Gänswein-Buch zu Benedikt XVI.: Hintergründe, Dramen und Indiskretion
Benedikt war noch nicht beerdigt, da kursierten erste Textfragmente aus einem "Enthüllungsbuch" seines langjährigen Privatsekretärs Georg Gänswein, der zwischen Abschiednehmen und Umzug medial präsent war, wie lange nicht. Dem amtierenden Papst habe dieser Rummel nicht gefallen, hieß es und auch Gänswein habe sich – im Anschluss an die Beisetzung seines ehemaligen Chefs – bemüht, eine zeitnahe Veröffentlichung des offensichtlich erst nach dem Tod Benedikts fertiggestellten Opus zu verhindern. Seit Donnerstag ist besagtes Buch nun in Italien erhältlich – in Deutschland wird es wohl Ende Februar erscheinen, wie Herder-Geschäftsführer Simon Biallowons im domradio.de-Interview erklärt. Katholisch.de hat einen Blick in die italienische Ausgabe geworfen.
Gänsweins durchaus lesenswertes Buch lässt sich grob in drei Themenfelder teilen. Den größten Teil nehmen Hintergrundinformationen aus seiner Zeit als Sekretär Ratzingers und Benedikts XVI. ein. So erfahren Leserinnen und Leser beispielsweise Spannendes über die Stunden vor der Wahl des deutschen Papstes zwischen der Unterkunft der Kardinäle im Gästehaus Santa Marta und Sixtinischer Kapelle (inklusive des gescheiterten Versuches, dem Neugewählten Pontifex den schwarzen Pullover unter der nun weißen Soutane auszuziehen). Ebenso gewährt Gänswein immer wieder Einblicke in Prozesse päpstlicher Personalentscheidungen, den vatikanischen Alltag zwischen Apostolischem Palast und Sommerresidenz oder entspannte Stunden auf der papalen Couch. Leserinnen und Leser erfahren nun endlich: Benedikt trug immer weiße Soutane, keine Schuhe von Prada und der Whirlpool im Apostolischen Palast blieb trocken.
Bei der Lektüre der über 300 Seiten entsteht ein vertrautes Bild der "päpstlichen Familie" – so heißt das engste Umfeld des Papstes. Dabei seien sie untereinander immer beim förmlichen Sie geblieben, schreibt Gänswein – auch wenn Benedikt ihn stets "Don Giorgio" genannt habe. Immer wieder sind diese Geschichten mit persönlichen Einlassungen Gänsweins garniert, die einen zweiten Teil des Buches ausmachen: Tragödien und Reibereien im Schatten von Sankt Peter. Animositäten mit seinem Vorgänger im Sekretärsamt und jetzigen Kurienbischof Josef Clemens nehmen ebenso breiten Raum ein wie Unstimmigkeiten mit anderen Angestellten des päpstlichen Hauses oder die obligatorische Medienkritik kirchlicher Hierarchen.
Päpstliche Verdauung und Gesundheit
Den kleinsten Teil des Buches nehmen – fast schon geschmacklose – Einlassungen zur päpstlichen Verdauung oder Gesundheit ein, die der ehemalige Privatsekretär mit den Leserinnen und Lesern teilt – spätestens hier stellt sich die Frage: Cui bono?
Für den Hauptteil des Buches – die Hintergrundinformationen zum Pontifikat Benedikts – lässt sich die Frage des Nutzens leicht beantworten. Das Buch soll nicht nur ein "persönliches Zeugnis für die Größe eines sanftmütigen Mannes, eines ausgezeichneten Gelehrten, eines Kardinals und eines Papstes, der in unserer Zeit Geschichte gemacht hat und der als ein Leuchtfeuer theologischer Kompetenz, lehrmäßiger Klarheit und prophetischer Weisheit in Erinnerung bleiben sollte" sein, wie Gänswein auf den ersten Seiten betont. Sondern die Vielzahl der darin enthaltenen Informationen geben einen seltenen Einblick in die Amtsgeschäfte des Stellvertreter Christi auf Erden. Dass es sich dabei sicher zum Teil auch um gelenkte Geschichtsschreibung der päpstlichen Camarilla handelt, schmälert die Bedeutung nicht.
So skizziert Gänswein beispielsweise die Tage rund um den Tod Johannes Pauls II. und spricht retrospektiv von einem besonderen Wahlkampf Ratzingers. Ratzinger habe diesen Wahlkampf jedoch umgekehrt führen wollen – "um die möglichen Anhänger davon zu überzeugen, ihn abzusetzen, anstatt ihn zu unterstützen”. Gänswein sah das Agieren und Predigen seines Chefs als Warnung an seine Kardinalskollegen: "Beschwert euch anschließend nicht, dass ich euch nicht klar gemacht habe, wie ich denke!"
Gänswein widmet sich immer wieder Anekdoten und Legenden aus Benedikts Amtszeit und versucht sich an einer abschließenden Klärung aus berufenem Munde. So habe der Neugewählte Benedikt entgegen kursierenden Gerüchten seine Wahl nicht mit elaborierten Worten, wie sie von verschiedenen Kardinälen kolportiert worden seien, angenommen, sondern mit einem einfachen "accepto". Auch beschreibt Gänswein ausführlich, wie es zur Aufhebung der Exkommunikation der Piusbrüder kam oder wie einzelne Lehrschreiben Benedikts sowie dessen Jesus-Trilogie entstanden.
Vehementer Widerspruch gegen Gegenpapst-Legenden
Gleiches gilt für die zehn Jahre nach seinem Rücktritt. Auch hier greift Gänswein eine Vielzahl von Gerüchten und Legenden auf. Ausführlich beschreibt Gänswein wie Benedikts Rücktritt 2012 und 2013 vorbereitet wurde, wer wann davon wusste und wer an der Abfassung und Überarbeitung der Rücktrittsrede beteiligt war. Hier zeigt sich eine weitere Besonderheit des Gänswein-Buches: Gänswein nutzt die Seiten, um den in Italien und sehr konservativen Kreisen kursierenden Vorstellungen eines Gegenpapsttums entschieden zu widersprechen. Die Vehemenz, mit der er diese Gedanken zurückweist, ist auffällig.
So habe Benedikt nur deshalb keine spezifischen Regelungen für die Rolle des Papa Emeritus geschaffen, weil er aufgrund seiner Todeserwartung keine Notwendigkeit dafür sah. Ebenso berichtet Gänswein von mehrmaligen Ergebenheitsadressen Ratzingers an seinen Nachfolger. "Und dann feierte er immer die Heilige Messe, unter der Woche auf Italienisch und am Sonntag auf Latein, wobei er das Römische Messbuch von Paul VI. benutzte und natürlich das eucharistische Gebet mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Gemeinschaft mit dem amtierenden Papst Franziskus sprach, wie alle, die mit ihm konzelebriert haben, bezeugen können", betont Gänswein.
Insgesamt sei das Verhältnis von Benedikt und Franziskus gut gewesen. Bei ihren gemeinsamen Treffen habe Franziskus in der Regel ein Geschenk in Form von Wein und einem Glas Dulce de Leche, eine "schmackhafte Milchcreme aus Argentinien" mitgebracht. "Benedikt revanchierte sich mit Limoncello, den die Memores aus Zitronen aus unserem Garten herstellten, und mit typisch bayerischen Süßigkeiten, zum Beispiel zur Weihnachtszeit mit Lebkuchengebäck."
Benedikts Lieblingslektüre: Gefängnisgeschichten von Kardinal Pell
War kein Besuch da, sei in der päpstlichen Familie vor allem theologisch gearbeitet und gelesen worden: Benedikt habe "immer die Fernsehnachrichten gesehen und hatte Zugang zum umfangreichen Pressespiegel des Staatssekretariats sowie zur vatikanischen Tageszeitung "L'Osservatore Romano", zur deutschen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und zur katholischen Wochenzeitung "Die Tagespost"". Beim Schauen der Nachrichten habe es nie einen Kommentar gegeben – "höchstens einen Meinungsaustausch beim anschließenden Spaziergang". In jüngerer Zeit habe Benedikt es vorgezogen, sich Zeitungsartikel oder Bücher vorlesen zu lassen, "wobei er meist zwischen einer biografischen Erzählung und einem theologischen Essay wechselte (zu den Texten, die Benedikt so gerne las, gehörten die Erinnerungen von Kardinal George Pell an seinen Prozess und seine Inhaftierung in Australien)", berichtet Gänswein.
Sind diese Informationen kirchenpolitisch durchaus interessant, lässt sich die Frage des Mehrwerts in der ausführlichen Schilderung persönliche Animositäten Gänsweins nicht so leicht beantworten. Der französische Journalist Frédéric Martel schreibt in seinem Buch "Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan" auch über das Miteinander Gänsweins, Clemens und Ratzingers. Gänswein nutzt nun die Möglichkeit seine Sicht der illustren Geschichte darzulegen: "Ich persönlich hatte schon eine gewisse Eifersucht von Clemens auf mich gespürt, seit ich ihn im Sekretariat des Präfekten ersetzt hatte." Als Gänswein "praktisch der Einzige" gewesen sei, der keine Einladung zur Bischofsweihe Clemens' bekommen habe, sei ihm klar geworden, dass sich ihr Verhältnis gewandelt habe. "Unmittelbar nach der Wahl Benedikts erfuhr ich von seinen unangenehmen Einschätzungen über mich, die ich jedoch nicht sonderlich beachtete. Ich begann jedoch, meine Ohren zu spitzen, um den Papst vor jeglichem Machtspiel zu schützen, vor allem, wenn es sich um ‘friendly fire’ um ihn herum handelte." Zu körperlichen Auseinandersetzungen sei es jedoch nie gekommen. Folgt man den Ausführungen Gänsweins war auch das Verhältnis zur damaligen Haushälterin Ingrid Stampa recht angespannt.
Auch zeugen einige Stellen im Buch von Gänsweins Verletzungen, die ihm Papst Franziskus zugefügt habe. So kann die demonstrative Betonung des Kontaktes zwischen Santa Marta und Mater Ecclesiae nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gänswein und Papst Franziskus keine gemeinsame Arbeitsebene gefunden haben. Seine Freistellung als Präfekt des Päpstlichen Hauses (2020) habe er als Demütigung wahrgenommen. 2016 habe Franziskus entschieden, dass er nicht die dem Präfekten zustehende Wohnung im Apostolischen Palast beziehen werde und ihn schon früh von obligatorischen Terminen ausgeladen, was zu Unruhe und Verwunderung in Rom geführt habe.
Bis zum Tod lebten Gänswein und Benedikt gemeinsam mit vier Schwestern des Frauenzweiges der Gemeinschaft Comunione e Liberazione im Kloster Mater Ecclesiae. Die Frauen sorgten auch für den Haushalt. Während der Woche sei die Ernährung der päpstlichen Familie klassisch mediterran gewesen: "Frühstück mit Zitronentee, dazu Brot mit Marmelade und ein Joghurt; Mittag- und Abendessen mit abwechselnden ersten Gängen aus Nudeln oder Reis, Hauptgerichten aus Fisch oder weißem Fleisch (seltener ein Filet), einer Beilage aus Gemüse oder Kartoffeln in verschiedenen Zubereitungsarten, Obst und manchmal einem Dessert". Nur das sonntägliche Abendessen sei auf bayerischer Art, etwas rustikaler gewesen, "mit Schwarzbrot, Würstchen und Bratwürsten, manchmal Leberkäse und natürlich Bier".
Dank Fanta: Keine Verdauungsprobleme
Auch dem Fantatrinken sei Benedikt treu geblieben, schreibt Gänswein; um dann hinzuzufügen: "Und ich muss sagen, dass er nie irgendwelche Verdauungsprobleme hatte!" An dieser Stelle ist das "Cui bono?" nicht mehr zu beantworten. Ähnliches gilt für die Aufzählung medizinischer Anwendungen und Notfälle, die über das gesamte Buch verstreut sind und die Leserinnen und Leser ratlos zurücklassen.
Gänsweins Buch bietet – anders als der Medienrummel rund um die Beisetzung Benedikts vermuten ließ – weniger Angriffe auf den amtierenden Papst als spannende Einblicke in das Denken und Handeln der päpstlichen Familie. Die Ausführungen zur Arbeitsweise des Apostolischen Palastes und die eindeutige Zurückweisung sedisvakantistischer Allüren sind wichtig und aufschlussreich. Dank seiner Ausführlichkeit hilft das Buch, das Pontifikat Benedikts aus dem Selbstverständnis seines engsten Umfelds wahrzunehmen und so besser zu verstehen.
Das Buch
Seit Donnerstag gibt es Georg Gänsweins Buch in Italien zu kaufen – in Deutschland wird es wohl Ende Februar im Herder-Verlag erscheinen.