur ruhen, ist eine Art Laufsteg der Kunstgeschichte. Aufwendig gestaltete christliche Symbole wie die Skulptur von Jesus, der ein Schaf aus einem Dornenbusch rettet, stehen in mittelbarer Nähe zu Motiven der ägyptischen Mystik. Abseits der Allee sind die Gräber neueren Datums weniger pompös und simpler, mitunter aber auch abstrakter angelegt. Einfache, aber liebevoll gestaltete Bereiche wie der Auengarten, der ohne Grabsteine und Einfassungen auskommt, weisen den Weg in die mögliche Zukunft einer völlig neuen Bestattungskultur; buddhistische und islamische Gräber legen Zeugnis einer sich wandelnden Gesellschaft ab.
Jedes Grab erzählt eine Geschichte, mal eine heitere, wie die des trinkfreudigen August Broichschütz, mal eine traurige. Weit entfernt von Broichschütz' Grabstätte, fast am anderen Ende des Friedhofs ist beispielsweise die Tragödie des Wolfgang Anheisser in Stein gemeißelt. Der Kölner Opernsänger starb 1974 mit nur 45 Jahren direkt vor seinem Publikum. Bei einer Aufführung der Operette "Der Bettelstudent" stürzte er von einer Kulisse auf die Bühne. Passend dazu hat sein Grabstein die Form einer Stimmgabel, bei der ein Zinken bewusst verkürzt wurde. "Wenn bei einem Stein scheinbar etwas fehlt oder abgebrochen aussieht, ist das ein Symbol für ein zu kurzes Leben", sagt Friedhofsexpertin Franke.
Im Busch neben Anheissers Grab raschelt etwas. Plötzlich kommt ein Vogel zwischen den Zweigen hervor, schaut sich kurz um und schießt in den Himmel. Weitere folgen, dann zieht ein ganzer Schwarm eine Runde in den Wolken. "Hier kann man Natur hautnah erleben", konstatiert Franke. "Schließlich ist Melaten ein ausgewiesenes Landschaftsschutzgebiet." Rund 40 Vogelarten sollen auf dem Friedhof eine Heimat gefunden haben – auch Eichhörnchen, verwilderte Katzen und Füchse wurden schon auf den Wegen und zwischen den Sträuchern gesichtet. Leben und Tod gehören hier eben zusammen.