Stärker werdende Konflikte in der Kirche müsse man "produktiv austragen"

Politologin: Synodalität auf Dauer nicht so bestimmbar, wie Rom will

Veröffentlicht am 01.06.2023 um 00:01 Uhr – Von Benedikt Heider – Lesedauer: 

Bonn/Göttingen ‐ Synodalität ist in der Kirche gerade schwer angesagt – doch was meint der Begriff? Die Politologin Tine Stein, Mitglied im Forum "Macht und Gewaltenteilung" des Synodalen Wegs, spricht im katholisch.de-Interview über ihr Synodalitätsverständnis und mögliche Auswirkungen einer synodaleren Kirche.

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Von diesem Donnerstag an findet in Würzburg eine hochkarätig besetzte Tagung zur Synodalität statt. Aus verschiedenen Blickwinkeln werden sich internationale Expertinnen und Experten der Würzburger Synode, dem Synodalen Weg der Kirche in Deutschland und dem Synodenprozess der Weltkirche nähern. Unter ihnen ist auch die Göttinger Politikwissenschaftlerin Tine Stein, die beim Synodalen Weg Mitglied im Forum "Macht und Gewaltenteilung" war. Im Interview erläutert sie, was Synodalität für sie bedeutet, welches Veränderungsspotential sie darin sieht und welche Parallelen es zwischen Synodalität und dem Herbst 1989 gibt.

Frage: Frau Professorin Stein, seit Papst Franziskus im Amt ist, spricht die Kirche verstärkt von Synodalität. Sie sind Politikwissenschaftlerin. Was ist für Sie Synodalität?

Stein: Ich verstehe unter Synodalität die Art und Weise, wie katholische Christinnen und Christen miteinander ihren Glauben in Gemeinschaft leben und miteinander umgehen. Dieser Begriff beschreibt das gemeinsame Kirche-Sein und ist damit ein Gegenprinzip zu einer klerikalen, hierarchischen Kirche. Die synodale Kirche beinhaltet dann auch das gemeinsame Beraten und Entscheiden.

Frage: Wie unterscheidet sich Synodalität von Demokratie?

Stein: Demokratie meint mit Blick auf die weltlich-politische Ordnung die Herrschaft des Volkes. Im demokratischen Staat ist das Volk der Träger der Souveränität und übt diese (vermittelt über Institutionen und Wahlen) auch selbst aus. Die Kirche kann in diesem Sinne keine Herrschaft des Gottesvolkes sein, weil wir die Gründung der Kirche auf Gott in Jesus Christus zurückführen, der gewissermaßen unser Souverän ist. Aber wenn es darum geht, wie die christliche Botschaft für die Gegenwart aktualisiert und weitergegeben werden kann, dann erscheint eine andere Organisation mehr als angemessen, als es wie es bisher in der hierarchischen und auf die Bischöfe ausgerichteten Kirche gemacht wurde. Und da können demokratische Prinzipien, Entscheidungsverfahren, Kontrollverfahren, eben all das, was wir aus demokratischen Verfassungsstaaten kennen, helfen.

Frage: Welche Prinzipien haben Sie da für die Kirche im Blick?

Stein: Lassen Sie es uns zunächst umgekehrt erschließen: Wenn ich die Kirche als Politikwissenschaftlerin analysiere, sehe ich eine absolutistische Monarchie, in der dem Papstamt mit dem Jurisdiktionsprimat eine unumschränkte Herrschaftskompetenz zukommt. Die Politikwissenschaft lehrt, dass Systeme ohne Rechtsbindung, Kontrolle, Gewaltenteilung und demokratische Legitimationsverfahren dysfunktional sind. Die Inhaber von unkontrollierten Herrschaftspositionen neigen dazu, Macht zu missbrauchen – weil sie es können. In der katholischen Kirche kommt erschwerend hinzu, dass Macht nicht als etwas verstanden wird, was es auch zu kontrollieren gilt, denn es gibt ja angeblich keine Macht, sondern nur Dienst. Das führt schnell dazu, dass Amtsträger die eigenen Gefährdungen nicht mehr sehen. In einem demokratischen Verfassungsstaat rechnet man aber damit, dass Macht missbraucht werden kann und es deswegen Kontrolle und Gegenmacht bedarf. Das schlägt sich zum Beispiel daran nieder, dass der Gesetzgeber selbst an ein höherrangiges Recht gebunden ist oder dass die Exekutive nicht ohne Weiteres in Grundrechte hineinregieren darf, sondern dies nur auf Basis eines Gesetzes tun darf. Vor allem ist der demokratische Gesetzgeber durch Wahlen dazu gezwungen, sich immer wieder zu vergewissern, ob die Art und Weise, wie er für Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgen will, im Sinne derer ist, die er repräsentiert.

Tine Stein
Bild: ©Privat

Tine Stein ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Frage: Was heißt das in Bezug auf die Kirche?

Stein: Natürlich lässt sich das nicht eins zu eins übertragen, aber es zeigt erstens, dass es einen Dialog braucht, wie heute das Evangelium gemeinsam interpretieren und in die Welt getragen werden kann – und dies nicht etwa in der exklusiven Kompetenz eines von den Bischöfen und schließlich vom Papst bestimmten Lehramts liegt. Zweitens zeigt es, dass es sehr viele Verfahren der Beratung, Legitimation, Kontrolle und Teilung von Kompetenzen gibt, die durchaus auch in der Kirche Eingang finden können.

Frage: Das war jetzt Ihr Synodalitätsverständnis. Schaut man in römische Synodalitätsdokumente, liest sich das ein bisschen anders. Da ist Synodalität streng amtskirchlich auf Bischöfe und Papst ausgerichtet. In einem Beitrag schreiben Sie: "Die Bischöfe führen die Kirche unkontrolliert, nicht rechenschafts­pflichtig, allein entscheidend und in ihrem Ermessen frei, ob sie Rat einholen und wie sie diesen berücksichtigen." Lässt sich so orchestrierte "Synodalität" in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft vermitteln?

Stein: Sicher ist Synodalität ein heiß umkämpftes Programm. Ich glaube nicht, dass Synodalität sich auf Dauer so bestimmen lässt, wie Rom das will. Es kann nicht dabeibleiben, dass Bischöfe nur hören und dann entscheiden, ob sie auf das, was sie gehört haben, eingehen oder nicht. Dafür sind die Probleme viel zu drängend. Die Tatsache, dass Franziskus meinte, dem Anliegen der Amazonassynode nicht nachgeben zu können, nämlich verheirateten Männern, den sogenannten viri probati, den Weg zum Priesteramt zu öffnen, zeigt doch, dass es wirklich große Lücken gibt zwischen der römischen Status-quo-Orientierung und dem, was in Ortskirchen als Veränderungsnotwendigkeit gesehen wird.

Frage: Wie ist damit umzugehen?

Stein: Es wird in Zukunft stärkere Konflikte in der Kirche geben und die wird man aushalten und produktiv austragen müssen. Ich kann das als Politikwissenschaftlerin auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen beobachten. Es lässt sich nichts lösen, wenn von oben herab gesagt wird: "Jetzt ist Schluss mit der Debatte." Die Machtmittel, die Rom meint, in der Hand zu haben, um unbotmäßiges Verhalten wieder einzufangen, werden sich auch als immer begrenzter zeigen, je mehr in den Ortskirchen ein Selbstbewusstsein wächst, das sich aus einer anderen Praxis speist. Es wird eine Kirche von unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben – diejenigen, die dieses gemeinschaftliche Kirchenbild vor Augen haben, werden sich weiter organisieren und dafür Formen und Institutionen finden. Und es wird diejenigen geben, die am Status quo festhalten.

„Ich glaube nicht, dass Synodalität sich auf Dauer so bestimmen lässt, wie Rom das will. Es kann nicht dabei bleiben, dass Bischöfe nur hören und dann entscheiden, ob sie auf das, was sie gehört haben, eingehen oder nicht. Dafür sind die Probleme viel zu drängend.“

—  Zitat: Tine Stein

Frage: Die formale kirchliche Autorität ist aber in Rom. Welche Konsequenzen hat das, was Sie gerade skizziert haben, für das Verhältnis der Ortskirchen zum Vatikan?

Stein: Das ist eine Analyse, die sich auf das geltende Kirchenrecht stützt. Dieses Kirchenrecht ist aber ambivalent, was den Geltungsanspruch angeht: für vermeintlich unbotmäßiges Verhalten soll es die Daumenschrauben ansetzen und wird schon im Vorfeld für Diskussionen als Stoppschild aufgestellt. Aber ein Kleriker meint es nicht kennen und beachten zu müssen, wie man nicht erst aus dem Gutachten zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Erzbistum Freiburg gesehen hat. Die verhaltenssteuernde Kraft des Kirchenrechts entfaltet sich also nicht unabhängig von den Machtverhältnissen. Auch Papst Franziskus scheint seiner kirchenrechtlich gegebenen Kompetenz nicht soviel zuzutrauen, er kann nicht so durchregieren, wie es ihm das Kirchenrecht ermöglicht. Er sieht, auf welchen Gegenwind er in der Kurie und bei vielen Bischöfen stößt. Sonst könnte er ja einfach – wenn er denn wollte, was noch eine andere Frage ist – als Revolution von oben das Kirchenrecht umschreiben. Das macht er nicht, weil er befürchtet, dass er dann die unterschiedlichen Fliehkräfte in der Institution nicht mehr integrieren kann.

Frage: In welche Richtung würde denn die Revolution gehen, die Sie bei Franziskus ausmachen und die er nicht einfach durchziehen kann?

Stein: Franziskus ist ein Charismatiker. Er denkt nicht vom Recht und den Institutionen her. Die Erwartung, dass er mit seinem Charisma auch die Strukturen verändern würde, ist ja nun hinreichend enttäuscht worden. Trotzdem denke ich, dass sein charismatisches Wirken ganz zentral ist. Wenn er sagt, "Wir müssen an die Ränder gehen" und "Die Kirche soll wie ein Feldlazarett sein", dann ist das der Impuls, weswegen die katholische Kirche auch von Nicht-Christinnen und -Christen sehr geschätzt wird. Diese Kirchenvorstellung tritt in Konkurrenz zu einer triumphalen Kirche, die in Glanz und Gloria gesehen wird. In der triumphalen Kirche stützt das Kirchenrecht das System. Eine Vermittlung dieser beiden Kirchenbilder wird nicht nur mit gemeinschaftlichem Beten und Beraten möglich sein. Das wird eine harte politische Auseinandersetzung werden.

Frage: Caritas und die Zuwendung zu den Armen sind im kirchlichen Diskurs nicht gerade die strittigsten Punkte. Die eigentlichen Streitpunkte sind eher Macht, Amt, die Rolle des Bischofs, der Frau und so weiter. Und das Synodalitätsverständnis von Papst Franziskus, wie es sich in verschiedenen Dokumenten und Reden niederschlägt, hat da ja doch eine sehr, sehr eindeutige, eher kirchenrechtliche Richtung. Also nochmal die Frage: Welche Revolution sehen Sie bei Franziskus?

Stein: Ich glaube, dass er ein Gespür dafür hat, dass sich eine andere Vorstellung von Synodalität in den diversen Ortskirchen im Kirchenvolk äußert. Als Katholikin hoffe ich auch, dass er das rezipiert und mit der Tradition in einer neuen Weise vermittelt. Er wird es umso mehr zur Geltung bringen, je stärker diese Diversität öffentlich geäußert wird und auch als eine Form lokaler kirchlicher Praxis schon gelebt wird, etwa dann in Deutschland mit dem Synodalen Ausschuss, der den Synodalen Rat vorbereitet. Bei der Amazonassynode war es noch so, dass Franziskus sich sehr von den – meines Erachtens: klerikalistischen – Stimmen hat beeindrucken lassen, die verheiratete Priester als ein absolutes No-Go definiert haben. Je stärker aber die gelebte Praxis von Synodalität wird und je mehr sie in den Ortskirchen im Konflikt gegen diejenigen durchgesetzt werden wird, die am Status Quo festhalten wollen, desto mehr wird der Papst das dann auch aufnehmen können und müssen. Die jüngste Ankündigung, die Weltbischofssynode um achtzig Nicht-Bischöfe als Mitglieder zu erweitern, damit auch Frauen und Männer gleichberechtigt mitberaten und abstimmen, die keine Kleriker oder Ordensleute sind, zeugt davon. Das ist in Diskussionen bereits als ein revolutionärer Millimeter bezeichnet worden, was ein schönes Paradox ist.

Bild: ©Vatican Media/Romano Siciliani/KNA

"Ich glaube, dass er ein Gespür dafür hat, dass sich eine andere Vorstellung von Synodalität in den diversen Ortskirchen im Kirchenvolk äußert. Als Katholikin hoffe ich auch, dass er das rezipiert und mit der Tradition in einer neuen Weise vermittelt", sagt Tine Stein über Papst Franziskus.

Frage: Die Kirche sieht sich gesellschaftlich einem enormem Vertrauensverlust ausgesetzt. Wie gefährdet ist sie aus ihrer Sicht?

Stein: Die Autorität, die die Bischöfe noch meinen, wahrnehmen zu können, wird ihnen nicht mehr zugeschrieben, jedenfalls nicht mehr als Vertrauen der Institution gegenüber. Die neueste Umfrage, die Forsa erhoben hat, sieht die katholische Kirche hier im tiefsten Keller, nur noch acht Prozent der Bevölkerung vertraut ihr als Institution. Man muss sich fragen, wie lange das die Institution als Ganzes aushalten kann, bevor die Legitimationskrise existentiell wird.

Frage: Sehen Sie aktuell diese Entwicklung?

Stein: Im Sommer 1989 hätte man in Deutschland – in Ost wie West – auch nicht geglaubt, dass im November die Mauer geöffnet werden würde. Ein solcher Prozess ist sehr kontingent. Es kann eine Kette von Ereignissen geben, die dann eine eigene Dynamik entwickeln. Sollte sich beispielsweise in der katholischen Kirche eine kritische Masse von Bischöfen aus mehreren Ortskirchen rund um den Globus zusammenfinden, die sich verabreden, ihrem Gewissen und Einsichten folgend, berufene Frauen und Männer zu Priesterinnen und Priester zu weihen, dann braucht man keine prophetischen Gaben, um vorauszusagen, dass dies eine ziemliche Dynamik auslösen würde.

Frage: Der Synodale Weg in Deutschland hat durchaus auch seinen Skeptikern Recht gegeben, die von einer Täuschung, einem Nullum und Ablenkungsmanöver sprachen. Von den stolzen Forderungen des Frauenforums blieb beispielsweise letztlich noch eine devote Bitte übrig, noch einmal zu prüfen, ob man nicht nochmal über die Diakonenweihe nachdenken könne. Warum ist das so? Wenn ich Sie richtig verstehe, ist damit keine Revolution zu gewinnen.

Stein: Ja, das ist eine sehr berechtigte Frage. Mehr geht schließlich immer. Ich glaube, dass auf der Ebene der Texte vieles sehr gut theologisch durchdacht worden ist, insbesondere in den Grundtexten, die ja bis auf den Grundtext zur Sexualethik, der an der bischöflichen Sperrminorität scheiterte, von der Synodalversammlung erfolgreich verabschiedet worden sind.

Frage: Das gilt aber nicht für die großmundig angekündigten Forderungen.

Stein: Da haben Sie recht. Immer dann, wenn es auf die Ebene der Forderung nach Veränderung des Kirchenrechts und einer verbindlich geänderten Praxis in den Bistümern und Gemeinden ging, finden sich nicht durchgängig die konkreten Entsprechungen zu der scharfen Analyse. Hier wirkte die Satzung mit ihren Mehrheitserfordernissen schon im Vorfeld als Restriktion. Man wird nun abwarten müssen, ob und wie die bischöfliche Selbstbindungsstrategie in den Bistümern funktioniert. Bischöfe können sich ja durchaus verpflichten, die Entscheidungen mit den Gläubigen gemeinsam zu beraten und gemeinsam zu entscheiden. In der Gesamtschau würde ich daher nicht so weit gehen, dass es sich beim Synodalen Weg um eine Täuschung handelt, auch wenn eine gewisse Enttäuschung bei den aktiven Synodalen verständlich ist.

Frage: Sie schreiben bei "Feinschwarz", dass Sie Synodalität als Protestmöglichkeit sehen, Ihren performativen Selbstwiderspruch, was die Zugehörigkeit zur Kirche und Ihre Ablehnung amtlicher Kirchenbilder angeht, nicht durch Austritt abzuarbeiten, sondern durch das Engagement für eine grundlegende Transformation. Wo würde für Sie die Hoffnung auf Synodalität enden?

Stein: Ich spreche jetzt als Katholikin, nicht als Politikwissenschaftlerin: Wenn man mir seitens der Amtskirche absprechen würde, dass die Dinge, so wie ich sie sehe, Teil der katholischen Welt wären. Dann würde ich die Hoffnung auf eine wahrhaft katholische, also allumfassende Synodalität wohl erst einmal auf Eis legen müssen. Aber solange wir als Christinnen und Christen vom wechselseitigen Respekt vor der Freiheit des Gewissens getragen sind und offen für die Wahrnehmung, dass der Heilige Geist auch im Gegenüber wirksam ist, solange überwiegt die Hoffnung auf eine Transformation zu einer gemeinschaftlichen, zu einer synodalen Kirche.

Von Benedikt Heider

Tagung "Synode als Chance"

Vom 1. bis 3. Juni 2023 findet in Würzburg die Tagung "Synode als Chance" statt. Die Tagung wird Die Tagung  vorbereitet und durchgeführt von Prof. Dr. Julia Knop (Universität Erfurt), Prof. Dr. Matthias Remenyi (Universität Würzburg), Prof. Dr. Matthias Sellmann (Universität Bochum), Prof. Dr. Tine Stein (Universität Göttingen) sowie der Katholischen Akademie Domschule Würzburg.

Sie widmet sich den Synoden von Würzburg (1971–75) und Dresden (1973–75), dem Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland (2019–23) und der römischen Weltsynode (2021-2024).