Theologin: Kirche darf transidente Menschen nicht im Stich lassen
Seit 2022 ist Ursula Wollasch Ansprechperson für transidente Menschen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die promovierte Theologin und Sozialethikerin setzt sich schon länger damit auseinander, wie man Transmenschen in kirchlichen Einrichtungen mehr Beachtung schenken könnte. Über ihre Beweggründe und Ideen berichtet die Theologin im Interview mit katholisch.de.
Frage: Frau Wollasch, ist das Thema "Transgender" momentan mehr ein Trend unter jungen Menschen?
Wollasch: Ohne Zweifel ist das Thema heute in der Öffentlichkeit sehr präsent, dazu haben die öffentlichen Medien, aber auch die Sozialen Netzwerke entscheidend beigetragen. Insbesondere unter jungen Menschen ist die Hemmschwelle, sich zu outen, gesunken. Das führt zum Eindruck: "Trans ist Trend". Ich habe den Eindruck, es gibt sehr viele Unsicherheiten und Ängste rund um das Thema. Diese werden jetzt durch bestimmte Medien noch zusätzlich geschürt. Ich nehme gleichzeitig wahr, dass man in der Gesellschaft mit dem Thema "Transidentität" heute offener und wertschätzender umgeht. Ich halte diese Auseinandersetzung für positiv. Das erspart den Betroffenen möglicherweise einen langen Leidensweg.
Frage: Früher in meiner Kindheit war das Thema nicht so präsent. In der Schule wussten man oft nicht, wie mit damit umgehen sollte, wenn ein Mitschüler plötzlich Frauenkleider trug. Es provozierte auch Ablehnung.
Wollasch: Ja, früher sprach man von "Transvestiten" und dachte, dass hier ein Mann eben eine etwas skurrile Vorliebe für Röcke und Kleider hat. Später prägte man den Begriff der "Transsexuellen", um deutlich zu machen, dass der ganze Mensch mit allen körperlichen und emotionalen Dimensionen betroffen ist. Inzwischen reden wir von "Transidentität", die über das Thema Sexualität nochmals hinausgeht. Identität zielt auf die Person, nicht nur auf ihren Körper, sondern auf ihre unteilbare Ganzheitlichkeit. Die unterschiedlichen Begriffe ändern allerdings nichts daran, dass es nach wie vor Unsicherheiten, Ablehnung und Ausgrenzung gibt. Daher ist es mein Anliegen, in kirchlichen Einrichtungen und Kirchengemeinden ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Menschen gibt, die als Mädchen oder Junge aufwachsen und erwachsen werden, sich diesem Geschlecht aber nie wirklich zugehörig fühlen.
Frage: Sind es viele transidente Menschen, auf die Sie treffen, oder geht es bei dem Thema eher um eine Minderheit?
Wollasch: In der Vergangenheit lagen die Zahlen der Betroffenen tatsächlich im Promille-Bereich. Aber das Thema war auch stark tabuisiert. Niemand kann im Augenblick genau prognostizieren, wie die weitere Entwicklung aussehen wird. Aus meiner Sicht sorgt das unbestimmte Gefühl für manche, dass mein Kind, meine Partnerin oder mein Partner, ein Elternteil oder jemand aus meinem Freundeskreis, aus meinem unmittelbaren Umfeld betroffen sein könnte, für Ängste und Abwehr. Allein die Möglichkeit sorgt schon für eine Verunsicherung. Und wenn es dann tatsächlich zu einem Outing kommen sollte, ist für die Betroffenen und die Menschen im Umfeld nichts mehr wie es war.
Frage: Wann beginnen die Geschlechtszuschreibungen in der Entwicklung eines Menschen? Woran kann man das festmachen?
Wollasch: Nehmen wir einmal an, ein Junge im Kindergartenalter sagt zu seinen Eltern: "Ich möchte heute auch ein Kleid tragen und ein Mädchen sein." Solche Rollenspiele mit Verkleiden, Schminken und sich Ausprobieren gehören in diesem Alter einfach dazu. Der Wechsel der Geschlechterrollen wird spielerisch erprobt. Das ist eine bestimmte Zeit lang spannend und dann wird es wieder uninteressant. Es kann durchaus sein, dass bei manchen Kindern der Wunsch zu so einem Rollenwechsel aber länger bestehen bleibt. Jetzt kommt es auf die Reaktion des Umfelds an. Wenn die Eltern oder Erziehungsberechtigten negativ reagieren, also das Kind abwerten oder sogar auslachen, wird die innere Stimme dieses Kindes von Anfang an ignoriert oder unterdrückt. Das Kind kann sich nun entweder zurückziehen oder auch an seinem Wunsch festhalten. Spätestens in der Pubertät kann das Thema für Mädchen und Jungen wieder präsent sein. Durch die steigenden Zahlen entsteht der Eindruck, als sei es unter Jugendlichen geradezu modern, sich als trans zu outen. Diese Sichtweise wird aber den Jugendlichen nicht gerecht. Ein solcher Generalverdacht ist vor allem für die wirklich Betroffenen nicht gut. Denn laut einer Studie kehren zwei Drittel der Heranwachsenden, die sich in therapeutischer Behandlung befinden, nach der Pubertät wieder zu ihrem ursprünglichen Geschlecht zurück. Aber für die übrigen stehen schwerwiegende Entscheidungen an. Mit Hormontherapien stellt man Weichen für körperliche Entwicklungen, die später nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Gleichzeitig besteht bei den Kindern oft ein extremer Leidensdruck bis hin zu Depressionen und Suizidgefahr. Auch auf den Schultern der Eltern oder Erziehungsberechtigten lastet eine enorme Verantwortung. Auch sie brauchen Beratung und Begleitung durch Psychotherapie, Medizin und Seelsorge.
Frage: Haben Sie den Eindruck, dass die Kirche mit ihren bisherigen pastoralen Angeboten auf das Thema angemessen reagiert? Was müsste aus Ihrer Sicht passieren?
Wollasch: Wir brauchen eine Pastoral und vor allem Kirchengemeinden, die sich öffnen, Interesse zeigen und Zugehörigkeit vermitteln. Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt erleben trans Menschen in ihrem Alltag zu häufig. Kirche sollte ein Netz sein, das Halt gibt. Das kann dann gelingen, wenn sich die kirchlichen Bildungseinrichtungen, die Einrichtungen der Caritas und der Pastoral zusammenschließen. Ich bemerke immer wieder, dass es kirchliche Einrichtungen gibt, die sich auf Regenbogenfamilien spezialisiert haben, dass es Schulen gibt, in denen sich die Religionslehrerin mit ihren Schülern diesem Thema widmet. Die Kirche von heute darf trans Menschen nicht im Stich lassen, wie es in den neunziger Jahren mit Homosexuellen vielerorts geschehen ist. Es gab damals in den deutschen Diözesen jeweils nur eine oder zwei Personen in der AIDS-Beratung. Dass eine ganze Zielgruppe aus der kirchlichen Arbeit auf diese Weise ausgeblendet wird, darf sich nicht wieder wiederholen. Deshalb setze ich mich heute für trans Menschen in der Kirche ein.
„Viele transidente Menschen wünschen sich nur eines: In der katholischen Kirche angenommen zu sein. Wir können sie nicht vertrösten. Wir brauchen das jetzt.“
Frage: Sie wollen ein Buch über die Erfahrungen von transidenten Menschen in kirchlichen Einrichtungen schreiben?
Wollasch: Ja, ich möchte ein Buch über die Gespräche und Erfahrungen schreiben, die ich im Kontakt mit Menschen mit Transidentität in der Pastoral, in der Caritas, in Schulen und Kindergärten mache. Das Ziel ist es, Empfehlungen für kirchliche Einrichtungen aufzuschreiben, wie sie ihr kirchliches Profil in Hinblick auf transidente Menschen schärfen können. Es ist ein schwieriges Thema, denn laut Kirchenrecht, Katechismus und Soziallehre der Kirche sind die Gläubigen dazu verpflichtet, ihr natürliches biologisches Geschlecht als gegeben anzuerkennen und nicht zu verändern. Wir brauchen dringend neue Überlegungen, denn die bisherigen lehramtlichen Positionen sind für die Betroffenen und deren Angehörigen ziemlich frustrierend. Mich freut es, dass Papst Franziskus immer wieder zu verstehen gibt, dass in der Kirche auch für diese Menschen Platz ist. Damit setzt er sich übrigens von den US-amerikanischen Bischöfen ab, die in diesem Punkt eine sehr rigide politische Linie vertreten. Sie haben erst in diesem Jahr den katholischen Kliniken verboten, geschlechtsangleichende Behandlungen durchzuführen.
Frage: Was ist Ihr Wunsch?
Wollasch: Es gibt einen wunderbaren Satz von Papst Johannes Paul II. Er schrieb einmal: "Der Weg der Kirche ist der Mensch." Ich finde, die Kirche sollte nicht zu viel definieren, was der Mensch ist, um dann zu entscheiden, wem sie sich zuwendet und wem nicht. Viele transidente Menschen wünschen sich nur eines: In der katholischen Kirche angenommen zu sein. Mein Traum ist, dass sich Bildungseinrichtungen, Caritas und Pastoral zusammenschließen, und dass wir bei Bedarf ein kirchliches Netz von Dienstleistungen aufspannen können. Dazu zählen dann auch spirituelle Begleitung und Segensfeiern für Menschen mit Transidentität. Die transidenten Menschen, die ich getroffen habe, sind darauf angewiesen. Wir können sie nicht vertrösten, bis alle theologischen Fragen gelöst sind. Wir brauchen das jetzt.
Zur Person
Ursula Wollasch ist freiberufliche Theologin, Sozialethikerin und Autorin. Seit 2023 ist sie Ansprechperson für transidente Menschen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Bis 2020 war sie Geschäftsführerin des Landesverbands Katholischer Kindertagesstätten Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. Heute arbeitet Wollasch als freie Autorin in den Bereichen Organisationsethik, Inklusion sowie interkulturelle und interreligiöse Bildung in der Elementarpädagogik.