Standpunkt

Johannes Paul II. darf bei der Aufarbeitung nicht sakrosankt sein

Veröffentlicht am 18.04.2023 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Bedingungsloser Vertrauensvorschuss gegenüber charismatischen Klerikern gehört zum Spezifikum von Missbrauch in der Kirche – auch im Umgang mit Vorwürfen gegen Johannes Paul II., kommentiert Felix Neumann.

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Der Umgang in Polen und im Vatikan mit Vertuschungsvorwürfen gegen Papst Johannes Paul II. in seiner Zeit als Erzbischof von Krakau zeigt, wie wenig die Erkenntnisse aus der Aufarbeitung von Missbrauch in Deutschland in der Weltkirche ankommen. Aufarbeitung, zumal externe durch Medien, wird als Majestätsbeleidigung und Angriff empfunden. Das Leugnen auch nur der Möglichkeit von Fehlverhalten beim Nationalhelden und -heiligen Karol Wojtyła wird zur Staatsräson.

Bei der Aufarbeitung des Missbrauchs in Deutschland ist eine beachtliche Expertise zu  Ursachen und begünstigenden Bedingungen sexualisierter Gewalt entstanden. 2018 rückte die MHG-Studie den Blick auf Klerikalismus. Diözesane Studien haben den Blick auf das Umfeld geweitet: Die Münsteraner Studie führte den Begriff der "bystander" in die Debatte ein, Mitwisser, Zeugen und Vertrauenspersonen, die hätten handeln können, es aber nicht taten. Bei der Aufarbeitung im Bistum Essen stand das Bild der "Pfarrfamilie" mit ihren Dynamiken im Zentrum: Aufarbeitung sorgt für eine Störung des Familienfriedens, allzu oft findet Solidarisierung nicht mit Opfern, sondern mit mutmaßlichen Tätern statt.

Genau diese Dynamiken zeigen sich beim Umgang mit möglichen Verfehlungen von Johannes Paul II. Die polnische Bischofskonferenz hat zwar eine Aufarbeitung der Akten in kirchlichen und staatlichen Archiven angekündigt, sieht aber vor allem Versuche, das Ansehen des Heiligen zu diskreditieren. Tausende Polen gingen in Krakau auf die Straße, um sich vor die gute Erinnerung des ehemaligen Krakauer Erzbischofs zu stellen. Der Familienfriede darf nicht gestört werden.

Der Umgang von Papst Franziskus mit Bischöfen, denen Vertuschung oder Übergriffe vorgeworfen werden, ist ohnehin nicht besonders glücklich. Im Fall von Johannes Paul II. wirkt der Vertrauensvorschuss tragikomisch, wenn der jetzige Papst seinen Vorgänger, der von Relativismus nichts wissen wollte, vor einigen Wochen damit verteidigte, dass damals alle vertuscht hätten und jede Epoche "mit der Hermeneutik der jeweiligen Zeit gedeutet" werden müsse. Am Sonntag klagte er – wohl im Kontext von Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Emanuela Orlandi vor 40 Jahren, aber ohne das zu erwähnen – bei seiner Ansprache zum Regina Coeli, Johannes Paul II. sei "ungerechtfertigten Anfeindungen ausgesetzt". Kein Wort zur nötigen Aufarbeitung.

Die Erfahrungen deutscher Missbrauchsstudien – aber auch des französischen CIASE-Berichts – scheinen keinen großen Widerhall zu finden: Quasi alle Bischöfe bis in die jüngere Vergangenheit, auch charismatische und hochgeschätzte, waren durch Tun oder Unterlassen in das Missbrauchssystem verstrickt. Überall kam es zu ähnlichen Dynamiken der Abwertung von Betroffenen und Aufklärern und der Solidarisierung mit Beschuldigten und Tätern. Wenn die Kirche glaubhaft dem Missbrauch begegnen will, dann darf sie diesen Dynamiken nicht noch Vorschub leisten. Schonungslose Aufarbeitung ist angesagt, nicht bedingungslose Verteidigung. Auch wenn es um heilige Päpste geht.

Von Felix Neumann

Der Autor

Felix Neumann ist Redakteur bei katholisch.de und Mitglied im Vorstand der Gesellschaft katholischer Publizisten (GKP).

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.