Kaddor: Zeitpunkt für Ablösung der Staatsleistungen wird nicht besser
"Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen": So banal dieser Satz aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung klingt, so viel Sprengstoff birgt er. Die Verhandlungen über die geplante Ablösung kommen seit Monaten nicht richtig voran, und es ist noch völlig unklar, wie eine Lösung aussehen kann. Im gemeinsamen Interview von katholisch.de und der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die religionspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Lamya Kaddor, über den aktuellen Stand der Beratungen und mögliche Perspektiven. Außerdem äußert sich sich zur Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche, der Zukunft des kirchlichen Arbeitsrechts und der Situation der Muslime in Deutschland.
Frage: Frau Kaddor, die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, ein Rahmengesetz zur Ablösung der Staatsleistungen auf den Weg zu bringen. Es geht dabei nicht um Kirchensteuern, sondern um jährliche Leistungen der Bundesländer von derzeit rund 600 Millionen Euro für Enteignungen der Kirchen Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Ministerpräsidenten haben das Vorhaben zunächst auf Eis gelegt. Wie geht es weiter?
Kaddor: Die Ablösung ist ein Verfassungsauftrag. Deshalb sind wir weiter im Gespräch mit den Ländern und im Dialog mit den Kirchen. Ich kann nachvollziehen, dass die Länderchefs Hemmungen haben, eine so hohe Summe abzulösen. Nach unseren Vorstellungen könnten sie mit den Kirchen fünf bis sieben Jahre Zeit für die Aushandlung der Modalitäten erhalten und die eigentliche Ablösung über 25 Jahre erstrecken. Die Raten wären entsprechend niedriger.
Frage: Eine Kernfrage betrifft den Faktor, mit dem die derzeitige Summe multipliziert wird, um der Kirche einen langfristigen Ersatz zu schaffen. Von welchem Faktor gehen Sie aus?
Kaddor: Wir wollen keinen Faktor festlegen, das sollen die Kirchen mit den Ländern aushandeln. So hätten die Länder sehr großen Verhandlungsspielraum, den es klug zu nutzen gilt. Die Ablösung sollte aber nach dem Äquivalenzprinzip erfolgen.
Frage: Wie zuversichtlich sind Sie, dass sie noch zu einer Lösung kommen?
Kaddor: Ich denke, für die Kirchen wird der Zeitpunkt nicht besser. Angesichts der fortschreitenden Säkularisierung und des angeschlagenen Images dürfte es langfristig nicht einfacher werden, die Leistungen öffentlich zu rechtfertigen. Es gilt auch zu betonen: Langfristig ist die Erfüllung des Verfassungsauftrags auch im Interesse der Länder.
„Ein grundlegender Fehler besteht für mich darin, dass eine Organisation, aus der die Täter stammen, die Aufklärung selbst übernimmt.“
Frage: Ein Grund für das schlechte Image ist der Missbrauchsskandal. Das jüngste Gutachten der Erzdiözese Freiburg hat in besonderer Weise verdeutlicht, wie schwer sich die Kirchen damit tun. Wie bewerten Sie die bisherigen Anstrengungen zur Aufarbeitung?
Kaddor: Aus persönlichen Gesprächen habe ich den Eindruck, dass es einen aufrichtigen Willen zur Aufklärung gibt. Ein grundlegender Fehler besteht für mich aber darin, dass eine Organisation, aus der die Täter stammen, die Aufklärung selbst übernimmt. Zudem ist die bisherige Aufklärungsarbeit weder lückenlos noch wirklich transparent. Außerdem werden die Studien nach unterschiedlichen Kriterien erstellt und sind damit nicht vergleichbar. Damit wird es schwierig, daraus konkrete Schritte abzuleiten. Das ist gerade aus Sicht der Betroffenen unzureichend.
Frage: Sollte die Politik die Aufgabe übernehmen?
Kaddor: Es stellt sich die Frage, wollen wir einen Untersuchungsausschuss oder eine Kommission im Bundestag oder stärken wir die Stelle der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus, wie dies auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus beabsichtigt. Ich bin für letzteres, zumal sich für eine Kommission wohl keine parlamentarische Mehrheit finden wird.
Frage: Wird die Frage des sexuellen Missbrauchs in der Gesellschaft hinreichend wahrgenommen?
Kaddor: Der meiste Missbrauch findet leider im familiären Umfeld statt. Er betrifft aber ebenso den Sport oder Bildungseinrichtungen. Und neben der katholischen Kirche sind auch andere Religionsgemeinschaften betroffen. Dort fehlt oft das Bewusstsein dafür und die Frage ist noch nicht hinreichend thematisiert.
Frage: Ein weiteres Reformthema ist die Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts. Die Kirche hat nun die Grundordnung im privaten Teil des Arbeitsrechts geändert. Ist das ausreichend?
Kaddor: Wir haben dies wohlwollend zur Kenntnis genommen. Für uns Grüne seht aber ebenso die Reform des kollektiven Arbeitsrechts auf dem Programm.
Frage: Erfordert dies eine Verfassungsänderung, zumal das kirchliche Selbstbestimmungsrecht betroffen wäre?
Kaddor: Das wird in der Fraktion unterschiedlich bewertet. Derzeit sind wir allerdings vor allem mit der Ablösung der Staatsleistungen befasst.
Frage: Laut Koalitionsvertrag wollen sie auch das Religionsverfassungsrecht im Sinne eines kooperativen Trennungsmodells weiterentwickeln. Wie weit sind sie hier bislang gekommen?
Kaddor: Mir geht es vor allem um eine bessere Beteilung der Muslime. Bislang sind die meisten muslimischen Gemeinschaften noch immer nicht rechtlich als Religionsgemeinschaft anerkannt. Muslimisches Leben muss in Deutschland endlich zur Normalität werden. Ich möchte die Frage nach der parlamentarischen Sommerpause angehen.
Frage: Die Anerkennung verlangt ein gemeinsames Bekenntnis. Wie steht es damit?
Kaddor: Mir geht es vor allem um eine Unabhängigkeit der Moscheegemeinden vom Ausland. Denn damit geht immer auch ein ideologischer Einfluss einher, wie wir etwa an der DITIB, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalten für Religion, sehen.
Frage: Welche Möglichkeiten gibt es?
Kaddor: Denkbar wäre ein Stiftungssystem, ähnlich wie in Baden-Württemberg. Im Stiftungsbeirat sitzen dann alle muslimischen Vertretungen – von den Liberalen bis zu den Orthodoxen. Sie stehen dann auch für eine bestimmte Lehre. Die Stiftung zieht wiederum die Gelder ein und verteilt sie. Der Staat könnte eine Art Anschubfinanzierung leisten, wie er auch muslimische Lehrstühle finanziert. Ich will dieses Modell juristisch prüfen lassen.
„Der Antisemitismus unter Muslimen ist ein dringendes Problem. Viele Studien belegen dies. Man muss aber auch genau hinschauen, wenn man dagegen vorgehen will.“
Frage: Sollte sich damit auch die Islamkonferenz befassen?
Kaddor: Ja. Sie ist aber bislang vor allem noch dabei, sich zu sortieren, da nicht nur die konservativen Dachverbände teilnehmen, sondern die ganze Vielfalt muslimischen Lebens also auch die Ahmadiyya-Gemeinschaft und die Liberalen.
Frage: Im Sommer soll der Expertenkreis Muslimfeindlichkeit seinen Abschlussbericht vorlegen. Was erwarten Sie und gibt es schon mögliche Konsequenzen?
Kaddor: Ich erwarte, dass dem Auftrag des Expertenkreises entsprechend auch Schnittmengen zwischen Islamfeindlichkeit und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit herausgearbeitet werden. Entscheidend ist, dass der Bericht nicht einfach im Theoretischen stehen bleibt, sondern konkrete politische Maßnahmen vorschlägt. Eine Konsequenz wird sicher sein, dass wir Islamfeindlichkeit noch stärker öffentlich und vor allem politisch adressieren müssen.
Frage: Wie sieht es wiederum mit dem Antisemitismus unter Muslimen aus?
Kaddor: Er ist ein dringendes Problem. Viele Studien belegen dies. Man muss aber auch genau hinschauen, wenn man dagegen vorgehen will. Bei Demonstrationen geht der Antisemitismus oft auch von linksextremen Gruppen aus, die völlig säkular sind. Er ist politisch orientiert und richtet sich gegen Israel. Antisemitismus unter Muslim*innen ist hingegen auch religiös geprägt und ist anschlussfähig an islamistische Narrative.